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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Aus dänischer Zeit

voran. Sie hat verstimmte Blechinstrumente wie ehemals, und der Stadt¬
musikus, eine Trompete am Munde, versucht mit den ausschreitenden Beinen
den Takt anzugeben -- gerade so wie damals. Aber es ist nicht derselbe
Stadtmusikus.

Steinberg, so hieß der frühere, ging immer allein seine Straße. Er war
ein großer, magerer Mann mit blassem. Gesicht und langen, weißen Haaren.
Vor vielen Jahren, so sagten die Leute, war er in das Städtchen gekommen
mit drei Kindern und einer todkranken Frau. Die Frau war bald gestorben,
und die großen, recht alt aussehenden Tochter hielten nun ein Stickereigeschäft
und klagten viel und laut über die schlechten Zeiten und über ihren Vater,
der nichts verdiene. Viel war es gewiß nicht, was die Musik abwarf. Hier
und dort eine Sonntagstanzmusik, ein Jahrmarktsball oder eine Beerdigung --
das war alles, und das war eigentlich sehr wenig; denn nur sehr reiche
Leute ließen ihre Angehörigen unter Choralbegleitnng in die Erde senken.
So war es denn gewiß begreiflich, daß der Stadtmusikus jahraus jahrein
denselben verschossenen braunen Rock trug und nnr mühsam sein kärgliches
Dasein fristete. Seine Tochter schalten oft über ihn und seine brodlose Kunst.
Das käme davon, wenn man den ganzen Tag über den Noten säße und an
Klavier klimperte. Früher hätte ihr Vater einmal eine reiche Witwe heiraten
können; aber er Hütte nicht gewollt, weil sie lahm gewesen sei, und nnn wäre
sein Glück verscherzt. So berichteten die Mamsellen Steinberg jeden:, der bei
ihnen ein Strähnchen Wolle oder bunte Glasperlen holte, und alle kamen
darin überein, daß der Stadtmusikus eigentlich ein Rabenvater sei, der nicht
verdiene, daß seine Töchter bei ihm blieben.

Sie thaten es auch nicht: eines Tages reisten sie nach Amerika, ohne
vorher groß Abschied genommen zu haben. Sie gingen zu ihrem Bruder, der
schon vor längerer Zeit ausgewandert war, und Steinberg blieb allein. Weil
doch nun jemand für ihn sorgen mußte, so suchte er eine Haushälterin. Aber
er fand keine, sie wollten alle Geld und gutes Leben haben, und das konnte
er ihnen nicht bieten.

Wir Kinder sprachen auch über diesen Fall; denn wir kannten Steinberg
gut, und es that uns leid, daß ihm niemand sein Essen kochen wollte. Wenn
er bei uus im Hause oder bei Großvater das Klavier stimmte, dann standen
wir um ihn herum und baten ihn, daß er uns etwas Schönes vorspielte. Er
that es nicht oft; manchmal aber glitten seine Finger über die Tasten, und
dann stieg eine süße, kleine Melodie aus ihnen auf. Es war immer dieselbe
Melodie, an eine andre konnte er wahrscheinlich nicht denken; wir waren sehr
zufrieden mit ihr, und jedesmal, wenn Steinberg erschien, hieß es: "Aber nicht
wahr, du spielst uns nachher dein Stück?"

Es war an einem heißen Sommertage. Ich sollte mit Jürgen die
Ouvertüre zur ,,Martha" vierbändig spielen. Selbstverständlich war es eine


Aus dänischer Zeit

voran. Sie hat verstimmte Blechinstrumente wie ehemals, und der Stadt¬
musikus, eine Trompete am Munde, versucht mit den ausschreitenden Beinen
den Takt anzugeben — gerade so wie damals. Aber es ist nicht derselbe
Stadtmusikus.

Steinberg, so hieß der frühere, ging immer allein seine Straße. Er war
ein großer, magerer Mann mit blassem. Gesicht und langen, weißen Haaren.
Vor vielen Jahren, so sagten die Leute, war er in das Städtchen gekommen
mit drei Kindern und einer todkranken Frau. Die Frau war bald gestorben,
und die großen, recht alt aussehenden Tochter hielten nun ein Stickereigeschäft
und klagten viel und laut über die schlechten Zeiten und über ihren Vater,
der nichts verdiene. Viel war es gewiß nicht, was die Musik abwarf. Hier
und dort eine Sonntagstanzmusik, ein Jahrmarktsball oder eine Beerdigung —
das war alles, und das war eigentlich sehr wenig; denn nur sehr reiche
Leute ließen ihre Angehörigen unter Choralbegleitnng in die Erde senken.
So war es denn gewiß begreiflich, daß der Stadtmusikus jahraus jahrein
denselben verschossenen braunen Rock trug und nnr mühsam sein kärgliches
Dasein fristete. Seine Tochter schalten oft über ihn und seine brodlose Kunst.
Das käme davon, wenn man den ganzen Tag über den Noten säße und an
Klavier klimperte. Früher hätte ihr Vater einmal eine reiche Witwe heiraten
können; aber er Hütte nicht gewollt, weil sie lahm gewesen sei, und nnn wäre
sein Glück verscherzt. So berichteten die Mamsellen Steinberg jeden:, der bei
ihnen ein Strähnchen Wolle oder bunte Glasperlen holte, und alle kamen
darin überein, daß der Stadtmusikus eigentlich ein Rabenvater sei, der nicht
verdiene, daß seine Töchter bei ihm blieben.

Sie thaten es auch nicht: eines Tages reisten sie nach Amerika, ohne
vorher groß Abschied genommen zu haben. Sie gingen zu ihrem Bruder, der
schon vor längerer Zeit ausgewandert war, und Steinberg blieb allein. Weil
doch nun jemand für ihn sorgen mußte, so suchte er eine Haushälterin. Aber
er fand keine, sie wollten alle Geld und gutes Leben haben, und das konnte
er ihnen nicht bieten.

Wir Kinder sprachen auch über diesen Fall; denn wir kannten Steinberg
gut, und es that uns leid, daß ihm niemand sein Essen kochen wollte. Wenn
er bei uus im Hause oder bei Großvater das Klavier stimmte, dann standen
wir um ihn herum und baten ihn, daß er uns etwas Schönes vorspielte. Er
that es nicht oft; manchmal aber glitten seine Finger über die Tasten, und
dann stieg eine süße, kleine Melodie aus ihnen auf. Es war immer dieselbe
Melodie, an eine andre konnte er wahrscheinlich nicht denken; wir waren sehr
zufrieden mit ihr, und jedesmal, wenn Steinberg erschien, hieß es: „Aber nicht
wahr, du spielst uns nachher dein Stück?"

Es war an einem heißen Sommertage. Ich sollte mit Jürgen die
Ouvertüre zur ,,Martha" vierbändig spielen. Selbstverständlich war es eine


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[0292] Aus dänischer Zeit voran. Sie hat verstimmte Blechinstrumente wie ehemals, und der Stadt¬ musikus, eine Trompete am Munde, versucht mit den ausschreitenden Beinen den Takt anzugeben — gerade so wie damals. Aber es ist nicht derselbe Stadtmusikus. Steinberg, so hieß der frühere, ging immer allein seine Straße. Er war ein großer, magerer Mann mit blassem. Gesicht und langen, weißen Haaren. Vor vielen Jahren, so sagten die Leute, war er in das Städtchen gekommen mit drei Kindern und einer todkranken Frau. Die Frau war bald gestorben, und die großen, recht alt aussehenden Tochter hielten nun ein Stickereigeschäft und klagten viel und laut über die schlechten Zeiten und über ihren Vater, der nichts verdiene. Viel war es gewiß nicht, was die Musik abwarf. Hier und dort eine Sonntagstanzmusik, ein Jahrmarktsball oder eine Beerdigung — das war alles, und das war eigentlich sehr wenig; denn nur sehr reiche Leute ließen ihre Angehörigen unter Choralbegleitnng in die Erde senken. So war es denn gewiß begreiflich, daß der Stadtmusikus jahraus jahrein denselben verschossenen braunen Rock trug und nnr mühsam sein kärgliches Dasein fristete. Seine Tochter schalten oft über ihn und seine brodlose Kunst. Das käme davon, wenn man den ganzen Tag über den Noten säße und an Klavier klimperte. Früher hätte ihr Vater einmal eine reiche Witwe heiraten können; aber er Hütte nicht gewollt, weil sie lahm gewesen sei, und nnn wäre sein Glück verscherzt. So berichteten die Mamsellen Steinberg jeden:, der bei ihnen ein Strähnchen Wolle oder bunte Glasperlen holte, und alle kamen darin überein, daß der Stadtmusikus eigentlich ein Rabenvater sei, der nicht verdiene, daß seine Töchter bei ihm blieben. Sie thaten es auch nicht: eines Tages reisten sie nach Amerika, ohne vorher groß Abschied genommen zu haben. Sie gingen zu ihrem Bruder, der schon vor längerer Zeit ausgewandert war, und Steinberg blieb allein. Weil doch nun jemand für ihn sorgen mußte, so suchte er eine Haushälterin. Aber er fand keine, sie wollten alle Geld und gutes Leben haben, und das konnte er ihnen nicht bieten. Wir Kinder sprachen auch über diesen Fall; denn wir kannten Steinberg gut, und es that uns leid, daß ihm niemand sein Essen kochen wollte. Wenn er bei uus im Hause oder bei Großvater das Klavier stimmte, dann standen wir um ihn herum und baten ihn, daß er uns etwas Schönes vorspielte. Er that es nicht oft; manchmal aber glitten seine Finger über die Tasten, und dann stieg eine süße, kleine Melodie aus ihnen auf. Es war immer dieselbe Melodie, an eine andre konnte er wahrscheinlich nicht denken; wir waren sehr zufrieden mit ihr, und jedesmal, wenn Steinberg erschien, hieß es: „Aber nicht wahr, du spielst uns nachher dein Stück?" Es war an einem heißen Sommertage. Ich sollte mit Jürgen die Ouvertüre zur ,,Martha" vierbändig spielen. Selbstverständlich war es eine

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/292>, abgerufen am 23.07.2024.