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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Lin Morgen in der Mädchenschule

sammcnschandern. Aber sie sah mich ganz ruhig an und sagte: Nein, Kind,
fürchtest du dich abends vor dem Schlafen? fürchtest du dich, wenn du müde
bist, vor der Heimkehr? Sie mußte mich nicht verstanden haben, denn das
hatte doch nichts mit dem Sterben zu thun! Ich sah sie verwundert an.
Da schlug es hell vom Kirchturme herunter. Acht Schläge. Hallend "er¬
zitterten sie in der Luft.

Wie hatte die Zeit nur so fliegen können! Eilig lief ich durch die ge¬
wölbten Steingänge dem Klassenzimmer zu. Überall war die größte Stille.
Die Stunde mußte schon angefangen haben. Etwas unbehaglich sah ich auf
die Hut- und Mantelreihen, die mir gleich stummen Anklägern zuwinkten.
Dann trat ich ein.

Ein gedämpftes goldnes Licht lag über dem Zimmer; alle Vorhänge
waren herabgelassen. Nur vorn fiel ein schmaler Sonnenstreifen hindurch, in
dem tausend Stäubchen auf- und abtanzten. Meine Augen irrten eine Sekunde
über all die braunen und blonden Zöpfe, dann blieben sie aus dem Pult
haften: dort saß er! Er, den ich glühend anschwärmte, verehrte. Seine
schwarzen Haare standen wirr um sein bleiches Antlitz, seine Augen rollten.
Doch nicht vor Empörung über mich -- nein, er hatte mich noch gar nicht
bemerkt, sondern vor Begeisterung. Nun sah er auf. Feuerrot stotterte ich
etwas von "verspätet haben." Doch sein donnernder Ruf: Die Wahrheit!
schnitt nur jeden Ton vom Munde ab. Was sollte ich sagen? Alles, was ich
unten gedacht hatte? Das wäre die Wahrheit gewesen. Da atmete ich erlöst
auf, er hatte ja gar nicht mich gemeint, denn er fuhr fort: Weh dem, der
zu der Wahrheit kommt durch Schuld, sie wird ihm nimmermehr erfreulich
sein! Dann lag wieder Stille über dem Zimmer. Alles saß wie gefoltert,
nur ich stolperte befreit über den ausgestreckten Fuß der Irma auf meinen
Platz, ohne mich um ihr herausplatzendes Lachen zu bekümmern. Leise packte
ich meine Bücher aus und nickte meiner Nachbarin Martha zu, die mich mit
stillen, großen Augen begrüßt hatte.

Nun war mirs wieder, als wäre ich nie von meinem Platze fortgewesen.
Vor mir hing, steif wie immer, der gelbe, struppige Zopf des Mariele, der
nur manchmal bei einer Kopfbewegung wie ein Pendel hin- und herschlug.
Und daneben saß, ihr dann umlocktcs zierliches Köpfchen leicht vorgeneigt
haltend, die neu eingetretene Engländerin; sie hieß Blanche und wurde uoch
wie ein halbes Wunder betrachtet.

Jetzt stand Professor Knittel nach seiner Gewohnheit auf, um einen Gang
durchs Zimmer zu machen. Neben mir war ein leerer Platz. Dort pflegte
er sich anzulehnen und dabei die eine Hand auf mein Pult zu stützen. So
that er es auch heute. Voll Verehrung sah ich auf seine kurzen, dicken Finger
vor mir. Aus Übermut breitete ich die Arme weit hinter ihm aus und sah
mit schmachtenden Augen auf. Doch wie erstarrte mein Herz, als er sich in


Lin Morgen in der Mädchenschule

sammcnschandern. Aber sie sah mich ganz ruhig an und sagte: Nein, Kind,
fürchtest du dich abends vor dem Schlafen? fürchtest du dich, wenn du müde
bist, vor der Heimkehr? Sie mußte mich nicht verstanden haben, denn das
hatte doch nichts mit dem Sterben zu thun! Ich sah sie verwundert an.
Da schlug es hell vom Kirchturme herunter. Acht Schläge. Hallend »er¬
zitterten sie in der Luft.

Wie hatte die Zeit nur so fliegen können! Eilig lief ich durch die ge¬
wölbten Steingänge dem Klassenzimmer zu. Überall war die größte Stille.
Die Stunde mußte schon angefangen haben. Etwas unbehaglich sah ich auf
die Hut- und Mantelreihen, die mir gleich stummen Anklägern zuwinkten.
Dann trat ich ein.

Ein gedämpftes goldnes Licht lag über dem Zimmer; alle Vorhänge
waren herabgelassen. Nur vorn fiel ein schmaler Sonnenstreifen hindurch, in
dem tausend Stäubchen auf- und abtanzten. Meine Augen irrten eine Sekunde
über all die braunen und blonden Zöpfe, dann blieben sie aus dem Pult
haften: dort saß er! Er, den ich glühend anschwärmte, verehrte. Seine
schwarzen Haare standen wirr um sein bleiches Antlitz, seine Augen rollten.
Doch nicht vor Empörung über mich — nein, er hatte mich noch gar nicht
bemerkt, sondern vor Begeisterung. Nun sah er auf. Feuerrot stotterte ich
etwas von „verspätet haben." Doch sein donnernder Ruf: Die Wahrheit!
schnitt nur jeden Ton vom Munde ab. Was sollte ich sagen? Alles, was ich
unten gedacht hatte? Das wäre die Wahrheit gewesen. Da atmete ich erlöst
auf, er hatte ja gar nicht mich gemeint, denn er fuhr fort: Weh dem, der
zu der Wahrheit kommt durch Schuld, sie wird ihm nimmermehr erfreulich
sein! Dann lag wieder Stille über dem Zimmer. Alles saß wie gefoltert,
nur ich stolperte befreit über den ausgestreckten Fuß der Irma auf meinen
Platz, ohne mich um ihr herausplatzendes Lachen zu bekümmern. Leise packte
ich meine Bücher aus und nickte meiner Nachbarin Martha zu, die mich mit
stillen, großen Augen begrüßt hatte.

Nun war mirs wieder, als wäre ich nie von meinem Platze fortgewesen.
Vor mir hing, steif wie immer, der gelbe, struppige Zopf des Mariele, der
nur manchmal bei einer Kopfbewegung wie ein Pendel hin- und herschlug.
Und daneben saß, ihr dann umlocktcs zierliches Köpfchen leicht vorgeneigt
haltend, die neu eingetretene Engländerin; sie hieß Blanche und wurde uoch
wie ein halbes Wunder betrachtet.

Jetzt stand Professor Knittel nach seiner Gewohnheit auf, um einen Gang
durchs Zimmer zu machen. Neben mir war ein leerer Platz. Dort pflegte
er sich anzulehnen und dabei die eine Hand auf mein Pult zu stützen. So
that er es auch heute. Voll Verehrung sah ich auf seine kurzen, dicken Finger
vor mir. Aus Übermut breitete ich die Arme weit hinter ihm aus und sah
mit schmachtenden Augen auf. Doch wie erstarrte mein Herz, als er sich in


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[0333] Lin Morgen in der Mädchenschule sammcnschandern. Aber sie sah mich ganz ruhig an und sagte: Nein, Kind, fürchtest du dich abends vor dem Schlafen? fürchtest du dich, wenn du müde bist, vor der Heimkehr? Sie mußte mich nicht verstanden haben, denn das hatte doch nichts mit dem Sterben zu thun! Ich sah sie verwundert an. Da schlug es hell vom Kirchturme herunter. Acht Schläge. Hallend »er¬ zitterten sie in der Luft. Wie hatte die Zeit nur so fliegen können! Eilig lief ich durch die ge¬ wölbten Steingänge dem Klassenzimmer zu. Überall war die größte Stille. Die Stunde mußte schon angefangen haben. Etwas unbehaglich sah ich auf die Hut- und Mantelreihen, die mir gleich stummen Anklägern zuwinkten. Dann trat ich ein. Ein gedämpftes goldnes Licht lag über dem Zimmer; alle Vorhänge waren herabgelassen. Nur vorn fiel ein schmaler Sonnenstreifen hindurch, in dem tausend Stäubchen auf- und abtanzten. Meine Augen irrten eine Sekunde über all die braunen und blonden Zöpfe, dann blieben sie aus dem Pult haften: dort saß er! Er, den ich glühend anschwärmte, verehrte. Seine schwarzen Haare standen wirr um sein bleiches Antlitz, seine Augen rollten. Doch nicht vor Empörung über mich — nein, er hatte mich noch gar nicht bemerkt, sondern vor Begeisterung. Nun sah er auf. Feuerrot stotterte ich etwas von „verspätet haben." Doch sein donnernder Ruf: Die Wahrheit! schnitt nur jeden Ton vom Munde ab. Was sollte ich sagen? Alles, was ich unten gedacht hatte? Das wäre die Wahrheit gewesen. Da atmete ich erlöst auf, er hatte ja gar nicht mich gemeint, denn er fuhr fort: Weh dem, der zu der Wahrheit kommt durch Schuld, sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein! Dann lag wieder Stille über dem Zimmer. Alles saß wie gefoltert, nur ich stolperte befreit über den ausgestreckten Fuß der Irma auf meinen Platz, ohne mich um ihr herausplatzendes Lachen zu bekümmern. Leise packte ich meine Bücher aus und nickte meiner Nachbarin Martha zu, die mich mit stillen, großen Augen begrüßt hatte. Nun war mirs wieder, als wäre ich nie von meinem Platze fortgewesen. Vor mir hing, steif wie immer, der gelbe, struppige Zopf des Mariele, der nur manchmal bei einer Kopfbewegung wie ein Pendel hin- und herschlug. Und daneben saß, ihr dann umlocktcs zierliches Köpfchen leicht vorgeneigt haltend, die neu eingetretene Engländerin; sie hieß Blanche und wurde uoch wie ein halbes Wunder betrachtet. Jetzt stand Professor Knittel nach seiner Gewohnheit auf, um einen Gang durchs Zimmer zu machen. Neben mir war ein leerer Platz. Dort pflegte er sich anzulehnen und dabei die eine Hand auf mein Pult zu stützen. So that er es auch heute. Voll Verehrung sah ich auf seine kurzen, dicken Finger vor mir. Aus Übermut breitete ich die Arme weit hinter ihm aus und sah mit schmachtenden Augen auf. Doch wie erstarrte mein Herz, als er sich in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/333>, abgerufen am 26.08.2024.