Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Neuenburger Airschfest

sondern Schrift "Die Hussiten vor Naumburg" unter heftiger Polemik gegen
den "unglaubwürdigen" Taube die Begebenheit abweichend, nur mit viel ge¬
ringerm Fälschergeschick, darstellte unter Berufung auf die Chronik eines von
ihm l>.ä l)0(? erfundenen Mönches Lüdiger Tuto von Gosceneck. Auf dieses
Machwerk weiter einzugehn ist überflüssig, es vermochte nicht einmal seiner
Zeit Rauhs Autorität in der Stadt Naumburg zu erschüttern. Der Herr
Garnisonkinderlehrer aber war durch das unerwartete Glück seiner "Schwach¬
heit über die Stärke," die ihm nicht nur einen Namen gemacht, sondern auch
den Beutel gefüllt hatte, kühner und kühner geworden. Er verfertigte all¬
mählich weitere Bruchstücke aus dem Lllronivon Ucmrbm'Zieren des Frater
Taube, gab sie aber nicht in den Druck, sondern ließ sich Abschriften davon
mit schwerem Gelde bezahlen und fand unter der wohlhabenden Bürgerschaft
Naumburgs immer gläubige Abnehmer für seine Fabrikate. Schon 1785 war
das ganze Werk fertig, und der Handel mit Abschriften davon blühte nicht weniger
als der vorher mit einzelnen Teilen. In vielen Naumburger Familien werden
noch heute Exemplare dieser Lügenchrvnik aufbewahrt, und selbst in wissen¬
schaftliche Bibliotheken siud Handschriften von Rauhs Fälschungen eingedrungen.
Diese dickleibigen Bände voll Ausgeburten der zügellosesten Phantasie, illu-
strirt mit Abbildungen und Plänen angeblich uralter Denkmäler, gehören zu
dem unglaublichsten, was jemals in der Geschichtsfälschung geleistet worden
ist. Die Figuren eines Sanchnniathon und Manetho müssen sich vor dem
Bruder Taube förmlich verkriechen. Wenn Herrmann Hagen sein Schriftchen
"Über litterarische Fälschungen" auch auf die Geschichtslitteratnr der Neuzeit
ausgedehnt hätte, so würde er hinsichtlich der Dreistigkeit und des Umfangs
der Mischungen dem Neuenburger Garnisonlinderlehrer einen der vordersten
Plätze haben anweisen müssen.

In der Naumbnrgischeu Geschichtschreibung hat der gewissenlose Fabnlist
mit seinen Lügengeweben eine klägliche Verwirrung angerichtet. Nicht allein,
daß die Bürgerschaft unter seinem Banne stand und ihm alle Märchen glaubte,
auch verschiedene litterarische Zeitschriften druckten um Ende des vorigen Jahr¬
hunderts unbesehen und ohne Kritik größere oder kleinere Stücke ans der ver¬
meintlichen Mönchschronik ab und verschafften dadurch den Nnnhschen Hirn¬
gespinsten weitere Verbreitung. Namentlich die "Beiträge zur sächsischen
Geschichte, besonders des sächsischen Adels," die vor etwa hundert Jahren in
Altenburg erschienen, waren ein beliebter Ablagerungsplatz dafür.

Der Rückschlag gegen den Schwindel konnte nicht ausbleiben. Von der
Stelle, wo all die Ungeheuerlichkeiten ihren Ausgang nahmen, ging auch das
Gericht über den Fälscher und seine Erfindungen aus. Der damalige Naum¬
burger Stadtrichter und spätere Landrat K. P. Lepsius, der Vater des be¬
kannten Äghptolvgen, veröffentlichte 1811 als Frucht sorgfältiger und gewissen¬
hafter Quellenstudien eine Abhandlung über "Die Sage von den Hussiten von


Gvenzbvten III 1891 48
Das Neuenburger Airschfest

sondern Schrift „Die Hussiten vor Naumburg" unter heftiger Polemik gegen
den „unglaubwürdigen" Taube die Begebenheit abweichend, nur mit viel ge¬
ringerm Fälschergeschick, darstellte unter Berufung auf die Chronik eines von
ihm l>.ä l)0(? erfundenen Mönches Lüdiger Tuto von Gosceneck. Auf dieses
Machwerk weiter einzugehn ist überflüssig, es vermochte nicht einmal seiner
Zeit Rauhs Autorität in der Stadt Naumburg zu erschüttern. Der Herr
Garnisonkinderlehrer aber war durch das unerwartete Glück seiner „Schwach¬
heit über die Stärke," die ihm nicht nur einen Namen gemacht, sondern auch
den Beutel gefüllt hatte, kühner und kühner geworden. Er verfertigte all¬
mählich weitere Bruchstücke aus dem Lllronivon Ucmrbm'Zieren des Frater
Taube, gab sie aber nicht in den Druck, sondern ließ sich Abschriften davon
mit schwerem Gelde bezahlen und fand unter der wohlhabenden Bürgerschaft
Naumburgs immer gläubige Abnehmer für seine Fabrikate. Schon 1785 war
das ganze Werk fertig, und der Handel mit Abschriften davon blühte nicht weniger
als der vorher mit einzelnen Teilen. In vielen Naumburger Familien werden
noch heute Exemplare dieser Lügenchrvnik aufbewahrt, und selbst in wissen¬
schaftliche Bibliotheken siud Handschriften von Rauhs Fälschungen eingedrungen.
Diese dickleibigen Bände voll Ausgeburten der zügellosesten Phantasie, illu-
strirt mit Abbildungen und Plänen angeblich uralter Denkmäler, gehören zu
dem unglaublichsten, was jemals in der Geschichtsfälschung geleistet worden
ist. Die Figuren eines Sanchnniathon und Manetho müssen sich vor dem
Bruder Taube förmlich verkriechen. Wenn Herrmann Hagen sein Schriftchen
„Über litterarische Fälschungen" auch auf die Geschichtslitteratnr der Neuzeit
ausgedehnt hätte, so würde er hinsichtlich der Dreistigkeit und des Umfangs
der Mischungen dem Neuenburger Garnisonlinderlehrer einen der vordersten
Plätze haben anweisen müssen.

In der Naumbnrgischeu Geschichtschreibung hat der gewissenlose Fabnlist
mit seinen Lügengeweben eine klägliche Verwirrung angerichtet. Nicht allein,
daß die Bürgerschaft unter seinem Banne stand und ihm alle Märchen glaubte,
auch verschiedene litterarische Zeitschriften druckten um Ende des vorigen Jahr¬
hunderts unbesehen und ohne Kritik größere oder kleinere Stücke ans der ver¬
meintlichen Mönchschronik ab und verschafften dadurch den Nnnhschen Hirn¬
gespinsten weitere Verbreitung. Namentlich die „Beiträge zur sächsischen
Geschichte, besonders des sächsischen Adels," die vor etwa hundert Jahren in
Altenburg erschienen, waren ein beliebter Ablagerungsplatz dafür.

Der Rückschlag gegen den Schwindel konnte nicht ausbleiben. Von der
Stelle, wo all die Ungeheuerlichkeiten ihren Ausgang nahmen, ging auch das
Gericht über den Fälscher und seine Erfindungen aus. Der damalige Naum¬
burger Stadtrichter und spätere Landrat K. P. Lepsius, der Vater des be¬
kannten Äghptolvgen, veröffentlichte 1811 als Frucht sorgfältiger und gewissen¬
hafter Quellenstudien eine Abhandlung über „Die Sage von den Hussiten von


Gvenzbvten III 1891 48
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0385" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290154"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Neuenburger Airschfest</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1092" prev="#ID_1091"> sondern Schrift &#x201E;Die Hussiten vor Naumburg" unter heftiger Polemik gegen<lb/>
den &#x201E;unglaubwürdigen" Taube die Begebenheit abweichend, nur mit viel ge¬<lb/>
ringerm Fälschergeschick, darstellte unter Berufung auf die Chronik eines von<lb/>
ihm l&gt;.ä l)0(? erfundenen Mönches Lüdiger Tuto von Gosceneck. Auf dieses<lb/>
Machwerk weiter einzugehn ist überflüssig, es vermochte nicht einmal seiner<lb/>
Zeit Rauhs Autorität in der Stadt Naumburg zu erschüttern. Der Herr<lb/>
Garnisonkinderlehrer aber war durch das unerwartete Glück seiner &#x201E;Schwach¬<lb/>
heit über die Stärke," die ihm nicht nur einen Namen gemacht, sondern auch<lb/>
den Beutel gefüllt hatte, kühner und kühner geworden. Er verfertigte all¬<lb/>
mählich weitere Bruchstücke aus dem Lllronivon Ucmrbm'Zieren des Frater<lb/>
Taube, gab sie aber nicht in den Druck, sondern ließ sich Abschriften davon<lb/>
mit schwerem Gelde bezahlen und fand unter der wohlhabenden Bürgerschaft<lb/>
Naumburgs immer gläubige Abnehmer für seine Fabrikate. Schon 1785 war<lb/>
das ganze Werk fertig, und der Handel mit Abschriften davon blühte nicht weniger<lb/>
als der vorher mit einzelnen Teilen. In vielen Naumburger Familien werden<lb/>
noch heute Exemplare dieser Lügenchrvnik aufbewahrt, und selbst in wissen¬<lb/>
schaftliche Bibliotheken siud Handschriften von Rauhs Fälschungen eingedrungen.<lb/>
Diese dickleibigen Bände voll Ausgeburten der zügellosesten Phantasie, illu-<lb/>
strirt mit Abbildungen und Plänen angeblich uralter Denkmäler, gehören zu<lb/>
dem unglaublichsten, was jemals in der Geschichtsfälschung geleistet worden<lb/>
ist. Die Figuren eines Sanchnniathon und Manetho müssen sich vor dem<lb/>
Bruder Taube förmlich verkriechen. Wenn Herrmann Hagen sein Schriftchen<lb/>
&#x201E;Über litterarische Fälschungen" auch auf die Geschichtslitteratnr der Neuzeit<lb/>
ausgedehnt hätte, so würde er hinsichtlich der Dreistigkeit und des Umfangs<lb/>
der Mischungen dem Neuenburger Garnisonlinderlehrer einen der vordersten<lb/>
Plätze haben anweisen müssen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1093"> In der Naumbnrgischeu Geschichtschreibung hat der gewissenlose Fabnlist<lb/>
mit seinen Lügengeweben eine klägliche Verwirrung angerichtet. Nicht allein,<lb/>
daß die Bürgerschaft unter seinem Banne stand und ihm alle Märchen glaubte,<lb/>
auch verschiedene litterarische Zeitschriften druckten um Ende des vorigen Jahr¬<lb/>
hunderts unbesehen und ohne Kritik größere oder kleinere Stücke ans der ver¬<lb/>
meintlichen Mönchschronik ab und verschafften dadurch den Nnnhschen Hirn¬<lb/>
gespinsten weitere Verbreitung. Namentlich die &#x201E;Beiträge zur sächsischen<lb/>
Geschichte, besonders des sächsischen Adels," die vor etwa hundert Jahren in<lb/>
Altenburg erschienen, waren ein beliebter Ablagerungsplatz dafür.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1094" next="#ID_1095"> Der Rückschlag gegen den Schwindel konnte nicht ausbleiben. Von der<lb/>
Stelle, wo all die Ungeheuerlichkeiten ihren Ausgang nahmen, ging auch das<lb/>
Gericht über den Fälscher und seine Erfindungen aus. Der damalige Naum¬<lb/>
burger Stadtrichter und spätere Landrat K. P. Lepsius, der Vater des be¬<lb/>
kannten Äghptolvgen, veröffentlichte 1811 als Frucht sorgfältiger und gewissen¬<lb/>
hafter Quellenstudien eine Abhandlung über &#x201E;Die Sage von den Hussiten von</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Gvenzbvten III 1891 48</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0385] Das Neuenburger Airschfest sondern Schrift „Die Hussiten vor Naumburg" unter heftiger Polemik gegen den „unglaubwürdigen" Taube die Begebenheit abweichend, nur mit viel ge¬ ringerm Fälschergeschick, darstellte unter Berufung auf die Chronik eines von ihm l>.ä l)0(? erfundenen Mönches Lüdiger Tuto von Gosceneck. Auf dieses Machwerk weiter einzugehn ist überflüssig, es vermochte nicht einmal seiner Zeit Rauhs Autorität in der Stadt Naumburg zu erschüttern. Der Herr Garnisonkinderlehrer aber war durch das unerwartete Glück seiner „Schwach¬ heit über die Stärke," die ihm nicht nur einen Namen gemacht, sondern auch den Beutel gefüllt hatte, kühner und kühner geworden. Er verfertigte all¬ mählich weitere Bruchstücke aus dem Lllronivon Ucmrbm'Zieren des Frater Taube, gab sie aber nicht in den Druck, sondern ließ sich Abschriften davon mit schwerem Gelde bezahlen und fand unter der wohlhabenden Bürgerschaft Naumburgs immer gläubige Abnehmer für seine Fabrikate. Schon 1785 war das ganze Werk fertig, und der Handel mit Abschriften davon blühte nicht weniger als der vorher mit einzelnen Teilen. In vielen Naumburger Familien werden noch heute Exemplare dieser Lügenchrvnik aufbewahrt, und selbst in wissen¬ schaftliche Bibliotheken siud Handschriften von Rauhs Fälschungen eingedrungen. Diese dickleibigen Bände voll Ausgeburten der zügellosesten Phantasie, illu- strirt mit Abbildungen und Plänen angeblich uralter Denkmäler, gehören zu dem unglaublichsten, was jemals in der Geschichtsfälschung geleistet worden ist. Die Figuren eines Sanchnniathon und Manetho müssen sich vor dem Bruder Taube förmlich verkriechen. Wenn Herrmann Hagen sein Schriftchen „Über litterarische Fälschungen" auch auf die Geschichtslitteratnr der Neuzeit ausgedehnt hätte, so würde er hinsichtlich der Dreistigkeit und des Umfangs der Mischungen dem Neuenburger Garnisonlinderlehrer einen der vordersten Plätze haben anweisen müssen. In der Naumbnrgischeu Geschichtschreibung hat der gewissenlose Fabnlist mit seinen Lügengeweben eine klägliche Verwirrung angerichtet. Nicht allein, daß die Bürgerschaft unter seinem Banne stand und ihm alle Märchen glaubte, auch verschiedene litterarische Zeitschriften druckten um Ende des vorigen Jahr¬ hunderts unbesehen und ohne Kritik größere oder kleinere Stücke ans der ver¬ meintlichen Mönchschronik ab und verschafften dadurch den Nnnhschen Hirn¬ gespinsten weitere Verbreitung. Namentlich die „Beiträge zur sächsischen Geschichte, besonders des sächsischen Adels," die vor etwa hundert Jahren in Altenburg erschienen, waren ein beliebter Ablagerungsplatz dafür. Der Rückschlag gegen den Schwindel konnte nicht ausbleiben. Von der Stelle, wo all die Ungeheuerlichkeiten ihren Ausgang nahmen, ging auch das Gericht über den Fälscher und seine Erfindungen aus. Der damalige Naum¬ burger Stadtrichter und spätere Landrat K. P. Lepsius, der Vater des be¬ kannten Äghptolvgen, veröffentlichte 1811 als Frucht sorgfältiger und gewissen¬ hafter Quellenstudien eine Abhandlung über „Die Sage von den Hussiten von Gvenzbvten III 1891 48

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/385
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/385>, abgerufen am 26.08.2024.