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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

seinen auffallenden Mangel an ästhetischem Urteil, an kritischem Geist und
litterarischem Verständnis aufzufinden, einen Mangel, den es nicht nnr im
Theater, in den Kunstausstellungen, im Konzertsaal und selbst bei der Aus¬
wahl seiner Zeitungen und Familienjonrnale verrät, sondern auch überall da,
wo von einer lärmschlagenden Clique irgend eine aufgebauschte Tagesgröße
auf den Schild litterarischen oder künstlerischen Ruhmes gehoben wird. Man
möchte fast glauben, daß die Durchschnittsbildung der Stände, die früher die
Träger und Pfleger des geistigen Lebens waren, trotz aller Gelehrsamkeit be¬
deutend gesunken sei, und daß weder die Schulen noch die Universitäten im
Laufe der letzten Jahrzehnte dazu beigetragen haben, unter den sogenannten
Gebildeten eine dauernde Teilnahme für litterarische Dinge wachzurufen und
einen gesunden Geschmack und ein vernünftiges Urteil zu verbreiten. Einen
großen Teil der Schuld tragen freilich die Literarhistoriker selbst, denn
nirgends herrscht eine solche Uneinigkeit und Ziellosigkeit, wie auf dem Gebiete
der Litteraturgeschichte. Selbst über ihr Wesen und ihre Aufgabe ist man in
den berufenen Kreisen noch lange nicht einig. Nicht weniger als vier Rich¬
tungen laufen gegenwärtig dnrch einander und verwirren oder bekämpfen sich:
die philologisch-antiquarische, die hauptsächlich auf den Universitäten betrieben
wird und sich in Wesen, Ton und Haltung zum großen Teil an Scherer und
Eltze anschließt; die kulturgeschichtlich-analytische, die in Gervinus ihr Vor¬
bild anerkennt und neuerdings in den materialistischen Determinismus Taines
ausläuft; drittens die christlich-moralisirende Litteraturbetrachtnng, die sich an
Vilmar anlehnt; viertens die ästhetisch-dogmatische Richtung, die auf die Ästhe¬
tiker der Hegelschen Schule zurückgeht. Alle Grundrisse und Leitfäden, die
sich noch über eine bloße Berichterstattung, über trockene Inhaltsangaben und
bibliographische Anmerkungen erheben und einen innern Plan zu erkennen
geben, lassen sich nach diesen vier Richtungen gruppiren.

Der Gedanke, daß man kein wahres Kunstwerk mühelos genießen könne,
daß sich jedermann die volle Erkenntnis erst geistig erarbeiten müsse, hat in
den letzten Jahren überall auf den Gebieten der Kunst- und Litteraturwissen¬
schaft eine unabsehbare Fülle von Einzelforschungen hervorgerufen. Aber
dieses Prinzip der Arbeitsteilung und der festen Stvffbegrenzung, dem manche
Wissenschaften, z. B. die Philologie und die Chemie, eine große Zahl wert¬
voller Ergebnisse verdauten, ist für die Litteraturgesch, ste mit große" Gefahren
verknüpft; denn hier, wo es sich vor allen Dingen um die fortlaufende, un¬
unterbrochene Entwicklung dichterischer Formen und Ideen handelt, nnr den
rastlosen, bald mächtig vorwärtsstrebender, bald behaglich dahinziehenden
Strom der schöpferischen Phantasie, der aus unzähligen alten und neuen
Quellen des innern und äußern Lebens immer wieder frische Nahrung erhält,
läßt sich eine einzelne Periode oder gar eine einzelne litterarische Erscheinung
nicht als ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Arbeitsfeld herausschneiden.


Die Aufgabe der Litteraturgeschichte

seinen auffallenden Mangel an ästhetischem Urteil, an kritischem Geist und
litterarischem Verständnis aufzufinden, einen Mangel, den es nicht nnr im
Theater, in den Kunstausstellungen, im Konzertsaal und selbst bei der Aus¬
wahl seiner Zeitungen und Familienjonrnale verrät, sondern auch überall da,
wo von einer lärmschlagenden Clique irgend eine aufgebauschte Tagesgröße
auf den Schild litterarischen oder künstlerischen Ruhmes gehoben wird. Man
möchte fast glauben, daß die Durchschnittsbildung der Stände, die früher die
Träger und Pfleger des geistigen Lebens waren, trotz aller Gelehrsamkeit be¬
deutend gesunken sei, und daß weder die Schulen noch die Universitäten im
Laufe der letzten Jahrzehnte dazu beigetragen haben, unter den sogenannten
Gebildeten eine dauernde Teilnahme für litterarische Dinge wachzurufen und
einen gesunden Geschmack und ein vernünftiges Urteil zu verbreiten. Einen
großen Teil der Schuld tragen freilich die Literarhistoriker selbst, denn
nirgends herrscht eine solche Uneinigkeit und Ziellosigkeit, wie auf dem Gebiete
der Litteraturgeschichte. Selbst über ihr Wesen und ihre Aufgabe ist man in
den berufenen Kreisen noch lange nicht einig. Nicht weniger als vier Rich¬
tungen laufen gegenwärtig dnrch einander und verwirren oder bekämpfen sich:
die philologisch-antiquarische, die hauptsächlich auf den Universitäten betrieben
wird und sich in Wesen, Ton und Haltung zum großen Teil an Scherer und
Eltze anschließt; die kulturgeschichtlich-analytische, die in Gervinus ihr Vor¬
bild anerkennt und neuerdings in den materialistischen Determinismus Taines
ausläuft; drittens die christlich-moralisirende Litteraturbetrachtnng, die sich an
Vilmar anlehnt; viertens die ästhetisch-dogmatische Richtung, die auf die Ästhe¬
tiker der Hegelschen Schule zurückgeht. Alle Grundrisse und Leitfäden, die
sich noch über eine bloße Berichterstattung, über trockene Inhaltsangaben und
bibliographische Anmerkungen erheben und einen innern Plan zu erkennen
geben, lassen sich nach diesen vier Richtungen gruppiren.

Der Gedanke, daß man kein wahres Kunstwerk mühelos genießen könne,
daß sich jedermann die volle Erkenntnis erst geistig erarbeiten müsse, hat in
den letzten Jahren überall auf den Gebieten der Kunst- und Litteraturwissen¬
schaft eine unabsehbare Fülle von Einzelforschungen hervorgerufen. Aber
dieses Prinzip der Arbeitsteilung und der festen Stvffbegrenzung, dem manche
Wissenschaften, z. B. die Philologie und die Chemie, eine große Zahl wert¬
voller Ergebnisse verdauten, ist für die Litteraturgesch, ste mit große» Gefahren
verknüpft; denn hier, wo es sich vor allen Dingen um die fortlaufende, un¬
unterbrochene Entwicklung dichterischer Formen und Ideen handelt, nnr den
rastlosen, bald mächtig vorwärtsstrebender, bald behaglich dahinziehenden
Strom der schöpferischen Phantasie, der aus unzähligen alten und neuen
Quellen des innern und äußern Lebens immer wieder frische Nahrung erhält,
läßt sich eine einzelne Periode oder gar eine einzelne litterarische Erscheinung
nicht als ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Arbeitsfeld herausschneiden.


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[0269] Die Aufgabe der Litteraturgeschichte seinen auffallenden Mangel an ästhetischem Urteil, an kritischem Geist und litterarischem Verständnis aufzufinden, einen Mangel, den es nicht nnr im Theater, in den Kunstausstellungen, im Konzertsaal und selbst bei der Aus¬ wahl seiner Zeitungen und Familienjonrnale verrät, sondern auch überall da, wo von einer lärmschlagenden Clique irgend eine aufgebauschte Tagesgröße auf den Schild litterarischen oder künstlerischen Ruhmes gehoben wird. Man möchte fast glauben, daß die Durchschnittsbildung der Stände, die früher die Träger und Pfleger des geistigen Lebens waren, trotz aller Gelehrsamkeit be¬ deutend gesunken sei, und daß weder die Schulen noch die Universitäten im Laufe der letzten Jahrzehnte dazu beigetragen haben, unter den sogenannten Gebildeten eine dauernde Teilnahme für litterarische Dinge wachzurufen und einen gesunden Geschmack und ein vernünftiges Urteil zu verbreiten. Einen großen Teil der Schuld tragen freilich die Literarhistoriker selbst, denn nirgends herrscht eine solche Uneinigkeit und Ziellosigkeit, wie auf dem Gebiete der Litteraturgeschichte. Selbst über ihr Wesen und ihre Aufgabe ist man in den berufenen Kreisen noch lange nicht einig. Nicht weniger als vier Rich¬ tungen laufen gegenwärtig dnrch einander und verwirren oder bekämpfen sich: die philologisch-antiquarische, die hauptsächlich auf den Universitäten betrieben wird und sich in Wesen, Ton und Haltung zum großen Teil an Scherer und Eltze anschließt; die kulturgeschichtlich-analytische, die in Gervinus ihr Vor¬ bild anerkennt und neuerdings in den materialistischen Determinismus Taines ausläuft; drittens die christlich-moralisirende Litteraturbetrachtnng, die sich an Vilmar anlehnt; viertens die ästhetisch-dogmatische Richtung, die auf die Ästhe¬ tiker der Hegelschen Schule zurückgeht. Alle Grundrisse und Leitfäden, die sich noch über eine bloße Berichterstattung, über trockene Inhaltsangaben und bibliographische Anmerkungen erheben und einen innern Plan zu erkennen geben, lassen sich nach diesen vier Richtungen gruppiren. Der Gedanke, daß man kein wahres Kunstwerk mühelos genießen könne, daß sich jedermann die volle Erkenntnis erst geistig erarbeiten müsse, hat in den letzten Jahren überall auf den Gebieten der Kunst- und Litteraturwissen¬ schaft eine unabsehbare Fülle von Einzelforschungen hervorgerufen. Aber dieses Prinzip der Arbeitsteilung und der festen Stvffbegrenzung, dem manche Wissenschaften, z. B. die Philologie und die Chemie, eine große Zahl wert¬ voller Ergebnisse verdauten, ist für die Litteraturgesch, ste mit große» Gefahren verknüpft; denn hier, wo es sich vor allen Dingen um die fortlaufende, un¬ unterbrochene Entwicklung dichterischer Formen und Ideen handelt, nnr den rastlosen, bald mächtig vorwärtsstrebender, bald behaglich dahinziehenden Strom der schöpferischen Phantasie, der aus unzähligen alten und neuen Quellen des innern und äußern Lebens immer wieder frische Nahrung erhält, läßt sich eine einzelne Periode oder gar eine einzelne litterarische Erscheinung nicht als ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Arbeitsfeld herausschneiden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/269>, abgerufen am 23.07.2024.