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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Lhre und der Strafrichter

ist Verletzung dieses Anspruches. Er gebührt jedem Gliede der menschlichen
Gesellschaft eben kraft seiner Zugehörigkeit zu den Ebenbildern Gottes. Selbst
der Unwürdigste besitzt und behält einen Nest dieses allgemeinen Menschen¬
wertes und deshalb ein gewisses niedrigstes Maß von Achtnngswürdigkeit.
"Ganz Bestie kann er nicht werden, wenigstens will es das Recht nicht glauben."
Selbst den nichtswürdigsten Schurken, sowie deu Blödsinnigen zu bespeien wäre
Beleidigung. Aber auch nach oben ist eine Grenze gezogen, über die hinaus
niemand, und hätte er selbst die höchste mögliche Stufe menschlicher Voll¬
kommenheit erreicht, geachtet, geehrt zu werden beanspruchen darf. So billigt
unser heute "ganz demokratisch gewordnes Ehrenrecht" dem Kriegshelden und
dem Staatsmann, der das Vaterland gerettet, dem Weisen, der die Mensch¬
heit geadelt hat, dem Künstler von Gottes Gnaden keinen höhern Anspruch
auf äußere Ehren zu, als dem dunkeln Ehrenmann. Erst innerhalb dieser
untern und dieser obern Grenzlinie beeinflußt das Maß des innern Wertes
der einzelnen Persönlichkeit das Maß der ihr zukommenden äußern Anerkennung.
Der persönliche Ehrenanspruch geht also dahin, "im Verkehr nicht als schlechter
behandelt zu werden, als man sich bewährt hat, nicht eigentlich nach dem Maß
seiner Ehre, sondern nach dem seiner Freiheit von Unehre behandelt zu werden."
Es giebt mithin "kein Recht auf Dissimulation der Unehre; wer dem Be¬
lasteten wahrheitsgetreu seine Unehrenhaftigkeit vorrückt, behandelt ihn genau
nach Wert, und mehr kann niemand heischen." Nur eins verlangt nicht un¬
billig das Gesetz: der formell beleidigende soll sein Recht auf Mißachtung
des Gegners, d. h. einen entsprechenden Mangel an dessen innerm Werte be¬
weisen. Um etwas andres als den Wert der freien sittlichen Persönlichkeit
aber kann es sich beim Ehrbegriff und folglich auch bei der Frage der Be¬
leidigung überhaupt nicht handeln. Äußere Vorzüge und natürliche Gaben,
wie Schönheit, Verstand, Genie, haben mit dem sittlichen Werte nichts zu
schaffen. Das Absprechen dieser Vorzüge und Gaben kann niemals Beleidigung
sein, wie ihr Mangel niemals Unehre ist. Das sicherste Maß, das an den
sittlichen Wert des Vermehrter gelegt werden kann, ist die Prüfung, wie er
sich zur Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten gestellt habe. Den Umfang
dieser Pflichten bestimmt für jedermann ohne Unterschied das Sittengesetz.
Insoweit daneben gewissen Ständen und Berufsarten gewisse besondre Pflichten
auferlegt sind, verunehrt sich der Angehörige solchen Standes oder Berufes
auch durch Nichterfüllung dieser besondern Pflichten. Nur in diesem Sinne
kann wie von Standespflichten, so auch von Standesehre und Verletzung der
Standesehre durch ihre Träger selbst oder durch Dritte gesprochen werden.
Umgekehrt kann die Erfüllung, sei es allgemeiner Pflichten, sei es besondrer
Berufspflichten, niemals Unrecht erzeugen, somit auch, wenn sie sich zur Mi߬
achtung Dritter genötigt sieht oder genötigt glaubt, niemals zur Beleidigung
werden.


Die Lhre und der Strafrichter

ist Verletzung dieses Anspruches. Er gebührt jedem Gliede der menschlichen
Gesellschaft eben kraft seiner Zugehörigkeit zu den Ebenbildern Gottes. Selbst
der Unwürdigste besitzt und behält einen Nest dieses allgemeinen Menschen¬
wertes und deshalb ein gewisses niedrigstes Maß von Achtnngswürdigkeit.
„Ganz Bestie kann er nicht werden, wenigstens will es das Recht nicht glauben."
Selbst den nichtswürdigsten Schurken, sowie deu Blödsinnigen zu bespeien wäre
Beleidigung. Aber auch nach oben ist eine Grenze gezogen, über die hinaus
niemand, und hätte er selbst die höchste mögliche Stufe menschlicher Voll¬
kommenheit erreicht, geachtet, geehrt zu werden beanspruchen darf. So billigt
unser heute „ganz demokratisch gewordnes Ehrenrecht" dem Kriegshelden und
dem Staatsmann, der das Vaterland gerettet, dem Weisen, der die Mensch¬
heit geadelt hat, dem Künstler von Gottes Gnaden keinen höhern Anspruch
auf äußere Ehren zu, als dem dunkeln Ehrenmann. Erst innerhalb dieser
untern und dieser obern Grenzlinie beeinflußt das Maß des innern Wertes
der einzelnen Persönlichkeit das Maß der ihr zukommenden äußern Anerkennung.
Der persönliche Ehrenanspruch geht also dahin, „im Verkehr nicht als schlechter
behandelt zu werden, als man sich bewährt hat, nicht eigentlich nach dem Maß
seiner Ehre, sondern nach dem seiner Freiheit von Unehre behandelt zu werden."
Es giebt mithin „kein Recht auf Dissimulation der Unehre; wer dem Be¬
lasteten wahrheitsgetreu seine Unehrenhaftigkeit vorrückt, behandelt ihn genau
nach Wert, und mehr kann niemand heischen." Nur eins verlangt nicht un¬
billig das Gesetz: der formell beleidigende soll sein Recht auf Mißachtung
des Gegners, d. h. einen entsprechenden Mangel an dessen innerm Werte be¬
weisen. Um etwas andres als den Wert der freien sittlichen Persönlichkeit
aber kann es sich beim Ehrbegriff und folglich auch bei der Frage der Be¬
leidigung überhaupt nicht handeln. Äußere Vorzüge und natürliche Gaben,
wie Schönheit, Verstand, Genie, haben mit dem sittlichen Werte nichts zu
schaffen. Das Absprechen dieser Vorzüge und Gaben kann niemals Beleidigung
sein, wie ihr Mangel niemals Unehre ist. Das sicherste Maß, das an den
sittlichen Wert des Vermehrter gelegt werden kann, ist die Prüfung, wie er
sich zur Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten gestellt habe. Den Umfang
dieser Pflichten bestimmt für jedermann ohne Unterschied das Sittengesetz.
Insoweit daneben gewissen Ständen und Berufsarten gewisse besondre Pflichten
auferlegt sind, verunehrt sich der Angehörige solchen Standes oder Berufes
auch durch Nichterfüllung dieser besondern Pflichten. Nur in diesem Sinne
kann wie von Standespflichten, so auch von Standesehre und Verletzung der
Standesehre durch ihre Träger selbst oder durch Dritte gesprochen werden.
Umgekehrt kann die Erfüllung, sei es allgemeiner Pflichten, sei es besondrer
Berufspflichten, niemals Unrecht erzeugen, somit auch, wenn sie sich zur Mi߬
achtung Dritter genötigt sieht oder genötigt glaubt, niemals zur Beleidigung
werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/350>, abgerufen am 23.07.2024.