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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Militarismus und Schulerziehung

sogenannten Originale unter den Lehrern nicht gerade selten waren, was schon
die reiche Zahl der Schulgeschichten beweist, die sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht forterbten, so herrscht heutzutage unter den Jüngern eine gewisse Uni-
formitüt im Auftreten; der ganze Schnitt ist auffallend gleich, der Durch¬
schnitt gegen früher vielleicht höher, aber doch mit gewissen Schattenseiten
verbunden. In der Zeit der Lehreroriginale war das Leben und Treiben der
Gymnasiasten ohne Zweifel freier, der selbstgewühlteu Beschäftigung günstiger,
als heute, wo die stete Aufsicht von oben ein zeitweiliges Ausruhen, ja viel¬
leicht auch Sichgehenlassen gar nicht aufkommen läßt, wo das Durchschnitts¬
wissen der Schüler zwar gestiegen, aber ihre Selbstthütigkeit zurückgegangen
ist infolge des Drills, der vielfach vom Exerzirvlatz, wo er durchaus am Platz
ist, in unsre Schulen gewandert ist, wo er nur Schaden stiften kann.

Und auch rein äußerlich genommen dürfte der üble Einfluß des Mili¬
tarismus auf die Schulerziehung zu Tage treten, nämlich in den Schulkasernen.
Auch diese sind ein Zeichen der Zeit. Die alten Gymnasien mit ihren neunzig
bis hundert Schülern dürften heutzutage sehr selten geworden sein. Und doch,
wie günstig waren sie der Erziehung, dem liebevollen Eingehen auf das
Wachsen und Erstarken der einzelnen Schüler. Und jetzt? Zu welchen Kolossen
sind viele Gymnasien, namentlich in den größern Städten, angewachsen! Wo
bleibt dn die erzieherische Einwirkung auf die Entwicklung des Einzelnen?
Muß nicht die Masse erdrückend wirken auf den Lehrer, der mit der besten
Absicht sein Erziehergeschüft beginnt? Und der Direktor? Muß er nicht im
Schreibwerk erstickend und im Berwaltnngsapparat untergehend auf alles das
verzichten, was so recht seines Amtes wäre? Einstimmig dürfte allen Ein¬
sichtigen feststehen, daß, je kleiner der Umfang der Schule ist, je mehr sie den
Familiencharakter festzuhalten vermag, umso günstiger die Bedingungen für
die erzieherische Einwirkung auf das heranwachsende Geschlecht sind. Warum
zerlegt man nicht die Schulkasernen, die der Erziehung so schwere Hindernisse
bereiten? Die Frage ist leicht gestellt und leicht -- beantwortet. Weil hier
finanzielle Gründe schwer ins Gewicht fallen, so schwer, daß man voraus¬
sichtlich noch lange Zeit bei dem Kasernensystem bleiben wird, obwohl es in
der Erziehung das schlechteste ist, das es giebt.

Endlich ist noch ans eine Gefahr hinzuweisen, die darin besteht, daß Schul¬
bücher, für die Kadettenanstalten geschrieben und bestimmt, Eingang in unsre
höhern Schulen gewinnen. Hierüber ein andermal, da dieser Punkt einer
eignen Untersuchung wert erscheint.

In weiten Kreisen ist das Gefühl herrschend, als ob sich unser nationales
Leben zwar äußerlich betrachtet vervollkommnet habe, innerlich aber einer
gewissen Verflachung verfallen sei. Nach der Erreichung heiß ersehnter Ziele
ist dies vielleicht eine notwendige Stufe der Entwicklung, bis sich der Blick
der Nation auf neue Ideale richtet, wie z. B. auf den Zusammenschluß der


Militarismus und Schulerziehung

sogenannten Originale unter den Lehrern nicht gerade selten waren, was schon
die reiche Zahl der Schulgeschichten beweist, die sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht forterbten, so herrscht heutzutage unter den Jüngern eine gewisse Uni-
formitüt im Auftreten; der ganze Schnitt ist auffallend gleich, der Durch¬
schnitt gegen früher vielleicht höher, aber doch mit gewissen Schattenseiten
verbunden. In der Zeit der Lehreroriginale war das Leben und Treiben der
Gymnasiasten ohne Zweifel freier, der selbstgewühlteu Beschäftigung günstiger,
als heute, wo die stete Aufsicht von oben ein zeitweiliges Ausruhen, ja viel¬
leicht auch Sichgehenlassen gar nicht aufkommen läßt, wo das Durchschnitts¬
wissen der Schüler zwar gestiegen, aber ihre Selbstthütigkeit zurückgegangen
ist infolge des Drills, der vielfach vom Exerzirvlatz, wo er durchaus am Platz
ist, in unsre Schulen gewandert ist, wo er nur Schaden stiften kann.

Und auch rein äußerlich genommen dürfte der üble Einfluß des Mili¬
tarismus auf die Schulerziehung zu Tage treten, nämlich in den Schulkasernen.
Auch diese sind ein Zeichen der Zeit. Die alten Gymnasien mit ihren neunzig
bis hundert Schülern dürften heutzutage sehr selten geworden sein. Und doch,
wie günstig waren sie der Erziehung, dem liebevollen Eingehen auf das
Wachsen und Erstarken der einzelnen Schüler. Und jetzt? Zu welchen Kolossen
sind viele Gymnasien, namentlich in den größern Städten, angewachsen! Wo
bleibt dn die erzieherische Einwirkung auf die Entwicklung des Einzelnen?
Muß nicht die Masse erdrückend wirken auf den Lehrer, der mit der besten
Absicht sein Erziehergeschüft beginnt? Und der Direktor? Muß er nicht im
Schreibwerk erstickend und im Berwaltnngsapparat untergehend auf alles das
verzichten, was so recht seines Amtes wäre? Einstimmig dürfte allen Ein¬
sichtigen feststehen, daß, je kleiner der Umfang der Schule ist, je mehr sie den
Familiencharakter festzuhalten vermag, umso günstiger die Bedingungen für
die erzieherische Einwirkung auf das heranwachsende Geschlecht sind. Warum
zerlegt man nicht die Schulkasernen, die der Erziehung so schwere Hindernisse
bereiten? Die Frage ist leicht gestellt und leicht — beantwortet. Weil hier
finanzielle Gründe schwer ins Gewicht fallen, so schwer, daß man voraus¬
sichtlich noch lange Zeit bei dem Kasernensystem bleiben wird, obwohl es in
der Erziehung das schlechteste ist, das es giebt.

Endlich ist noch ans eine Gefahr hinzuweisen, die darin besteht, daß Schul¬
bücher, für die Kadettenanstalten geschrieben und bestimmt, Eingang in unsre
höhern Schulen gewinnen. Hierüber ein andermal, da dieser Punkt einer
eignen Untersuchung wert erscheint.

In weiten Kreisen ist das Gefühl herrschend, als ob sich unser nationales
Leben zwar äußerlich betrachtet vervollkommnet habe, innerlich aber einer
gewissen Verflachung verfallen sei. Nach der Erreichung heiß ersehnter Ziele
ist dies vielleicht eine notwendige Stufe der Entwicklung, bis sich der Blick
der Nation auf neue Ideale richtet, wie z. B. auf den Zusammenschluß der


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[0302] Militarismus und Schulerziehung sogenannten Originale unter den Lehrern nicht gerade selten waren, was schon die reiche Zahl der Schulgeschichten beweist, die sich von Geschlecht zu Ge¬ schlecht forterbten, so herrscht heutzutage unter den Jüngern eine gewisse Uni- formitüt im Auftreten; der ganze Schnitt ist auffallend gleich, der Durch¬ schnitt gegen früher vielleicht höher, aber doch mit gewissen Schattenseiten verbunden. In der Zeit der Lehreroriginale war das Leben und Treiben der Gymnasiasten ohne Zweifel freier, der selbstgewühlteu Beschäftigung günstiger, als heute, wo die stete Aufsicht von oben ein zeitweiliges Ausruhen, ja viel¬ leicht auch Sichgehenlassen gar nicht aufkommen läßt, wo das Durchschnitts¬ wissen der Schüler zwar gestiegen, aber ihre Selbstthütigkeit zurückgegangen ist infolge des Drills, der vielfach vom Exerzirvlatz, wo er durchaus am Platz ist, in unsre Schulen gewandert ist, wo er nur Schaden stiften kann. Und auch rein äußerlich genommen dürfte der üble Einfluß des Mili¬ tarismus auf die Schulerziehung zu Tage treten, nämlich in den Schulkasernen. Auch diese sind ein Zeichen der Zeit. Die alten Gymnasien mit ihren neunzig bis hundert Schülern dürften heutzutage sehr selten geworden sein. Und doch, wie günstig waren sie der Erziehung, dem liebevollen Eingehen auf das Wachsen und Erstarken der einzelnen Schüler. Und jetzt? Zu welchen Kolossen sind viele Gymnasien, namentlich in den größern Städten, angewachsen! Wo bleibt dn die erzieherische Einwirkung auf die Entwicklung des Einzelnen? Muß nicht die Masse erdrückend wirken auf den Lehrer, der mit der besten Absicht sein Erziehergeschüft beginnt? Und der Direktor? Muß er nicht im Schreibwerk erstickend und im Berwaltnngsapparat untergehend auf alles das verzichten, was so recht seines Amtes wäre? Einstimmig dürfte allen Ein¬ sichtigen feststehen, daß, je kleiner der Umfang der Schule ist, je mehr sie den Familiencharakter festzuhalten vermag, umso günstiger die Bedingungen für die erzieherische Einwirkung auf das heranwachsende Geschlecht sind. Warum zerlegt man nicht die Schulkasernen, die der Erziehung so schwere Hindernisse bereiten? Die Frage ist leicht gestellt und leicht — beantwortet. Weil hier finanzielle Gründe schwer ins Gewicht fallen, so schwer, daß man voraus¬ sichtlich noch lange Zeit bei dem Kasernensystem bleiben wird, obwohl es in der Erziehung das schlechteste ist, das es giebt. Endlich ist noch ans eine Gefahr hinzuweisen, die darin besteht, daß Schul¬ bücher, für die Kadettenanstalten geschrieben und bestimmt, Eingang in unsre höhern Schulen gewinnen. Hierüber ein andermal, da dieser Punkt einer eignen Untersuchung wert erscheint. In weiten Kreisen ist das Gefühl herrschend, als ob sich unser nationales Leben zwar äußerlich betrachtet vervollkommnet habe, innerlich aber einer gewissen Verflachung verfallen sei. Nach der Erreichung heiß ersehnter Ziele ist dies vielleicht eine notwendige Stufe der Entwicklung, bis sich der Blick der Nation auf neue Ideale richtet, wie z. B. auf den Zusammenschluß der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/302>, abgerufen am 23.07.2024.