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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wilhelm Imsen

Und wieder ists des Sommers Geisterstunde,
Da stumm das Haus im heißen Mittag schweigt,
Geschloszne Luder full'n die Saalesrnnde
Mit goldnem Dämmern; nur, von Laub umzweigt,
Trägt fernher von des Nebenraumes Dunkel
Ein Fenster blitzend sonnengrünes Licht, . .

alles, um echte Gedichte zu sein, keine bloßen Momentzeichnnngen oder Farben¬
skizzen, sondern mit der erzeugten eignen Stimmung und dem nachhallenden
persönlichen Empfinden eng verknüpft, ferner (in eigenartiger Neuformung
des uralten und faustischeu Verschmachtens nach Begierde im Genuß) das
Angcnblicksbild, wie mitten heraus aus leuchtend herrlichem Sonnentag urplötzlich
das Verlangen auftaucht, am kalten Wintertage hinter den geschlossenen Scheiben
zu sitzen, an die das Schneegestöber prickelt, um sich -- nach des Sommers
Sonne zu sehnen. Und so eins nach dem andern, und zuletzt die schwermütig
schönen Gedichte, die das wechselreiche Ausklingen der schönen Jahreszeit und
dann das müde Scheiden der gealterten Natur begleiten.

Dazu, welcher einfache Wohllaut überall! Kann man einen Dichter nennen,
der Zeusens Bestes darin überträfe? Und einen, der ihm an Mannichfaltigkeit,
an beherrschender Sicherheit gleichkäme? Wir möchten sie alle, alle aufführen,
diese Lieder der Natur und des Empfindens in und mit ihr. Hier nur eines
davon; laufen diese Zeilen nicht, als sähe man in Sommertagsglut die heiße Luft
über den wiegenden, duftenden Feldern zittern? Es ist "Glocken" überschrieben:


Über die Felder zieht eS so weit,
HochzeitSgelünt oder Traucrgeleit:
summender Glocken singender Klang
Wiegt sichs im Winde den Wegzcmu entlang,
Wallt ans des Frühlings flimmernder Saat,
streift um den heimlichen Eichcnbuschpfad --
Sacht nun verschwebend, wie zitternd entflohn,
Neu sich belebend mit schwellendem Ton,
schwingend und klingend um graues Gestein,
schwirrend wie Bieuen am sonnigen Rain,
Schattendurchirrend, allüberall --
Tief nun im Wald ein verhallender Schall
Zwischen den Stämmen im grünen Geäst,
Leis wie im Laubdach ein zwitscherndes Nest --
Gleitend auf Wellen und lispelnd im Rohr,
Nieder vom Himmel, vom Boden empor
steigend und fallend wie Lerchen im März,
Spinnend im Ohr und dnrchrinnend das Herz!
Über die Felder unendlich weit
Hochzeitsgeläut oder Trauergeleit.

Und nirgends ist die reine Stimmung dnrch des Gedankens Blässe gestört
oder eingeengt. Beginnt doch das wundervolle Gedicht "An die Nacht"


Wilhelm Imsen

Und wieder ists des Sommers Geisterstunde,
Da stumm das Haus im heißen Mittag schweigt,
Geschloszne Luder full'n die Saalesrnnde
Mit goldnem Dämmern; nur, von Laub umzweigt,
Trägt fernher von des Nebenraumes Dunkel
Ein Fenster blitzend sonnengrünes Licht, . .

alles, um echte Gedichte zu sein, keine bloßen Momentzeichnnngen oder Farben¬
skizzen, sondern mit der erzeugten eignen Stimmung und dem nachhallenden
persönlichen Empfinden eng verknüpft, ferner (in eigenartiger Neuformung
des uralten und faustischeu Verschmachtens nach Begierde im Genuß) das
Angcnblicksbild, wie mitten heraus aus leuchtend herrlichem Sonnentag urplötzlich
das Verlangen auftaucht, am kalten Wintertage hinter den geschlossenen Scheiben
zu sitzen, an die das Schneegestöber prickelt, um sich — nach des Sommers
Sonne zu sehnen. Und so eins nach dem andern, und zuletzt die schwermütig
schönen Gedichte, die das wechselreiche Ausklingen der schönen Jahreszeit und
dann das müde Scheiden der gealterten Natur begleiten.

Dazu, welcher einfache Wohllaut überall! Kann man einen Dichter nennen,
der Zeusens Bestes darin überträfe? Und einen, der ihm an Mannichfaltigkeit,
an beherrschender Sicherheit gleichkäme? Wir möchten sie alle, alle aufführen,
diese Lieder der Natur und des Empfindens in und mit ihr. Hier nur eines
davon; laufen diese Zeilen nicht, als sähe man in Sommertagsglut die heiße Luft
über den wiegenden, duftenden Feldern zittern? Es ist „Glocken" überschrieben:


Über die Felder zieht eS so weit,
HochzeitSgelünt oder Traucrgeleit:
summender Glocken singender Klang
Wiegt sichs im Winde den Wegzcmu entlang,
Wallt ans des Frühlings flimmernder Saat,
streift um den heimlichen Eichcnbuschpfad —
Sacht nun verschwebend, wie zitternd entflohn,
Neu sich belebend mit schwellendem Ton,
schwingend und klingend um graues Gestein,
schwirrend wie Bieuen am sonnigen Rain,
Schattendurchirrend, allüberall —
Tief nun im Wald ein verhallender Schall
Zwischen den Stämmen im grünen Geäst,
Leis wie im Laubdach ein zwitscherndes Nest —
Gleitend auf Wellen und lispelnd im Rohr,
Nieder vom Himmel, vom Boden empor
steigend und fallend wie Lerchen im März,
Spinnend im Ohr und dnrchrinnend das Herz!
Über die Felder unendlich weit
Hochzeitsgeläut oder Trauergeleit.

Und nirgends ist die reine Stimmung dnrch des Gedankens Blässe gestört
oder eingeengt. Beginnt doch das wundervolle Gedicht „An die Nacht"


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[0418] Wilhelm Imsen Und wieder ists des Sommers Geisterstunde, Da stumm das Haus im heißen Mittag schweigt, Geschloszne Luder full'n die Saalesrnnde Mit goldnem Dämmern; nur, von Laub umzweigt, Trägt fernher von des Nebenraumes Dunkel Ein Fenster blitzend sonnengrünes Licht, . . alles, um echte Gedichte zu sein, keine bloßen Momentzeichnnngen oder Farben¬ skizzen, sondern mit der erzeugten eignen Stimmung und dem nachhallenden persönlichen Empfinden eng verknüpft, ferner (in eigenartiger Neuformung des uralten und faustischeu Verschmachtens nach Begierde im Genuß) das Angcnblicksbild, wie mitten heraus aus leuchtend herrlichem Sonnentag urplötzlich das Verlangen auftaucht, am kalten Wintertage hinter den geschlossenen Scheiben zu sitzen, an die das Schneegestöber prickelt, um sich — nach des Sommers Sonne zu sehnen. Und so eins nach dem andern, und zuletzt die schwermütig schönen Gedichte, die das wechselreiche Ausklingen der schönen Jahreszeit und dann das müde Scheiden der gealterten Natur begleiten. Dazu, welcher einfache Wohllaut überall! Kann man einen Dichter nennen, der Zeusens Bestes darin überträfe? Und einen, der ihm an Mannichfaltigkeit, an beherrschender Sicherheit gleichkäme? Wir möchten sie alle, alle aufführen, diese Lieder der Natur und des Empfindens in und mit ihr. Hier nur eines davon; laufen diese Zeilen nicht, als sähe man in Sommertagsglut die heiße Luft über den wiegenden, duftenden Feldern zittern? Es ist „Glocken" überschrieben: Über die Felder zieht eS so weit, HochzeitSgelünt oder Traucrgeleit: summender Glocken singender Klang Wiegt sichs im Winde den Wegzcmu entlang, Wallt ans des Frühlings flimmernder Saat, streift um den heimlichen Eichcnbuschpfad — Sacht nun verschwebend, wie zitternd entflohn, Neu sich belebend mit schwellendem Ton, schwingend und klingend um graues Gestein, schwirrend wie Bieuen am sonnigen Rain, Schattendurchirrend, allüberall — Tief nun im Wald ein verhallender Schall Zwischen den Stämmen im grünen Geäst, Leis wie im Laubdach ein zwitscherndes Nest — Gleitend auf Wellen und lispelnd im Rohr, Nieder vom Himmel, vom Boden empor steigend und fallend wie Lerchen im März, Spinnend im Ohr und dnrchrinnend das Herz! Über die Felder unendlich weit Hochzeitsgeläut oder Trauergeleit. Und nirgends ist die reine Stimmung dnrch des Gedankens Blässe gestört oder eingeengt. Beginnt doch das wundervolle Gedicht „An die Nacht"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/418>, abgerufen am 26.08.2024.