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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Militarismus und Schulerziehung

abhängig gemacht werden. Hiermit wird eine Ungleichheit beseitigt, welche
die Verbreitung der höhern Bürgerschulen hemmte, da deren Abiturienten bis¬
her allein, um den Befähigungsschein zu erlangen, eine volle Prüfung bestehen
mußten."

Also um den höhern Bürgerschulen aufzuhelfen, wird in die neunklassigen
Anstalten eine Prüfung nach Abschluß des sechsjährigen Kursus eingeschoben - -
ein Vorgeschmack der Abiturieutenprüfung. Wird diese neue Staatsaktion den
beabsichtigten Zweck erreichen? Wir glauben es nicht. Der Zweck könnte nur
erreicht werden, wenn der Berechtigungsschein mit dem Abgangszeugnis bei
Beendigung des ganzen neunjährigen Schulkursus eingehändigt würde. Denn
warum soll mau gerade die höhere Bürgerschule wählen, wenn der Berech¬
tigungsschein auch auf den Oberrealschuleu und den Gymnasien nach Be¬
endigung der ersten sechs Jahrgänge verabfolgt wird? Vor der Prüfung
fürchtet man sich nicht, da man in der Schule selbst ausrückt, mit den Gewohn¬
heiten der prüfenden Lehrer vertraut wird u. s. w.

Wo der Vorteil der neuen Einrichtung liegen soll, ist schlechterdings
nicht einzusehen. Aber wenn wirklich ein solcher gesunde,? werden könnte, so
müßte man doch auch die Nachteile in die Wagschale werfen, die das neue
Prüfen mit sich bringen wird, und dann unparteiisch abwägen. Wir sind
keinen Augenblick im Zweisel, wohin sich die Wagschale wenden würde.

Zunächst wieder eine neue Prüfung! Für Lehrer und Schüler eine neue
Qual, eine neue Fessel in diesem vielgeprüften Dasein! Kürzlich geberdeten sich
deutsche Zeitungen sehr entrüstet über eine Nachricht aus Peking, wonach
die mandschurischen und chinesischen Vizepräsidenten in Ministerien u. s. w.
nach so und so viel Prüfungen sich einem abermaligen Examen unterwerfen
sollen, um darin auf ihre Verwendung als Examinatoren hin untersucht zu
werden. Die Entrüstung war voreilig und pharisäisch dazu. Wir sind ja
selbst auf dem besten Wege dahin!

Sodann wird der neunjährige Kursus, der in sich abgeschlossen auf einem
einheitlich aufgebauten Lehrplan ruht, zerrissen in zwei Teile: in einen sechs¬
jährigen Unterbau, der nun für sich ein Ganzes bilden soll -- ob er es kann,
ist eine andre Frage; denn wie steht es mit Deutsch, Latein, Griechisch und
Französisch nach sechsjährigem Kursus im Gymnasium? --, und in einen drei¬
jährigen Oberbau. Dazwischen die Militärprüfung. Wie kommt diese Scheide¬
wand in unsre neunjährigen Bildungsanstalten hinein? Nur eine Antwort ist
zu finden: durch ein Machtwort des Militarismus. Und welche Ungleichheit
in der Schülerzahl der beiden Kurse! Unten der Überfluß -- oben die Schwind¬
sucht. Die Gymnasien seufzten bekanntlich bisher unter der Last der Schüler,
die nur die Berechtigung zum Einjährigen erhitzen wollten. Diese kamen in
die gelehrte Schule hinein, um etwas höchst Triviales zu ergattern -- einen
Schein. Und dies wird künftig durch eine Staatsaktion noch sanktionirt.


Militarismus und Schulerziehung

abhängig gemacht werden. Hiermit wird eine Ungleichheit beseitigt, welche
die Verbreitung der höhern Bürgerschulen hemmte, da deren Abiturienten bis¬
her allein, um den Befähigungsschein zu erlangen, eine volle Prüfung bestehen
mußten."

Also um den höhern Bürgerschulen aufzuhelfen, wird in die neunklassigen
Anstalten eine Prüfung nach Abschluß des sechsjährigen Kursus eingeschoben - -
ein Vorgeschmack der Abiturieutenprüfung. Wird diese neue Staatsaktion den
beabsichtigten Zweck erreichen? Wir glauben es nicht. Der Zweck könnte nur
erreicht werden, wenn der Berechtigungsschein mit dem Abgangszeugnis bei
Beendigung des ganzen neunjährigen Schulkursus eingehändigt würde. Denn
warum soll mau gerade die höhere Bürgerschule wählen, wenn der Berech¬
tigungsschein auch auf den Oberrealschuleu und den Gymnasien nach Be¬
endigung der ersten sechs Jahrgänge verabfolgt wird? Vor der Prüfung
fürchtet man sich nicht, da man in der Schule selbst ausrückt, mit den Gewohn¬
heiten der prüfenden Lehrer vertraut wird u. s. w.

Wo der Vorteil der neuen Einrichtung liegen soll, ist schlechterdings
nicht einzusehen. Aber wenn wirklich ein solcher gesunde,? werden könnte, so
müßte man doch auch die Nachteile in die Wagschale werfen, die das neue
Prüfen mit sich bringen wird, und dann unparteiisch abwägen. Wir sind
keinen Augenblick im Zweisel, wohin sich die Wagschale wenden würde.

Zunächst wieder eine neue Prüfung! Für Lehrer und Schüler eine neue
Qual, eine neue Fessel in diesem vielgeprüften Dasein! Kürzlich geberdeten sich
deutsche Zeitungen sehr entrüstet über eine Nachricht aus Peking, wonach
die mandschurischen und chinesischen Vizepräsidenten in Ministerien u. s. w.
nach so und so viel Prüfungen sich einem abermaligen Examen unterwerfen
sollen, um darin auf ihre Verwendung als Examinatoren hin untersucht zu
werden. Die Entrüstung war voreilig und pharisäisch dazu. Wir sind ja
selbst auf dem besten Wege dahin!

Sodann wird der neunjährige Kursus, der in sich abgeschlossen auf einem
einheitlich aufgebauten Lehrplan ruht, zerrissen in zwei Teile: in einen sechs¬
jährigen Unterbau, der nun für sich ein Ganzes bilden soll — ob er es kann,
ist eine andre Frage; denn wie steht es mit Deutsch, Latein, Griechisch und
Französisch nach sechsjährigem Kursus im Gymnasium? —, und in einen drei¬
jährigen Oberbau. Dazwischen die Militärprüfung. Wie kommt diese Scheide¬
wand in unsre neunjährigen Bildungsanstalten hinein? Nur eine Antwort ist
zu finden: durch ein Machtwort des Militarismus. Und welche Ungleichheit
in der Schülerzahl der beiden Kurse! Unten der Überfluß — oben die Schwind¬
sucht. Die Gymnasien seufzten bekanntlich bisher unter der Last der Schüler,
die nur die Berechtigung zum Einjährigen erhitzen wollten. Diese kamen in
die gelehrte Schule hinein, um etwas höchst Triviales zu ergattern — einen
Schein. Und dies wird künftig durch eine Staatsaktion noch sanktionirt.


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[0300] Militarismus und Schulerziehung abhängig gemacht werden. Hiermit wird eine Ungleichheit beseitigt, welche die Verbreitung der höhern Bürgerschulen hemmte, da deren Abiturienten bis¬ her allein, um den Befähigungsschein zu erlangen, eine volle Prüfung bestehen mußten." Also um den höhern Bürgerschulen aufzuhelfen, wird in die neunklassigen Anstalten eine Prüfung nach Abschluß des sechsjährigen Kursus eingeschoben - - ein Vorgeschmack der Abiturieutenprüfung. Wird diese neue Staatsaktion den beabsichtigten Zweck erreichen? Wir glauben es nicht. Der Zweck könnte nur erreicht werden, wenn der Berechtigungsschein mit dem Abgangszeugnis bei Beendigung des ganzen neunjährigen Schulkursus eingehändigt würde. Denn warum soll mau gerade die höhere Bürgerschule wählen, wenn der Berech¬ tigungsschein auch auf den Oberrealschuleu und den Gymnasien nach Be¬ endigung der ersten sechs Jahrgänge verabfolgt wird? Vor der Prüfung fürchtet man sich nicht, da man in der Schule selbst ausrückt, mit den Gewohn¬ heiten der prüfenden Lehrer vertraut wird u. s. w. Wo der Vorteil der neuen Einrichtung liegen soll, ist schlechterdings nicht einzusehen. Aber wenn wirklich ein solcher gesunde,? werden könnte, so müßte man doch auch die Nachteile in die Wagschale werfen, die das neue Prüfen mit sich bringen wird, und dann unparteiisch abwägen. Wir sind keinen Augenblick im Zweisel, wohin sich die Wagschale wenden würde. Zunächst wieder eine neue Prüfung! Für Lehrer und Schüler eine neue Qual, eine neue Fessel in diesem vielgeprüften Dasein! Kürzlich geberdeten sich deutsche Zeitungen sehr entrüstet über eine Nachricht aus Peking, wonach die mandschurischen und chinesischen Vizepräsidenten in Ministerien u. s. w. nach so und so viel Prüfungen sich einem abermaligen Examen unterwerfen sollen, um darin auf ihre Verwendung als Examinatoren hin untersucht zu werden. Die Entrüstung war voreilig und pharisäisch dazu. Wir sind ja selbst auf dem besten Wege dahin! Sodann wird der neunjährige Kursus, der in sich abgeschlossen auf einem einheitlich aufgebauten Lehrplan ruht, zerrissen in zwei Teile: in einen sechs¬ jährigen Unterbau, der nun für sich ein Ganzes bilden soll — ob er es kann, ist eine andre Frage; denn wie steht es mit Deutsch, Latein, Griechisch und Französisch nach sechsjährigem Kursus im Gymnasium? —, und in einen drei¬ jährigen Oberbau. Dazwischen die Militärprüfung. Wie kommt diese Scheide¬ wand in unsre neunjährigen Bildungsanstalten hinein? Nur eine Antwort ist zu finden: durch ein Machtwort des Militarismus. Und welche Ungleichheit in der Schülerzahl der beiden Kurse! Unten der Überfluß — oben die Schwind¬ sucht. Die Gymnasien seufzten bekanntlich bisher unter der Last der Schüler, die nur die Berechtigung zum Einjährigen erhitzen wollten. Diese kamen in die gelehrte Schule hinein, um etwas höchst Triviales zu ergattern — einen Schein. Und dies wird künftig durch eine Staatsaktion noch sanktionirt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/300>, abgerufen am 26.08.2024.