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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die deutsch-soziale Bewegung und die konservative Partei

um es kurz, wenn auch schroff zu sagen, sie proletarisiren." Sehr richtig!
Das wird die unausbleibliche Folge sein; aber sie wird es nur dann sein,
wenn man fortfährt, die Warnung zu mißachten, die in dem Anwachsen der
deutsch-sozialen Bestrebungen liegt, wenn man sich darauf beschränkt, sie zu
verdammen, und es unterläßt, ihren Ursachen nachzuspüren und sich zu fragen,
ob man nicht selbst die Mißstände zum guten Teil verschuldet habe, die man
so bitter beklagt.

Wenn man sich diese Fragen vorlegte und, statt in sittliche Entrüstung
zu geraten, Einkehr bei sich selbst hielte, so würde es auch nicht so schwer
sein, die richtige Antwort zu finden. Man bedenke: die Kerntruppen der
konservativen Partei, der Bauernstand, die Handwerker und die kleinen Beamten
verlassen das Lager und wenden sich in Massen der extremen Bewegung zu,
von der niemand weiß, wohin sie geht. Ist plötzlich in diesen nüchternen
und ruhigen Bevölkerungsklassen, ans denen wesentlich die physische und sitt¬
liche Stärke unsers Volkes beruht, eine völlige und unbegreifliche Sinnes¬
änderung eingetreten? Haben einige publizistische Hauptorgane der konservativen
Partei durch gute Dienste, die sie der deutsch-sozialen Bewegung geleistet haben,
diese wunderbare Sinnesänderung in Bevölkerungsschichten, die sonst neuen
und fremden Einflüssen so unzugänglich sind, innerhalb weniger Jahre herbei¬
führen können? Diese Fragen brauchen nur gestellt zu werden, um sie zu
.verneinen. Der deutsche Bauer, der Handwerker und der Beamte ist noch
genau so konservativ, wie er es von jeher gewesen ist. Er hängt treu an
seinem Glauben, seinem Vaterlande und der Monarchie, und er ist keineswegs
ein neueruugssüchtiger Proletarier geworden. Aber er ist nicht mehr konser¬
vativ in dem Sinne der "konservativen Eigenart," die ihr letztes und einziges
Ziel in der ruheseligen Erhaltung alles Bestehenden erkennt, im Sinne jenes
Konservativismus, der mit dem Kartell anfängt, mit dem Zusammenschluß
aller nichtsozialdemokratischen Elemente fortfährt und mit der Vernichtung
der konservativen Bestrebungen endet.

Die soziale Not pocht lauter und lauter an die Thüren des bürgerlichen
Mittelstandes, und von Jahr zu Jahr mehrt sich die Gefahr, daß die besten
Kräfte unsers Volkes proletarisirt, daß die Bevölkerungsklassen, die in der
Mitte stehen zwischen dem Großkapital und der kapitallosen Arbeiterbevölkerung,
erdrückt werden, und der versöhnende Übergang zwischen den reichern und
ürmern Teilen des Volkes einem unvermittelter Gegensatze zwischen Arm und
Reich mit all seinen Gefahren und all seiner Ungerechtigkeit Platz mache.

Dies zu verhindern, den bürgerlichen Mittelstand vor Überflutung zu
schützen und mit ihm die wahrhaft lebendigen Kräfte unsers Volkes -- sei es
auch durch radikale Maßregeln -- zu erhalten, das ist die Aufgabe einer
wahrhaft staatserhaltenden, das ist konservativen Partei, und dieser Aufgabe
gegenüber sollte alles andre zurücktreten.


Die deutsch-soziale Bewegung und die konservative Partei

um es kurz, wenn auch schroff zu sagen, sie proletarisiren." Sehr richtig!
Das wird die unausbleibliche Folge sein; aber sie wird es nur dann sein,
wenn man fortfährt, die Warnung zu mißachten, die in dem Anwachsen der
deutsch-sozialen Bestrebungen liegt, wenn man sich darauf beschränkt, sie zu
verdammen, und es unterläßt, ihren Ursachen nachzuspüren und sich zu fragen,
ob man nicht selbst die Mißstände zum guten Teil verschuldet habe, die man
so bitter beklagt.

Wenn man sich diese Fragen vorlegte und, statt in sittliche Entrüstung
zu geraten, Einkehr bei sich selbst hielte, so würde es auch nicht so schwer
sein, die richtige Antwort zu finden. Man bedenke: die Kerntruppen der
konservativen Partei, der Bauernstand, die Handwerker und die kleinen Beamten
verlassen das Lager und wenden sich in Massen der extremen Bewegung zu,
von der niemand weiß, wohin sie geht. Ist plötzlich in diesen nüchternen
und ruhigen Bevölkerungsklassen, ans denen wesentlich die physische und sitt¬
liche Stärke unsers Volkes beruht, eine völlige und unbegreifliche Sinnes¬
änderung eingetreten? Haben einige publizistische Hauptorgane der konservativen
Partei durch gute Dienste, die sie der deutsch-sozialen Bewegung geleistet haben,
diese wunderbare Sinnesänderung in Bevölkerungsschichten, die sonst neuen
und fremden Einflüssen so unzugänglich sind, innerhalb weniger Jahre herbei¬
führen können? Diese Fragen brauchen nur gestellt zu werden, um sie zu
.verneinen. Der deutsche Bauer, der Handwerker und der Beamte ist noch
genau so konservativ, wie er es von jeher gewesen ist. Er hängt treu an
seinem Glauben, seinem Vaterlande und der Monarchie, und er ist keineswegs
ein neueruugssüchtiger Proletarier geworden. Aber er ist nicht mehr konser¬
vativ in dem Sinne der „konservativen Eigenart," die ihr letztes und einziges
Ziel in der ruheseligen Erhaltung alles Bestehenden erkennt, im Sinne jenes
Konservativismus, der mit dem Kartell anfängt, mit dem Zusammenschluß
aller nichtsozialdemokratischen Elemente fortfährt und mit der Vernichtung
der konservativen Bestrebungen endet.

Die soziale Not pocht lauter und lauter an die Thüren des bürgerlichen
Mittelstandes, und von Jahr zu Jahr mehrt sich die Gefahr, daß die besten
Kräfte unsers Volkes proletarisirt, daß die Bevölkerungsklassen, die in der
Mitte stehen zwischen dem Großkapital und der kapitallosen Arbeiterbevölkerung,
erdrückt werden, und der versöhnende Übergang zwischen den reichern und
ürmern Teilen des Volkes einem unvermittelter Gegensatze zwischen Arm und
Reich mit all seinen Gefahren und all seiner Ungerechtigkeit Platz mache.

Dies zu verhindern, den bürgerlichen Mittelstand vor Überflutung zu
schützen und mit ihm die wahrhaft lebendigen Kräfte unsers Volkes — sei es
auch durch radikale Maßregeln — zu erhalten, das ist die Aufgabe einer
wahrhaft staatserhaltenden, das ist konservativen Partei, und dieser Aufgabe
gegenüber sollte alles andre zurücktreten.


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[0348] Die deutsch-soziale Bewegung und die konservative Partei um es kurz, wenn auch schroff zu sagen, sie proletarisiren." Sehr richtig! Das wird die unausbleibliche Folge sein; aber sie wird es nur dann sein, wenn man fortfährt, die Warnung zu mißachten, die in dem Anwachsen der deutsch-sozialen Bestrebungen liegt, wenn man sich darauf beschränkt, sie zu verdammen, und es unterläßt, ihren Ursachen nachzuspüren und sich zu fragen, ob man nicht selbst die Mißstände zum guten Teil verschuldet habe, die man so bitter beklagt. Wenn man sich diese Fragen vorlegte und, statt in sittliche Entrüstung zu geraten, Einkehr bei sich selbst hielte, so würde es auch nicht so schwer sein, die richtige Antwort zu finden. Man bedenke: die Kerntruppen der konservativen Partei, der Bauernstand, die Handwerker und die kleinen Beamten verlassen das Lager und wenden sich in Massen der extremen Bewegung zu, von der niemand weiß, wohin sie geht. Ist plötzlich in diesen nüchternen und ruhigen Bevölkerungsklassen, ans denen wesentlich die physische und sitt¬ liche Stärke unsers Volkes beruht, eine völlige und unbegreifliche Sinnes¬ änderung eingetreten? Haben einige publizistische Hauptorgane der konservativen Partei durch gute Dienste, die sie der deutsch-sozialen Bewegung geleistet haben, diese wunderbare Sinnesänderung in Bevölkerungsschichten, die sonst neuen und fremden Einflüssen so unzugänglich sind, innerhalb weniger Jahre herbei¬ führen können? Diese Fragen brauchen nur gestellt zu werden, um sie zu .verneinen. Der deutsche Bauer, der Handwerker und der Beamte ist noch genau so konservativ, wie er es von jeher gewesen ist. Er hängt treu an seinem Glauben, seinem Vaterlande und der Monarchie, und er ist keineswegs ein neueruugssüchtiger Proletarier geworden. Aber er ist nicht mehr konser¬ vativ in dem Sinne der „konservativen Eigenart," die ihr letztes und einziges Ziel in der ruheseligen Erhaltung alles Bestehenden erkennt, im Sinne jenes Konservativismus, der mit dem Kartell anfängt, mit dem Zusammenschluß aller nichtsozialdemokratischen Elemente fortfährt und mit der Vernichtung der konservativen Bestrebungen endet. Die soziale Not pocht lauter und lauter an die Thüren des bürgerlichen Mittelstandes, und von Jahr zu Jahr mehrt sich die Gefahr, daß die besten Kräfte unsers Volkes proletarisirt, daß die Bevölkerungsklassen, die in der Mitte stehen zwischen dem Großkapital und der kapitallosen Arbeiterbevölkerung, erdrückt werden, und der versöhnende Übergang zwischen den reichern und ürmern Teilen des Volkes einem unvermittelter Gegensatze zwischen Arm und Reich mit all seinen Gefahren und all seiner Ungerechtigkeit Platz mache. Dies zu verhindern, den bürgerlichen Mittelstand vor Überflutung zu schützen und mit ihm die wahrhaft lebendigen Kräfte unsers Volkes — sei es auch durch radikale Maßregeln — zu erhalten, das ist die Aufgabe einer wahrhaft staatserhaltenden, das ist konservativen Partei, und dieser Aufgabe gegenüber sollte alles andre zurücktreten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/348>, abgerufen am 23.07.2024.