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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

nicht mehr wie ein unbeseeltes, verantwortungsloses Werkzeug durch den Be¬
fehl seines Herrn von jeder geistlichen und weltlichen Strafe entschuldigt."

Also von einer Verschlechterung des deutschen Charakters durch die rö¬
mische Kirche kann ebensowenig die Rede sein, wie der segensreiche Einfluß
des Christentums auf alle, auch die germanischen' Völker geleugnet werden darf.
Nur dieses ist an dem Vorwurfe wahr, daß bei der Sittenverderbnis, die
zuerst im Gefolge der Völkerwanderung und wüster Kämpfe, dann als Wir¬
kung wachsenden Reichtums und höherer Kultur eintritt, die Geistlichkeit eine
hervorragende, sehr unrühmliche Rolle spielt. Aber auch hierbei ist wiederum
zu bedenken, daß die Geistlichen doch Kinder ihres Volkes waren, wie denn
überhaupt die mittelalterliche Kirche stofflich nichts andres war als die Christen¬
heit, d. h. als die Gesamtheit der europäischen Völker. Gerade durch den
Cölibat wurde die Geistlichkeit verhindert, sich als abgeschlossne Kaste gegen
den geistigen und leiblichen Vlutumlauf im Volkskörper abzusperren. Jede
Geschlechtsfolge der Welt-- und Ordensgeistlichkeit kam frisch aus dem Schoße
des Volkes, und die Deukuugs- und Lebensart, die sie von ihrem Ursprünge
mitbrachte, wird sich im allgemeinen stärker erwiesen haben als das Gepräge,
das sie von ihrer Körperschaft empfing, sodaß das Volk für die Sünden seines
Klerus mindestens in demselben Grade verantwortlich war, wie dieser für die
Sitten und Unsitten der Laien.

Was die kirchlichen Zustände am Ausgange des Mittelalters vielen un¬
erträglich machte, war nur ein besondrer Fall des tragischen Konflikts zwischen
Ideal und Wirklichkeit, dem sich kein Genosse einer höhern Kultur zu entziehen
vermag. Die eine Seite des Widerspruches, um den es sich in diesem Falle
handelte, haben wir bereits bei andrer Gelegenheit beleuchtet; daß nämlich
die Kirche nicht von dieser Welt ist, aber um in der Welt wirken und sie
überwinden oder wenigstens einigermaßen veredeln zu können, sich in welt¬
lichen Formen verkörpern, weltliche Macht und irdischen Reichtum erwerben
und benutzen muß. Die Hierarchie ist es, an der diese Seite des Wider¬
spruches in die Erscheinung tritt. Aber nicht minder abstoßend wirkt er,
wenn wir den Blick auf die Volksmassen werfen. Ein geläuterter christlicher
Glaube und eine reine christliche Gesinnung finden sich immer nur bei wenigen
Auserwählten. Noch niemals und nirgends ist es gelungen, ein nach Mil¬
lionen zählendes Volk in den Zustand einer großen Gemeinde der Heiligen
zu erheben. Das ganz einzige um den Zuständen des fünfzehnten Jahrhunderts
war nun weniger die damalige ungeheure Größe des Widerspruches, als der
Übelstand, daß sich der Widerspruch jedem Einzelnen auf Schritt und Tritt
aufdrängte. Indem die Kirche darauf ausgegangen war, das ganze Leben zu
heiligen und mit religiösem Inhalt zu erfüllen, indem sie jeder Ortschaft in
einem stattlichen Gotteshause einen weithin sichtbaren, ans Jenseits mahnenden
Mittelpunkt gegeben, alle Plätze, Wege und Stege mit Kreuzen und Heiligen-


Geschichtsphilosophische Gedanken

nicht mehr wie ein unbeseeltes, verantwortungsloses Werkzeug durch den Be¬
fehl seines Herrn von jeder geistlichen und weltlichen Strafe entschuldigt."

Also von einer Verschlechterung des deutschen Charakters durch die rö¬
mische Kirche kann ebensowenig die Rede sein, wie der segensreiche Einfluß
des Christentums auf alle, auch die germanischen' Völker geleugnet werden darf.
Nur dieses ist an dem Vorwurfe wahr, daß bei der Sittenverderbnis, die
zuerst im Gefolge der Völkerwanderung und wüster Kämpfe, dann als Wir¬
kung wachsenden Reichtums und höherer Kultur eintritt, die Geistlichkeit eine
hervorragende, sehr unrühmliche Rolle spielt. Aber auch hierbei ist wiederum
zu bedenken, daß die Geistlichen doch Kinder ihres Volkes waren, wie denn
überhaupt die mittelalterliche Kirche stofflich nichts andres war als die Christen¬
heit, d. h. als die Gesamtheit der europäischen Völker. Gerade durch den
Cölibat wurde die Geistlichkeit verhindert, sich als abgeschlossne Kaste gegen
den geistigen und leiblichen Vlutumlauf im Volkskörper abzusperren. Jede
Geschlechtsfolge der Welt-- und Ordensgeistlichkeit kam frisch aus dem Schoße
des Volkes, und die Deukuugs- und Lebensart, die sie von ihrem Ursprünge
mitbrachte, wird sich im allgemeinen stärker erwiesen haben als das Gepräge,
das sie von ihrer Körperschaft empfing, sodaß das Volk für die Sünden seines
Klerus mindestens in demselben Grade verantwortlich war, wie dieser für die
Sitten und Unsitten der Laien.

Was die kirchlichen Zustände am Ausgange des Mittelalters vielen un¬
erträglich machte, war nur ein besondrer Fall des tragischen Konflikts zwischen
Ideal und Wirklichkeit, dem sich kein Genosse einer höhern Kultur zu entziehen
vermag. Die eine Seite des Widerspruches, um den es sich in diesem Falle
handelte, haben wir bereits bei andrer Gelegenheit beleuchtet; daß nämlich
die Kirche nicht von dieser Welt ist, aber um in der Welt wirken und sie
überwinden oder wenigstens einigermaßen veredeln zu können, sich in welt¬
lichen Formen verkörpern, weltliche Macht und irdischen Reichtum erwerben
und benutzen muß. Die Hierarchie ist es, an der diese Seite des Wider¬
spruches in die Erscheinung tritt. Aber nicht minder abstoßend wirkt er,
wenn wir den Blick auf die Volksmassen werfen. Ein geläuterter christlicher
Glaube und eine reine christliche Gesinnung finden sich immer nur bei wenigen
Auserwählten. Noch niemals und nirgends ist es gelungen, ein nach Mil¬
lionen zählendes Volk in den Zustand einer großen Gemeinde der Heiligen
zu erheben. Das ganz einzige um den Zuständen des fünfzehnten Jahrhunderts
war nun weniger die damalige ungeheure Größe des Widerspruches, als der
Übelstand, daß sich der Widerspruch jedem Einzelnen auf Schritt und Tritt
aufdrängte. Indem die Kirche darauf ausgegangen war, das ganze Leben zu
heiligen und mit religiösem Inhalt zu erfüllen, indem sie jeder Ortschaft in
einem stattlichen Gotteshause einen weithin sichtbaren, ans Jenseits mahnenden
Mittelpunkt gegeben, alle Plätze, Wege und Stege mit Kreuzen und Heiligen-


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[0410] Geschichtsphilosophische Gedanken nicht mehr wie ein unbeseeltes, verantwortungsloses Werkzeug durch den Be¬ fehl seines Herrn von jeder geistlichen und weltlichen Strafe entschuldigt." Also von einer Verschlechterung des deutschen Charakters durch die rö¬ mische Kirche kann ebensowenig die Rede sein, wie der segensreiche Einfluß des Christentums auf alle, auch die germanischen' Völker geleugnet werden darf. Nur dieses ist an dem Vorwurfe wahr, daß bei der Sittenverderbnis, die zuerst im Gefolge der Völkerwanderung und wüster Kämpfe, dann als Wir¬ kung wachsenden Reichtums und höherer Kultur eintritt, die Geistlichkeit eine hervorragende, sehr unrühmliche Rolle spielt. Aber auch hierbei ist wiederum zu bedenken, daß die Geistlichen doch Kinder ihres Volkes waren, wie denn überhaupt die mittelalterliche Kirche stofflich nichts andres war als die Christen¬ heit, d. h. als die Gesamtheit der europäischen Völker. Gerade durch den Cölibat wurde die Geistlichkeit verhindert, sich als abgeschlossne Kaste gegen den geistigen und leiblichen Vlutumlauf im Volkskörper abzusperren. Jede Geschlechtsfolge der Welt-- und Ordensgeistlichkeit kam frisch aus dem Schoße des Volkes, und die Deukuugs- und Lebensart, die sie von ihrem Ursprünge mitbrachte, wird sich im allgemeinen stärker erwiesen haben als das Gepräge, das sie von ihrer Körperschaft empfing, sodaß das Volk für die Sünden seines Klerus mindestens in demselben Grade verantwortlich war, wie dieser für die Sitten und Unsitten der Laien. Was die kirchlichen Zustände am Ausgange des Mittelalters vielen un¬ erträglich machte, war nur ein besondrer Fall des tragischen Konflikts zwischen Ideal und Wirklichkeit, dem sich kein Genosse einer höhern Kultur zu entziehen vermag. Die eine Seite des Widerspruches, um den es sich in diesem Falle handelte, haben wir bereits bei andrer Gelegenheit beleuchtet; daß nämlich die Kirche nicht von dieser Welt ist, aber um in der Welt wirken und sie überwinden oder wenigstens einigermaßen veredeln zu können, sich in welt¬ lichen Formen verkörpern, weltliche Macht und irdischen Reichtum erwerben und benutzen muß. Die Hierarchie ist es, an der diese Seite des Wider¬ spruches in die Erscheinung tritt. Aber nicht minder abstoßend wirkt er, wenn wir den Blick auf die Volksmassen werfen. Ein geläuterter christlicher Glaube und eine reine christliche Gesinnung finden sich immer nur bei wenigen Auserwählten. Noch niemals und nirgends ist es gelungen, ein nach Mil¬ lionen zählendes Volk in den Zustand einer großen Gemeinde der Heiligen zu erheben. Das ganz einzige um den Zuständen des fünfzehnten Jahrhunderts war nun weniger die damalige ungeheure Größe des Widerspruches, als der Übelstand, daß sich der Widerspruch jedem Einzelnen auf Schritt und Tritt aufdrängte. Indem die Kirche darauf ausgegangen war, das ganze Leben zu heiligen und mit religiösem Inhalt zu erfüllen, indem sie jeder Ortschaft in einem stattlichen Gotteshause einen weithin sichtbaren, ans Jenseits mahnenden Mittelpunkt gegeben, alle Plätze, Wege und Stege mit Kreuzen und Heiligen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/410>, abgerufen am 26.08.2024.