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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Wilhelm Imsen

womit Guvraud ihre neuen Glieder willkommen heißt. Alles dies geschieht
(mit einem gewissen Anachronismus) 1789, in dem Jahre, wo Ludwig XVI. die
Generalstände beruft.

Und welchen Erfolg, welches Schicksal bereitet Imsen dieser Gemeinde
der Natur und der menschenbrüderlichen Liebe? Ein paar Monate später nur
steht Mcithien Guvraud umtobt von der Lüge nud dem Verrat, der Mordgier nud
der Raublust, die, von ihm selber entfesselt, seine Schar der Liebe und der Mensch¬
lichkeit versprengt und erschlagen haben, und ruft in den Aufruhr des rasenden
Pöbels hinaus: "Wahn und Trug haben mich geblendet, zu glauben, die
Natur habe den Menschen gut erschaffe". Das Götterbild, das die Weisheit von
Jahrtausenden auf den Altar erhoben, habe ich zertrümmert, weil ich gewähnt,
in euch selbst lebe die Verminst eines Gottes. Doch statt ihrer fand ich in euch
nnr die Gier des Raubtiers, die Habsucht, den Blutdurst, die Wollust; und
die Liebe, deu Geist, die Menschlichkeit vor euch zu schütze", bedarf es der
Ketten, die auch anschmieden, und der Geißel, die euch zu heulenden Gehorsam
peitscht! Der Schurke, der in diesem Sarge liegt, hat Recht: der Mensch
ist böse; und für die wenigen Edeln der Menschheit ist ein Fluch der Thor,
der die Erkenntnis der Wahrheit lehrt!" Mit dieser vernichtenden Selbst¬
anklage und mit dem völligen, letzten Verderben derer, die die Wahrheit und
die Liebe zum Meuscheu gesucht und gegeben hatten, durch die, die hatten
befreit und erhoben werden solle", kommt dieser in Anlage und Schilderung
großartigste Roman Zeusens zum Schluß. Ohne daß eine andre Lösung, als
diese durch Vernichtung ausgesprochen, ein Ausweg augedeutet würde; Nirwana
ist seine Überschrift und sein Ende.

Wir glauben nicht, daß Imsen meint, daß es seit den anarchischen Tu¬
multen in der Auvergne und daß es überhaupt mit der Menschheit seit 1789
anders geworden sei, und hätten "ach dieser Selbstkritik des gewaltigen Buches
die Berechtigung gehabt, zu erwarten, ihn fortan in veränderten und wegen
dieser Erkenntnis im zweiten Teil von "Nirwana" eigentlich nicht überraschende"
Pfaden zu finden. Aber gerade darnach mußten wir dann immer Nadbods
des Friese" gedenke". Nicht daß wir uns eingebildet hätten, sanftmütige oder gar
reaktionäre Bücher von diesen: Manne zu empfangen, daß wir geglaubt hätten,
er werde seinen Unglauben, seine alte Gegnerschaft irgendwie bemänteln; aber
wir dachten doch, von da an die rastlose Menschenbefreiuugsarbeit durch reli¬
giöse "Aufklärung" eingeschränkt oder in weniger breite Bahnen gelenkt, den
Kampf gegen Priestertum und äußere Kirche gemildert, anders verstanden zu
sehen; wir waren keineswegs so sanguinisch, in nur einer einzigen der zahl¬
losen Jensenschen Nomanfiguren eine Darstellung oder Anerkennung der ethischen
oder auch nur der praktisch-humanen Leistungen des Christentums zu er¬
warten, aber wir durften doch gespannt sein, ob er nicht wenigstens nach dieser
Richtung hin dessen Vertreter in Zukunft ein wenig mehr in Ruhe lassen


Wilhelm Imsen

womit Guvraud ihre neuen Glieder willkommen heißt. Alles dies geschieht
(mit einem gewissen Anachronismus) 1789, in dem Jahre, wo Ludwig XVI. die
Generalstände beruft.

Und welchen Erfolg, welches Schicksal bereitet Imsen dieser Gemeinde
der Natur und der menschenbrüderlichen Liebe? Ein paar Monate später nur
steht Mcithien Guvraud umtobt von der Lüge nud dem Verrat, der Mordgier nud
der Raublust, die, von ihm selber entfesselt, seine Schar der Liebe und der Mensch¬
lichkeit versprengt und erschlagen haben, und ruft in den Aufruhr des rasenden
Pöbels hinaus: „Wahn und Trug haben mich geblendet, zu glauben, die
Natur habe den Menschen gut erschaffe». Das Götterbild, das die Weisheit von
Jahrtausenden auf den Altar erhoben, habe ich zertrümmert, weil ich gewähnt,
in euch selbst lebe die Verminst eines Gottes. Doch statt ihrer fand ich in euch
nnr die Gier des Raubtiers, die Habsucht, den Blutdurst, die Wollust; und
die Liebe, deu Geist, die Menschlichkeit vor euch zu schütze», bedarf es der
Ketten, die auch anschmieden, und der Geißel, die euch zu heulenden Gehorsam
peitscht! Der Schurke, der in diesem Sarge liegt, hat Recht: der Mensch
ist böse; und für die wenigen Edeln der Menschheit ist ein Fluch der Thor,
der die Erkenntnis der Wahrheit lehrt!" Mit dieser vernichtenden Selbst¬
anklage und mit dem völligen, letzten Verderben derer, die die Wahrheit und
die Liebe zum Meuscheu gesucht und gegeben hatten, durch die, die hatten
befreit und erhoben werden solle», kommt dieser in Anlage und Schilderung
großartigste Roman Zeusens zum Schluß. Ohne daß eine andre Lösung, als
diese durch Vernichtung ausgesprochen, ein Ausweg augedeutet würde; Nirwana
ist seine Überschrift und sein Ende.

Wir glauben nicht, daß Imsen meint, daß es seit den anarchischen Tu¬
multen in der Auvergne und daß es überhaupt mit der Menschheit seit 1789
anders geworden sei, und hätten »ach dieser Selbstkritik des gewaltigen Buches
die Berechtigung gehabt, zu erwarten, ihn fortan in veränderten und wegen
dieser Erkenntnis im zweiten Teil von „Nirwana" eigentlich nicht überraschende»
Pfaden zu finden. Aber gerade darnach mußten wir dann immer Nadbods
des Friese» gedenke». Nicht daß wir uns eingebildet hätten, sanftmütige oder gar
reaktionäre Bücher von diesen: Manne zu empfangen, daß wir geglaubt hätten,
er werde seinen Unglauben, seine alte Gegnerschaft irgendwie bemänteln; aber
wir dachten doch, von da an die rastlose Menschenbefreiuugsarbeit durch reli¬
giöse „Aufklärung" eingeschränkt oder in weniger breite Bahnen gelenkt, den
Kampf gegen Priestertum und äußere Kirche gemildert, anders verstanden zu
sehen; wir waren keineswegs so sanguinisch, in nur einer einzigen der zahl¬
losen Jensenschen Nomanfiguren eine Darstellung oder Anerkennung der ethischen
oder auch nur der praktisch-humanen Leistungen des Christentums zu er¬
warten, aber wir durften doch gespannt sein, ob er nicht wenigstens nach dieser
Richtung hin dessen Vertreter in Zukunft ein wenig mehr in Ruhe lassen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/312>, abgerufen am 26.08.2024.