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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Lin Morgen in der Mädchenschule

mir rasch die Besinnung wieder; mechanisch sagte ich ein paar Worte nach,
die mir meine Nachbarin einflüsterte. Sie mußten einen Schein von Wahrheit
besessen haben, denn mit einem ,,guet" durfte ich mich niederlassen.

Nun begann eine Unruhe in den hintersten Bänken, und eine halb¬
laute Stimme bat: O bitte -- Herr Linsenmeier, jetzt Schwefelwasserstoff!
Damit war das Signal gegeben. Ja ja -- o bitte, bitte! fiel die ganze
Klasse ein, und Herr Linsenmeier konnte nicht widerstehen. Hätte er geahnt,
was hinter der eifrigen Wißbegierde seiner Schülerinnen steckte, er hätte
mit etwas weniger verklärtem Gesicht die Bereitung des Erwünschten be¬
gonnen. Voll Erwartung sah alles aus seine Hände, lauschte seinen kurzen
Worten --

Da begannen sich die Gesichter in der ersten Vnnk zu verziehen -- nun
auch die in der zweiten -- und allmählich legte sich ein Schauder über die
ganze Klasse. Hu! und Ha! erstickte Rufe, unterdrücktes Lachen wurden ver¬
nehmbar. Dürfen wir lüften? O bitte lüften -- lüften! Das Ziel war er¬
reicht. Thür und Fenster wurden geöffnet, und wir stürmten jubelnd ans den
Flur hinaus, Herrn Linsenmeier still verklärt zurücklassend.

Damit war die Physikstundc und mit ihr der Schulmorgen zu Ende.
Fröhliches Rufen und Lachen klang durch die alten Klostergänge. Von heißer
Sonne überzittert, lag das Gärtchen im Häuserviereck. Nichts regte sich darin;
nur ein warm durchglühter Duft drnug durch die geöffneten Fenster herein.

Ich kam mit der Irma an der Stelle vorbei, wo ich heute früh gestanden
hatte; drüben lagen, regungslos wie immer, die alten Steingräber, nur ein
Trauermantel hatte sich aus der Sonnenstille hereinverirrt und schwebte laut¬
los über sie hin. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirne und sagte mit
leiser Stimme: Kommt dir nicht auch manchmal alles -- das ganze Leben --
wie ein Traum vor, Irma? Sie sah mich wieder verwundert an. Dann
lachte sie und sagte: Nein, zum Glück uicht! Sonst wachte ich am Ende gleich
auf und süße noch oben im Physikzimmer; prrrr! Leb wohl! guten Appetit!
Damit eilte sie hüpfend und ihre Tasche schwenkend voraus. --

Seitdem sind Jahre vergangen; das Leben ist unaufhaltsam weiter¬
geschritten, und die Kinderzeit ist wie ein schöner wolkenloser Sommertag
dahingeschwunden. Doch es kommen Stunden, wo sie wieder vor der Seele
emporsteigt, wo man sie wie an goldnen Fäden aus der Vergangenheit hervor¬
zieht und sich träumend ihrem Auf- und Niederflimmern überläßt.

So war mirs heute, als ich nach Jahren der Abwesenheit wieder über
den sonnenheißen Platz der alten Klosterschule schritt. Sie lag totenstill da;
kein Laut regte sich, nur die Schwalben schössen hoch zirpend durch die Luft.
Ich konnte nicht widerstehen, klinkte die alte Pforte auf, und da stand ich nun
wieder wie einst zwischen den alten Bogenfenstern. Aber der kleine Garten
war verschwunden. Eine gleichmäßig gelbe Sandfläche dehnte sich an seiner


Lin Morgen in der Mädchenschule

mir rasch die Besinnung wieder; mechanisch sagte ich ein paar Worte nach,
die mir meine Nachbarin einflüsterte. Sie mußten einen Schein von Wahrheit
besessen haben, denn mit einem ,,guet" durfte ich mich niederlassen.

Nun begann eine Unruhe in den hintersten Bänken, und eine halb¬
laute Stimme bat: O bitte — Herr Linsenmeier, jetzt Schwefelwasserstoff!
Damit war das Signal gegeben. Ja ja — o bitte, bitte! fiel die ganze
Klasse ein, und Herr Linsenmeier konnte nicht widerstehen. Hätte er geahnt,
was hinter der eifrigen Wißbegierde seiner Schülerinnen steckte, er hätte
mit etwas weniger verklärtem Gesicht die Bereitung des Erwünschten be¬
gonnen. Voll Erwartung sah alles aus seine Hände, lauschte seinen kurzen
Worten —

Da begannen sich die Gesichter in der ersten Vnnk zu verziehen — nun
auch die in der zweiten — und allmählich legte sich ein Schauder über die
ganze Klasse. Hu! und Ha! erstickte Rufe, unterdrücktes Lachen wurden ver¬
nehmbar. Dürfen wir lüften? O bitte lüften — lüften! Das Ziel war er¬
reicht. Thür und Fenster wurden geöffnet, und wir stürmten jubelnd ans den
Flur hinaus, Herrn Linsenmeier still verklärt zurücklassend.

Damit war die Physikstundc und mit ihr der Schulmorgen zu Ende.
Fröhliches Rufen und Lachen klang durch die alten Klostergänge. Von heißer
Sonne überzittert, lag das Gärtchen im Häuserviereck. Nichts regte sich darin;
nur ein warm durchglühter Duft drnug durch die geöffneten Fenster herein.

Ich kam mit der Irma an der Stelle vorbei, wo ich heute früh gestanden
hatte; drüben lagen, regungslos wie immer, die alten Steingräber, nur ein
Trauermantel hatte sich aus der Sonnenstille hereinverirrt und schwebte laut¬
los über sie hin. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirne und sagte mit
leiser Stimme: Kommt dir nicht auch manchmal alles — das ganze Leben —
wie ein Traum vor, Irma? Sie sah mich wieder verwundert an. Dann
lachte sie und sagte: Nein, zum Glück uicht! Sonst wachte ich am Ende gleich
auf und süße noch oben im Physikzimmer; prrrr! Leb wohl! guten Appetit!
Damit eilte sie hüpfend und ihre Tasche schwenkend voraus. —

Seitdem sind Jahre vergangen; das Leben ist unaufhaltsam weiter¬
geschritten, und die Kinderzeit ist wie ein schöner wolkenloser Sommertag
dahingeschwunden. Doch es kommen Stunden, wo sie wieder vor der Seele
emporsteigt, wo man sie wie an goldnen Fäden aus der Vergangenheit hervor¬
zieht und sich träumend ihrem Auf- und Niederflimmern überläßt.

So war mirs heute, als ich nach Jahren der Abwesenheit wieder über
den sonnenheißen Platz der alten Klosterschule schritt. Sie lag totenstill da;
kein Laut regte sich, nur die Schwalben schössen hoch zirpend durch die Luft.
Ich konnte nicht widerstehen, klinkte die alte Pforte auf, und da stand ich nun
wieder wie einst zwischen den alten Bogenfenstern. Aber der kleine Garten
war verschwunden. Eine gleichmäßig gelbe Sandfläche dehnte sich an seiner


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/338>, abgerufen am 23.07.2024.