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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Da>5 Naumburger Rirschfest

erstürmten am 15. Oktober 1450 die böhmischen Hilfstruppen (Zebraken), die
der Herzog schon 1447 durch Apel Vitzthum bei Georg Podiebrad hatte werben
lassen, die Stadt Gera und richteten darin ein mörderisches Blutbad an, von
dessen Greueln die Chroniken der Stadt nicht genug zu sagen wissen.

Das Andenken an die Errettung vor dem Schicksal Geras durch Kinder¬
bitten ist in Naumburg niemals erloschen. Mag man nun anfänglich ein
eignes Erinnerungsfest dafür gestiftet haben oder nicht, im Geiste der Bürger¬
schaft hat sich jedenfalls das Kirschfest allmählich mit dem Gedächtnis jener
glücklich abgewandten Eroberungsgefahr verquickt und verschmolzen. Der erste
litterarische Niederschlag dieser Vermengung zeigt sich in der kurzen und ganz
allgemein gehaltenen Nachricht Töpfers in seinem Programm von 1671.
Handschriftliche Naumburger Nachrichten von Franke und Zader aus den beiden
folgenden Jahrzehnten sprechen schon etwas ausführlicher von dieser Über¬
lieferung und berichten, es seien "Hussiten" gewesen, deren Ansturm durch die
Kinderbitten abgewandt worden sei. Sie haben mit dieser Beziehung auf
"Hussiten" in bestimmtem Sinne Recht. Während man seit dem Aufblühen
der Geschichtswissenschaft im vorigen Jahrhundert die bekannte religiöse Partei
Böhmens nur noch in ihrer kirchlichen und kriegerischen Thätigkeit bis zur
letzten Niederlage der Taboriten als "Hussiten" bezeichnet, galt dieser Name
in Deutschland über 1435 hinaus noch lange Zeit für ganz gleichbedeutend
mit "Tschechen" (Böhmen), und insbesondre die böhmischen Hilfstruppen des
Herzogs Wilhelm im Bruderkriege werden von den Chroniken noch im sech¬
zehnten Jahrhundert unter dem Namen "Hussiten" angeführt. Gerade diese
Zebraken waren es, die 1450 vor Naumburg lagen und dann in Gera kanni¬
balisch hausten. Wenn also die Überlieferung in Naumburg von "Hussiten"
meldete, so hatte sie eben deu Sprachgebrauch der Vorzeit festgehalten und
meinte damit nichts andres als Wilhelms böhmische Hilfstruppen.

Durch Töpfer, Franke und Zader angeregt, wandte sich nun das Interesse
der Naumburger jener kirschfestlichen Hussitenüberlieferung zu. Weil man aber
die alte Bedeutung des Namens "Hussiten" nicht mehr kannte, verlegte man die
Errettung der Stadt irrtümlich weiter zurück in die wirklichen Hussitenkriege.
Die "üuriosg, L^xoniog. von Marcus (1743) thun dies, indem sie den Vorgang
ins Jahr 1429 oder 1430 setzen. Richtig ist daran nur, daß die Hussiten
bloß zweimal Einfülle ins Meißnische und Osterländische unternommen haben,
nämlich im Herbst 1429 und dann sogleich noch einmal um die Jahreswende
von 1429 und 1430. Beidemale aber sind sie nicht bis in die Naumburger
Gegend gekommen, und wäre es geschehen, so würde es in der Herbst- und
Winterszeit des Feldzuges beim besten Willen nicht möglich gewesen sein,
Zweige und Kirschen herbeizuschaffen. Das gesteigerte Verlangen der Naum¬
burger, über die wirksame Fürsprache der Stadtkinder bei einem harten Be¬
lagerer und über die Entstehung des Kirschfestes etwas genaueres zu erfahre",


Da>5 Naumburger Rirschfest

erstürmten am 15. Oktober 1450 die böhmischen Hilfstruppen (Zebraken), die
der Herzog schon 1447 durch Apel Vitzthum bei Georg Podiebrad hatte werben
lassen, die Stadt Gera und richteten darin ein mörderisches Blutbad an, von
dessen Greueln die Chroniken der Stadt nicht genug zu sagen wissen.

Das Andenken an die Errettung vor dem Schicksal Geras durch Kinder¬
bitten ist in Naumburg niemals erloschen. Mag man nun anfänglich ein
eignes Erinnerungsfest dafür gestiftet haben oder nicht, im Geiste der Bürger¬
schaft hat sich jedenfalls das Kirschfest allmählich mit dem Gedächtnis jener
glücklich abgewandten Eroberungsgefahr verquickt und verschmolzen. Der erste
litterarische Niederschlag dieser Vermengung zeigt sich in der kurzen und ganz
allgemein gehaltenen Nachricht Töpfers in seinem Programm von 1671.
Handschriftliche Naumburger Nachrichten von Franke und Zader aus den beiden
folgenden Jahrzehnten sprechen schon etwas ausführlicher von dieser Über¬
lieferung und berichten, es seien „Hussiten" gewesen, deren Ansturm durch die
Kinderbitten abgewandt worden sei. Sie haben mit dieser Beziehung auf
„Hussiten" in bestimmtem Sinne Recht. Während man seit dem Aufblühen
der Geschichtswissenschaft im vorigen Jahrhundert die bekannte religiöse Partei
Böhmens nur noch in ihrer kirchlichen und kriegerischen Thätigkeit bis zur
letzten Niederlage der Taboriten als „Hussiten" bezeichnet, galt dieser Name
in Deutschland über 1435 hinaus noch lange Zeit für ganz gleichbedeutend
mit „Tschechen" (Böhmen), und insbesondre die böhmischen Hilfstruppen des
Herzogs Wilhelm im Bruderkriege werden von den Chroniken noch im sech¬
zehnten Jahrhundert unter dem Namen „Hussiten" angeführt. Gerade diese
Zebraken waren es, die 1450 vor Naumburg lagen und dann in Gera kanni¬
balisch hausten. Wenn also die Überlieferung in Naumburg von „Hussiten"
meldete, so hatte sie eben deu Sprachgebrauch der Vorzeit festgehalten und
meinte damit nichts andres als Wilhelms böhmische Hilfstruppen.

Durch Töpfer, Franke und Zader angeregt, wandte sich nun das Interesse
der Naumburger jener kirschfestlichen Hussitenüberlieferung zu. Weil man aber
die alte Bedeutung des Namens „Hussiten" nicht mehr kannte, verlegte man die
Errettung der Stadt irrtümlich weiter zurück in die wirklichen Hussitenkriege.
Die «üuriosg, L^xoniog. von Marcus (1743) thun dies, indem sie den Vorgang
ins Jahr 1429 oder 1430 setzen. Richtig ist daran nur, daß die Hussiten
bloß zweimal Einfülle ins Meißnische und Osterländische unternommen haben,
nämlich im Herbst 1429 und dann sogleich noch einmal um die Jahreswende
von 1429 und 1430. Beidemale aber sind sie nicht bis in die Naumburger
Gegend gekommen, und wäre es geschehen, so würde es in der Herbst- und
Winterszeit des Feldzuges beim besten Willen nicht möglich gewesen sein,
Zweige und Kirschen herbeizuschaffen. Das gesteigerte Verlangen der Naum¬
burger, über die wirksame Fürsprache der Stadtkinder bei einem harten Be¬
lagerer und über die Entstehung des Kirschfestes etwas genaueres zu erfahre«,


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[0380] Da>5 Naumburger Rirschfest erstürmten am 15. Oktober 1450 die böhmischen Hilfstruppen (Zebraken), die der Herzog schon 1447 durch Apel Vitzthum bei Georg Podiebrad hatte werben lassen, die Stadt Gera und richteten darin ein mörderisches Blutbad an, von dessen Greueln die Chroniken der Stadt nicht genug zu sagen wissen. Das Andenken an die Errettung vor dem Schicksal Geras durch Kinder¬ bitten ist in Naumburg niemals erloschen. Mag man nun anfänglich ein eignes Erinnerungsfest dafür gestiftet haben oder nicht, im Geiste der Bürger¬ schaft hat sich jedenfalls das Kirschfest allmählich mit dem Gedächtnis jener glücklich abgewandten Eroberungsgefahr verquickt und verschmolzen. Der erste litterarische Niederschlag dieser Vermengung zeigt sich in der kurzen und ganz allgemein gehaltenen Nachricht Töpfers in seinem Programm von 1671. Handschriftliche Naumburger Nachrichten von Franke und Zader aus den beiden folgenden Jahrzehnten sprechen schon etwas ausführlicher von dieser Über¬ lieferung und berichten, es seien „Hussiten" gewesen, deren Ansturm durch die Kinderbitten abgewandt worden sei. Sie haben mit dieser Beziehung auf „Hussiten" in bestimmtem Sinne Recht. Während man seit dem Aufblühen der Geschichtswissenschaft im vorigen Jahrhundert die bekannte religiöse Partei Böhmens nur noch in ihrer kirchlichen und kriegerischen Thätigkeit bis zur letzten Niederlage der Taboriten als „Hussiten" bezeichnet, galt dieser Name in Deutschland über 1435 hinaus noch lange Zeit für ganz gleichbedeutend mit „Tschechen" (Böhmen), und insbesondre die böhmischen Hilfstruppen des Herzogs Wilhelm im Bruderkriege werden von den Chroniken noch im sech¬ zehnten Jahrhundert unter dem Namen „Hussiten" angeführt. Gerade diese Zebraken waren es, die 1450 vor Naumburg lagen und dann in Gera kanni¬ balisch hausten. Wenn also die Überlieferung in Naumburg von „Hussiten" meldete, so hatte sie eben deu Sprachgebrauch der Vorzeit festgehalten und meinte damit nichts andres als Wilhelms böhmische Hilfstruppen. Durch Töpfer, Franke und Zader angeregt, wandte sich nun das Interesse der Naumburger jener kirschfestlichen Hussitenüberlieferung zu. Weil man aber die alte Bedeutung des Namens „Hussiten" nicht mehr kannte, verlegte man die Errettung der Stadt irrtümlich weiter zurück in die wirklichen Hussitenkriege. Die «üuriosg, L^xoniog. von Marcus (1743) thun dies, indem sie den Vorgang ins Jahr 1429 oder 1430 setzen. Richtig ist daran nur, daß die Hussiten bloß zweimal Einfülle ins Meißnische und Osterländische unternommen haben, nämlich im Herbst 1429 und dann sogleich noch einmal um die Jahreswende von 1429 und 1430. Beidemale aber sind sie nicht bis in die Naumburger Gegend gekommen, und wäre es geschehen, so würde es in der Herbst- und Winterszeit des Feldzuges beim besten Willen nicht möglich gewesen sein, Zweige und Kirschen herbeizuschaffen. Das gesteigerte Verlangen der Naum¬ burger, über die wirksame Fürsprache der Stadtkinder bei einem harten Be¬ lagerer und über die Entstehung des Kirschfestes etwas genaueres zu erfahre«,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/380>, abgerufen am 26.08.2024.