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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Daher kommt es, daß unsre Literarhistoriker aus der beständig wachsenden
Menge mühevoller Monographien, die jahraus jahrein aus allen Richtungen
auf sie einstürmen, so blutwenig für ihre Zwecke verwerten können, und daß
viele Litteraturgeschichten, die sich auf derartige kleingeistige Untersuchungen
aufbauen, im Grunde weiter nichts sind, als Sammlungen lose aneinander
gereihter bibliographischer und biographischer Sonderarbeiten oder Ablage¬
rungsstätten für alle möglichen philologischen Daten, und Tummelplätze für
gelehrte Turniere, über die der eigentliche Gegenstand der Arbeit oft völlig
vergessen wird.

Die Bezeichnung "Geschichte" dürften derartige Werke gar nicht führen,
denn von einer innern, in pragmatischen Zusammenhang stehenden, wirklich
geschichtlichen Entwicklung der Litteratur, d. h. der dichterische" Formen, des
Stils, der Dichtuugsnrteu, der Stoffe, der Ideen, ist oft gar keine Rede. Die
meisten Litteraturgeschichten dieser Art sind überhaupt keine "Geschichte,"
sondern lediglich Chroniken oder bloße Wörterbücher, worin man die Namen
nicht alphabetisch, sondern chronologisch geordnet hat.

So wenig man den künstlerischen Wert eines Gemäldes, seine Entstehung,
seinen Rang und seinen Einfluß in der Kunstgeschichte dadurch erkennt, daß
man die Leinwand, den Rahmen, die Farben und andre Äußerlichkeiten mikro¬
skopisch prüft und studirt, so wenig dringt man in das Wesen eines poetischen
Werkes, in seine litterargeschichtliche Bedeutung, seinen Ursprung und seine
innern Beziehungen zu dem Geistesleben seiner und der kommenden Zeiten
mit dein ganzen als "wissenschaftlich" so hoch gepriesenen Apparat von biblio¬
graphischen, textkritischen und philologischen Notizen. Gegen die Anschauung,
daß Litteraturgeschichte und Philologie unbedingt zusammengehörten, und daß
nur der Philolog in den Sinn eines Litteraturwerkes so vollkommen eindringe,
daß er ihm die gebührende Stelle unter den litterarischen Leistungen eines
Volkes, einer Zeit anweisen könne, erheben sich die Stimmen immer lauter.
So sagt der Straßburger Dozent W. Wetz in seinem lehrreichen Werke
"Shakespeare vom Standpunkte der vergleichenden Litteraturgeschichte" (Worms,
18W): "Es will uns überhaupt bedünken, als ob man bei uns geflissentlich
die Augen schließe gegen die mancherlei Nachteile, welche die große Aus¬
dehnung und Wertschätzung philologischer Studien im Gefolge haben. Und
doch kann nur die stärkste Voreingenommenheit sie, besonders auf litterarischem
Gebiete, verkennen wollen. Wie häufig ist die Scheu, an die Dinge selber
hinanzntreten, während man dafür die Ansichten über sie studirt, die Ver¬
trautheit mit der Entstehungsgeschichte des "Werther" und "Faust" statt mit
diesen Werken selber; wie unzühligemale vertritt das Studium der Litteratur¬
geschichten das der Litteratur -- und welcher Litteraturgeschichten! Und damit
kein Zug in dem Bilde fehle -- wie vornehm blickt man auf den herab, der
im si. in dem^ Bewußtsein, wie wertlos, ja trügerisch und irreführend diese


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

Daher kommt es, daß unsre Literarhistoriker aus der beständig wachsenden
Menge mühevoller Monographien, die jahraus jahrein aus allen Richtungen
auf sie einstürmen, so blutwenig für ihre Zwecke verwerten können, und daß
viele Litteraturgeschichten, die sich auf derartige kleingeistige Untersuchungen
aufbauen, im Grunde weiter nichts sind, als Sammlungen lose aneinander
gereihter bibliographischer und biographischer Sonderarbeiten oder Ablage¬
rungsstätten für alle möglichen philologischen Daten, und Tummelplätze für
gelehrte Turniere, über die der eigentliche Gegenstand der Arbeit oft völlig
vergessen wird.

Die Bezeichnung „Geschichte" dürften derartige Werke gar nicht führen,
denn von einer innern, in pragmatischen Zusammenhang stehenden, wirklich
geschichtlichen Entwicklung der Litteratur, d. h. der dichterische» Formen, des
Stils, der Dichtuugsnrteu, der Stoffe, der Ideen, ist oft gar keine Rede. Die
meisten Litteraturgeschichten dieser Art sind überhaupt keine „Geschichte,"
sondern lediglich Chroniken oder bloße Wörterbücher, worin man die Namen
nicht alphabetisch, sondern chronologisch geordnet hat.

So wenig man den künstlerischen Wert eines Gemäldes, seine Entstehung,
seinen Rang und seinen Einfluß in der Kunstgeschichte dadurch erkennt, daß
man die Leinwand, den Rahmen, die Farben und andre Äußerlichkeiten mikro¬
skopisch prüft und studirt, so wenig dringt man in das Wesen eines poetischen
Werkes, in seine litterargeschichtliche Bedeutung, seinen Ursprung und seine
innern Beziehungen zu dem Geistesleben seiner und der kommenden Zeiten
mit dein ganzen als „wissenschaftlich" so hoch gepriesenen Apparat von biblio¬
graphischen, textkritischen und philologischen Notizen. Gegen die Anschauung,
daß Litteraturgeschichte und Philologie unbedingt zusammengehörten, und daß
nur der Philolog in den Sinn eines Litteraturwerkes so vollkommen eindringe,
daß er ihm die gebührende Stelle unter den litterarischen Leistungen eines
Volkes, einer Zeit anweisen könne, erheben sich die Stimmen immer lauter.
So sagt der Straßburger Dozent W. Wetz in seinem lehrreichen Werke
„Shakespeare vom Standpunkte der vergleichenden Litteraturgeschichte" (Worms,
18W): „Es will uns überhaupt bedünken, als ob man bei uns geflissentlich
die Augen schließe gegen die mancherlei Nachteile, welche die große Aus¬
dehnung und Wertschätzung philologischer Studien im Gefolge haben. Und
doch kann nur die stärkste Voreingenommenheit sie, besonders auf litterarischem
Gebiete, verkennen wollen. Wie häufig ist die Scheu, an die Dinge selber
hinanzntreten, während man dafür die Ansichten über sie studirt, die Ver¬
trautheit mit der Entstehungsgeschichte des »Werther« und »Faust« statt mit
diesen Werken selber; wie unzühligemale vertritt das Studium der Litteratur¬
geschichten das der Litteratur — und welcher Litteraturgeschichten! Und damit
kein Zug in dem Bilde fehle — wie vornehm blickt man auf den herab, der
im si. in dem^ Bewußtsein, wie wertlos, ja trügerisch und irreführend diese


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/270>, abgerufen am 26.08.2024.