Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Sprachgrenze in Lothringen

zu erklären. Die Sicherung dieses Einflusses hat Deutschland selbst besorgt,
indem es durch Einführung des norddeutschen Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870
über Erwerbung und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit der Be¬
völkerung den Weg wies, wie man die Jugend dem Lande entfremden und
dein kinderarmer Frankreich erwünschten Zuzug zuwenden kann. Nicht auf
dem Aufenthalte von Franzosen im Reichslande, nicht auf deu Hetzereien
französischer Blätter, nicht auf der Schaustellung französischer Gesinnung und
französischen Wesens durch französische Aufschriften und geflissentlicher Gebrauch
der französischem Sprache in der Öffentlichkeit beruht der französische Einfluß
im Lande; das sind nur Notbehelfe und feindselige Kundgebungen, das sind
uur Erscheinungsformen einer tiefer liegendem Ursache, das ist die Wirkung,
aber nicht die Ursache selbst. Die Ursache liegt darin, daß infolge der fort¬
gesetzten Auswanderung die Hälfte der Gedanken, der Hoffnungen, der Herzens¬
wünsche und der Strebereien der Bevölkerung über der Grenze liegt; und zwar
sind es uicht eitle, thörichte Vorspiegelungen, es ist auch nicht nur die Folge alter
Gewöhnungen, die diesen Hammelsprung über die Grenze bewirkt; es sind wohl
erprobte Erfahrungen, regelmüßig bestätigte Hoffnungen, denen dieser Zauber
zuzuschreiben ist, der keineswegs eine Wahnvorstellung ist; Frankreich bietet
in jeder Hinsicht gute Gelegenheit zum Fortkommen für Ehrgeizige oder
Erwerbsüchtige aller Art.

Die Anstrengungen, die seit 1870 von Einheimischen gemacht werden,
den französischen Sprachunterricht auch im deutschen Sprachgebiete zu erhalten,
beruhen auf dem Wunsche, daß die Jugend auf öffentliche Kosten die Befähigung
zu irgend einer Laufbahn in Frankreich erhalten möge, wie die Väter und
Großväter. Es ist keineswegs nur eine unüberwindliche Abneigung gegen die
neuen Zustände, gegen den Dienst im deutscheu Heere, die die Eltern bestimmt,
ihre Kinder für Frankreich auszubilden; man weiß es eben nicht anders.
Wäre Deutschland heute schon in der Lage, die Wünsche der jungen Leute,
die ihr Fortkommen suchen, auf sich zu ziehen, dann würde die ganze Sprach¬
frage eine andre Färbung gewinnen, dann würde der Abfall von den alten
Überlieferungen rasch erfolgen. Aber das übervölkerte Deutschland, ,,wo nichts
zu holen ist," wie man immer hört, ist in dieser Beziehung dem der Einwan¬
derung bedürftigen Frankreich nicht gewachsen. Aus diesen Verhältnissen muß
man sich anch die auffällige Thatsache erklären, daß der junge Nachwuchs in
Elsaß-Lothringen weit mehr nach Frankreich strebt, als wie wir, von der Schule
und vom Heeresdienste rasche Erfolge erwartend, uns hatten träumen lassen. Wir
können nicht verkennen, daß in der Sprachenfrage die Kanalisirung der Mosel
und des Rheins, Zölle und Tarife, Kohle und Eisen eine weit bedeutendere
Rolle zu spielen berufen sind, als das Verbot französischer Inschriften, als
die Verdeutschung von Orts- und Straßennamen, ja sogar als Schule, Kirche
und Heer. Je mehr es gelingen wird, Handel und Verkehr in die Richtung


Die Sprachgrenze in Lothringen

zu erklären. Die Sicherung dieses Einflusses hat Deutschland selbst besorgt,
indem es durch Einführung des norddeutschen Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870
über Erwerbung und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit der Be¬
völkerung den Weg wies, wie man die Jugend dem Lande entfremden und
dein kinderarmer Frankreich erwünschten Zuzug zuwenden kann. Nicht auf
dem Aufenthalte von Franzosen im Reichslande, nicht auf deu Hetzereien
französischer Blätter, nicht auf der Schaustellung französischer Gesinnung und
französischen Wesens durch französische Aufschriften und geflissentlicher Gebrauch
der französischem Sprache in der Öffentlichkeit beruht der französische Einfluß
im Lande; das sind nur Notbehelfe und feindselige Kundgebungen, das sind
uur Erscheinungsformen einer tiefer liegendem Ursache, das ist die Wirkung,
aber nicht die Ursache selbst. Die Ursache liegt darin, daß infolge der fort¬
gesetzten Auswanderung die Hälfte der Gedanken, der Hoffnungen, der Herzens¬
wünsche und der Strebereien der Bevölkerung über der Grenze liegt; und zwar
sind es uicht eitle, thörichte Vorspiegelungen, es ist auch nicht nur die Folge alter
Gewöhnungen, die diesen Hammelsprung über die Grenze bewirkt; es sind wohl
erprobte Erfahrungen, regelmüßig bestätigte Hoffnungen, denen dieser Zauber
zuzuschreiben ist, der keineswegs eine Wahnvorstellung ist; Frankreich bietet
in jeder Hinsicht gute Gelegenheit zum Fortkommen für Ehrgeizige oder
Erwerbsüchtige aller Art.

Die Anstrengungen, die seit 1870 von Einheimischen gemacht werden,
den französischen Sprachunterricht auch im deutschen Sprachgebiete zu erhalten,
beruhen auf dem Wunsche, daß die Jugend auf öffentliche Kosten die Befähigung
zu irgend einer Laufbahn in Frankreich erhalten möge, wie die Väter und
Großväter. Es ist keineswegs nur eine unüberwindliche Abneigung gegen die
neuen Zustände, gegen den Dienst im deutscheu Heere, die die Eltern bestimmt,
ihre Kinder für Frankreich auszubilden; man weiß es eben nicht anders.
Wäre Deutschland heute schon in der Lage, die Wünsche der jungen Leute,
die ihr Fortkommen suchen, auf sich zu ziehen, dann würde die ganze Sprach¬
frage eine andre Färbung gewinnen, dann würde der Abfall von den alten
Überlieferungen rasch erfolgen. Aber das übervölkerte Deutschland, ,,wo nichts
zu holen ist," wie man immer hört, ist in dieser Beziehung dem der Einwan¬
derung bedürftigen Frankreich nicht gewachsen. Aus diesen Verhältnissen muß
man sich anch die auffällige Thatsache erklären, daß der junge Nachwuchs in
Elsaß-Lothringen weit mehr nach Frankreich strebt, als wie wir, von der Schule
und vom Heeresdienste rasche Erfolge erwartend, uns hatten träumen lassen. Wir
können nicht verkennen, daß in der Sprachenfrage die Kanalisirung der Mosel
und des Rheins, Zölle und Tarife, Kohle und Eisen eine weit bedeutendere
Rolle zu spielen berufen sind, als das Verbot französischer Inschriften, als
die Verdeutschung von Orts- und Straßennamen, ja sogar als Schule, Kirche
und Heer. Je mehr es gelingen wird, Handel und Verkehr in die Richtung


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0405" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290174"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Sprachgrenze in Lothringen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1151" prev="#ID_1150"> zu erklären. Die Sicherung dieses Einflusses hat Deutschland selbst besorgt,<lb/>
indem es durch Einführung des norddeutschen Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870<lb/>
über Erwerbung und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit der Be¬<lb/>
völkerung den Weg wies, wie man die Jugend dem Lande entfremden und<lb/>
dein kinderarmer Frankreich erwünschten Zuzug zuwenden kann. Nicht auf<lb/>
dem Aufenthalte von Franzosen im Reichslande, nicht auf deu Hetzereien<lb/>
französischer Blätter, nicht auf der Schaustellung französischer Gesinnung und<lb/>
französischen Wesens durch französische Aufschriften und geflissentlicher Gebrauch<lb/>
der französischem Sprache in der Öffentlichkeit beruht der französische Einfluß<lb/>
im Lande; das sind nur Notbehelfe und feindselige Kundgebungen, das sind<lb/>
uur Erscheinungsformen einer tiefer liegendem Ursache, das ist die Wirkung,<lb/>
aber nicht die Ursache selbst. Die Ursache liegt darin, daß infolge der fort¬<lb/>
gesetzten Auswanderung die Hälfte der Gedanken, der Hoffnungen, der Herzens¬<lb/>
wünsche und der Strebereien der Bevölkerung über der Grenze liegt; und zwar<lb/>
sind es uicht eitle, thörichte Vorspiegelungen, es ist auch nicht nur die Folge alter<lb/>
Gewöhnungen, die diesen Hammelsprung über die Grenze bewirkt; es sind wohl<lb/>
erprobte Erfahrungen, regelmüßig bestätigte Hoffnungen, denen dieser Zauber<lb/>
zuzuschreiben ist, der keineswegs eine Wahnvorstellung ist; Frankreich bietet<lb/>
in jeder Hinsicht gute Gelegenheit zum Fortkommen für Ehrgeizige oder<lb/>
Erwerbsüchtige aller Art.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1152" next="#ID_1153"> Die Anstrengungen, die seit 1870 von Einheimischen gemacht werden,<lb/>
den französischen Sprachunterricht auch im deutschen Sprachgebiete zu erhalten,<lb/>
beruhen auf dem Wunsche, daß die Jugend auf öffentliche Kosten die Befähigung<lb/>
zu irgend einer Laufbahn in Frankreich erhalten möge, wie die Väter und<lb/>
Großväter. Es ist keineswegs nur eine unüberwindliche Abneigung gegen die<lb/>
neuen Zustände, gegen den Dienst im deutscheu Heere, die die Eltern bestimmt,<lb/>
ihre Kinder für Frankreich auszubilden; man weiß es eben nicht anders.<lb/>
Wäre Deutschland heute schon in der Lage, die Wünsche der jungen Leute,<lb/>
die ihr Fortkommen suchen, auf sich zu ziehen, dann würde die ganze Sprach¬<lb/>
frage eine andre Färbung gewinnen, dann würde der Abfall von den alten<lb/>
Überlieferungen rasch erfolgen. Aber das übervölkerte Deutschland, ,,wo nichts<lb/>
zu holen ist," wie man immer hört, ist in dieser Beziehung dem der Einwan¬<lb/>
derung bedürftigen Frankreich nicht gewachsen. Aus diesen Verhältnissen muß<lb/>
man sich anch die auffällige Thatsache erklären, daß der junge Nachwuchs in<lb/>
Elsaß-Lothringen weit mehr nach Frankreich strebt, als wie wir, von der Schule<lb/>
und vom Heeresdienste rasche Erfolge erwartend, uns hatten träumen lassen. Wir<lb/>
können nicht verkennen, daß in der Sprachenfrage die Kanalisirung der Mosel<lb/>
und des Rheins, Zölle und Tarife, Kohle und Eisen eine weit bedeutendere<lb/>
Rolle zu spielen berufen sind, als das Verbot französischer Inschriften, als<lb/>
die Verdeutschung von Orts- und Straßennamen, ja sogar als Schule, Kirche<lb/>
und Heer.  Je mehr es gelingen wird, Handel und Verkehr in die Richtung</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0405] Die Sprachgrenze in Lothringen zu erklären. Die Sicherung dieses Einflusses hat Deutschland selbst besorgt, indem es durch Einführung des norddeutschen Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870 über Erwerbung und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit der Be¬ völkerung den Weg wies, wie man die Jugend dem Lande entfremden und dein kinderarmer Frankreich erwünschten Zuzug zuwenden kann. Nicht auf dem Aufenthalte von Franzosen im Reichslande, nicht auf deu Hetzereien französischer Blätter, nicht auf der Schaustellung französischer Gesinnung und französischen Wesens durch französische Aufschriften und geflissentlicher Gebrauch der französischem Sprache in der Öffentlichkeit beruht der französische Einfluß im Lande; das sind nur Notbehelfe und feindselige Kundgebungen, das sind uur Erscheinungsformen einer tiefer liegendem Ursache, das ist die Wirkung, aber nicht die Ursache selbst. Die Ursache liegt darin, daß infolge der fort¬ gesetzten Auswanderung die Hälfte der Gedanken, der Hoffnungen, der Herzens¬ wünsche und der Strebereien der Bevölkerung über der Grenze liegt; und zwar sind es uicht eitle, thörichte Vorspiegelungen, es ist auch nicht nur die Folge alter Gewöhnungen, die diesen Hammelsprung über die Grenze bewirkt; es sind wohl erprobte Erfahrungen, regelmüßig bestätigte Hoffnungen, denen dieser Zauber zuzuschreiben ist, der keineswegs eine Wahnvorstellung ist; Frankreich bietet in jeder Hinsicht gute Gelegenheit zum Fortkommen für Ehrgeizige oder Erwerbsüchtige aller Art. Die Anstrengungen, die seit 1870 von Einheimischen gemacht werden, den französischen Sprachunterricht auch im deutschen Sprachgebiete zu erhalten, beruhen auf dem Wunsche, daß die Jugend auf öffentliche Kosten die Befähigung zu irgend einer Laufbahn in Frankreich erhalten möge, wie die Väter und Großväter. Es ist keineswegs nur eine unüberwindliche Abneigung gegen die neuen Zustände, gegen den Dienst im deutscheu Heere, die die Eltern bestimmt, ihre Kinder für Frankreich auszubilden; man weiß es eben nicht anders. Wäre Deutschland heute schon in der Lage, die Wünsche der jungen Leute, die ihr Fortkommen suchen, auf sich zu ziehen, dann würde die ganze Sprach¬ frage eine andre Färbung gewinnen, dann würde der Abfall von den alten Überlieferungen rasch erfolgen. Aber das übervölkerte Deutschland, ,,wo nichts zu holen ist," wie man immer hört, ist in dieser Beziehung dem der Einwan¬ derung bedürftigen Frankreich nicht gewachsen. Aus diesen Verhältnissen muß man sich anch die auffällige Thatsache erklären, daß der junge Nachwuchs in Elsaß-Lothringen weit mehr nach Frankreich strebt, als wie wir, von der Schule und vom Heeresdienste rasche Erfolge erwartend, uns hatten träumen lassen. Wir können nicht verkennen, daß in der Sprachenfrage die Kanalisirung der Mosel und des Rheins, Zölle und Tarife, Kohle und Eisen eine weit bedeutendere Rolle zu spielen berufen sind, als das Verbot französischer Inschriften, als die Verdeutschung von Orts- und Straßennamen, ja sogar als Schule, Kirche und Heer. Je mehr es gelingen wird, Handel und Verkehr in die Richtung

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/405
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/405>, abgerufen am 26.08.2024.