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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Stunde ging weiter. Schwüle lag über dem Zimmer. Mit nieder¬
gebeugten Gesichtern saß alles da und schrieb. Nur vorm Fenster zirpten die
Schwalben, und hie und da tönte draußen auf dem Flur ein Schritt. Heute
konnte ich meine Gedanken aber mich gar uicht zusammennehmen. Ich schielte
über mein Heft zur Irma hinüber; sie saß in voller Thätigkeit, sie hatte den
Federhalter so tief eingetaucht, daß ihr ein großer Klex mitten aufs Papier
gefallen war, den versuchte sie nun mit ihrem dicken Taschenmesser zu
radireu. Als es dann ein Loch gab, mußte sie lachen und schaute mich
mit einem Auge durch das Loch an, sodaß ich wieder lachen mußte. Das
steigerte sich bei ihr noch mehr, sodaß sie zuletzt den Kopf unter die
Bank steckte, und ich nur uoch ihren zuckenden Zopf sehen konnte. Voll
Unruhe sah ich zum Pulte hinüber. Da saß Herr Blümle und sah mit
starren Augen in den schmalen, flimmernden Sonnenstreifen. Er dachte gar
nicht an uns -- eine tiefe Falte lag um seineu Mund. Und plötzlich ging
mirs sonderbar. Ich sah ihn nicht mehr als Herrn Blümle, sondern als
armen, armen Menschen dort sitzen, der Wohl kaum je gewußt habe, Ums
Sonnenschein im Leben ist. Und es erfaßte mich ein unsagbares Mitleid mit
ihm; und hastig ergriff ich mein Heft und rechnete und rechnete mit einem
Eifer, als ob von der richtigen Lösung meiner Aufgabe sein ganzes Glück ab-
hinge. Ich hörte, wie sich die Irma laut rnusperte, schaute aber nur flüchtig
in die Höhe und sagte: Paß doch auf! Wie Hütte mich noch kurz vorher ihr
dumm erstaunter Blick zum Lachen gemacht. Jetzt war es mir nicht möglich.

Dn tönte fröhliches Stimmengewirr auf dem Flur, Lachen und Helles Rufen.
Es war die große Pause. Gleich darauf befanden wir uns mitten drunter.
Fast lauter fröhliche Gesichter mit lachenden Augen. Nur hie und da schaute
eines etwas ernster drein. Die Allsgelassenste war die Irma. Als hätte sie
den Sieg über die ganze Klasse in der Rechenstnnde davongetragen, sich über¬
stürzend, silberhell wie ein Bergquell, kam es von ihren roten Lippen, und
gleich drauf hatte sie auch mich wieder völlig angesteckt. Wir versuchten künst¬
lich zu stolpern und nahmen uns vor, es unten an der Gangecke zu thun, wo
die Lehrer mit wichtigen Mienen, die Hände auf dem Rücken, gruppenweise
beisammen standen. Nur recht natürlich! flüsterte ich ihr noch zu. Im ge¬
eigneten Augenblick, da wir vorbeigingen, that die Irma, als rutschte sie aus,
und -- pardauz -- schlägt sie wirklich zu meinem Todesschrecken der Länge
nach vor der bestürzten Lehrergruppe zu Boden. Ärgerlich fuhren sie alle auf,
und der Direktor sagte gereizt mit seiner hohen Stimme: Kennen Si mer nit
vor die Fieß sehn? Was sind mer das fir Geschieben! Ich hatte einen solchen
Lachkrampf bekommen, daß ich mich fast an einem Stück Brot verschluckte und
mit einem Erstickungsanfall das Unheil noch vergrößerte. Lassen Si mer doch
das dumme Lachn bleibn! Daß mer so was nimmer vorkommt! Damit hinkten
wir beide ab.


Die Stunde ging weiter. Schwüle lag über dem Zimmer. Mit nieder¬
gebeugten Gesichtern saß alles da und schrieb. Nur vorm Fenster zirpten die
Schwalben, und hie und da tönte draußen auf dem Flur ein Schritt. Heute
konnte ich meine Gedanken aber mich gar uicht zusammennehmen. Ich schielte
über mein Heft zur Irma hinüber; sie saß in voller Thätigkeit, sie hatte den
Federhalter so tief eingetaucht, daß ihr ein großer Klex mitten aufs Papier
gefallen war, den versuchte sie nun mit ihrem dicken Taschenmesser zu
radireu. Als es dann ein Loch gab, mußte sie lachen und schaute mich
mit einem Auge durch das Loch an, sodaß ich wieder lachen mußte. Das
steigerte sich bei ihr noch mehr, sodaß sie zuletzt den Kopf unter die
Bank steckte, und ich nur uoch ihren zuckenden Zopf sehen konnte. Voll
Unruhe sah ich zum Pulte hinüber. Da saß Herr Blümle und sah mit
starren Augen in den schmalen, flimmernden Sonnenstreifen. Er dachte gar
nicht an uns — eine tiefe Falte lag um seineu Mund. Und plötzlich ging
mirs sonderbar. Ich sah ihn nicht mehr als Herrn Blümle, sondern als
armen, armen Menschen dort sitzen, der Wohl kaum je gewußt habe, Ums
Sonnenschein im Leben ist. Und es erfaßte mich ein unsagbares Mitleid mit
ihm; und hastig ergriff ich mein Heft und rechnete und rechnete mit einem
Eifer, als ob von der richtigen Lösung meiner Aufgabe sein ganzes Glück ab-
hinge. Ich hörte, wie sich die Irma laut rnusperte, schaute aber nur flüchtig
in die Höhe und sagte: Paß doch auf! Wie Hütte mich noch kurz vorher ihr
dumm erstaunter Blick zum Lachen gemacht. Jetzt war es mir nicht möglich.

Dn tönte fröhliches Stimmengewirr auf dem Flur, Lachen und Helles Rufen.
Es war die große Pause. Gleich darauf befanden wir uns mitten drunter.
Fast lauter fröhliche Gesichter mit lachenden Augen. Nur hie und da schaute
eines etwas ernster drein. Die Allsgelassenste war die Irma. Als hätte sie
den Sieg über die ganze Klasse in der Rechenstnnde davongetragen, sich über¬
stürzend, silberhell wie ein Bergquell, kam es von ihren roten Lippen, und
gleich drauf hatte sie auch mich wieder völlig angesteckt. Wir versuchten künst¬
lich zu stolpern und nahmen uns vor, es unten an der Gangecke zu thun, wo
die Lehrer mit wichtigen Mienen, die Hände auf dem Rücken, gruppenweise
beisammen standen. Nur recht natürlich! flüsterte ich ihr noch zu. Im ge¬
eigneten Augenblick, da wir vorbeigingen, that die Irma, als rutschte sie aus,
und — pardauz — schlägt sie wirklich zu meinem Todesschrecken der Länge
nach vor der bestürzten Lehrergruppe zu Boden. Ärgerlich fuhren sie alle auf,
und der Direktor sagte gereizt mit seiner hohen Stimme: Kennen Si mer nit
vor die Fieß sehn? Was sind mer das fir Geschieben! Ich hatte einen solchen
Lachkrampf bekommen, daß ich mich fast an einem Stück Brot verschluckte und
mit einem Erstickungsanfall das Unheil noch vergrößerte. Lassen Si mer doch
das dumme Lachn bleibn! Daß mer so was nimmer vorkommt! Damit hinkten
wir beide ab.


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[0336] Die Stunde ging weiter. Schwüle lag über dem Zimmer. Mit nieder¬ gebeugten Gesichtern saß alles da und schrieb. Nur vorm Fenster zirpten die Schwalben, und hie und da tönte draußen auf dem Flur ein Schritt. Heute konnte ich meine Gedanken aber mich gar uicht zusammennehmen. Ich schielte über mein Heft zur Irma hinüber; sie saß in voller Thätigkeit, sie hatte den Federhalter so tief eingetaucht, daß ihr ein großer Klex mitten aufs Papier gefallen war, den versuchte sie nun mit ihrem dicken Taschenmesser zu radireu. Als es dann ein Loch gab, mußte sie lachen und schaute mich mit einem Auge durch das Loch an, sodaß ich wieder lachen mußte. Das steigerte sich bei ihr noch mehr, sodaß sie zuletzt den Kopf unter die Bank steckte, und ich nur uoch ihren zuckenden Zopf sehen konnte. Voll Unruhe sah ich zum Pulte hinüber. Da saß Herr Blümle und sah mit starren Augen in den schmalen, flimmernden Sonnenstreifen. Er dachte gar nicht an uns — eine tiefe Falte lag um seineu Mund. Und plötzlich ging mirs sonderbar. Ich sah ihn nicht mehr als Herrn Blümle, sondern als armen, armen Menschen dort sitzen, der Wohl kaum je gewußt habe, Ums Sonnenschein im Leben ist. Und es erfaßte mich ein unsagbares Mitleid mit ihm; und hastig ergriff ich mein Heft und rechnete und rechnete mit einem Eifer, als ob von der richtigen Lösung meiner Aufgabe sein ganzes Glück ab- hinge. Ich hörte, wie sich die Irma laut rnusperte, schaute aber nur flüchtig in die Höhe und sagte: Paß doch auf! Wie Hütte mich noch kurz vorher ihr dumm erstaunter Blick zum Lachen gemacht. Jetzt war es mir nicht möglich. Dn tönte fröhliches Stimmengewirr auf dem Flur, Lachen und Helles Rufen. Es war die große Pause. Gleich darauf befanden wir uns mitten drunter. Fast lauter fröhliche Gesichter mit lachenden Augen. Nur hie und da schaute eines etwas ernster drein. Die Allsgelassenste war die Irma. Als hätte sie den Sieg über die ganze Klasse in der Rechenstnnde davongetragen, sich über¬ stürzend, silberhell wie ein Bergquell, kam es von ihren roten Lippen, und gleich drauf hatte sie auch mich wieder völlig angesteckt. Wir versuchten künst¬ lich zu stolpern und nahmen uns vor, es unten an der Gangecke zu thun, wo die Lehrer mit wichtigen Mienen, die Hände auf dem Rücken, gruppenweise beisammen standen. Nur recht natürlich! flüsterte ich ihr noch zu. Im ge¬ eigneten Augenblick, da wir vorbeigingen, that die Irma, als rutschte sie aus, und — pardauz — schlägt sie wirklich zu meinem Todesschrecken der Länge nach vor der bestürzten Lehrergruppe zu Boden. Ärgerlich fuhren sie alle auf, und der Direktor sagte gereizt mit seiner hohen Stimme: Kennen Si mer nit vor die Fieß sehn? Was sind mer das fir Geschieben! Ich hatte einen solchen Lachkrampf bekommen, daß ich mich fast an einem Stück Brot verschluckte und mit einem Erstickungsanfall das Unheil noch vergrößerte. Lassen Si mer doch das dumme Lachn bleibn! Daß mer so was nimmer vorkommt! Damit hinkten wir beide ab.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/336>, abgerufen am 26.08.2024.