Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zur deutschen Wirtschaftsgeschichte

Ferner findet schon in dem damaligen Gange der wirtschaftlichen Ent¬
wicklung jener Satz seine Rechtfertigung, dessen Übertreibung einen Angelpunkt
sowohl des manchesterlicheu wie des sozialdemokratischen Systems bildet: daß
ohne eine gewisse Konzentration des Betriebes kein wirtschaftlicher Fortschritt
möglich ist. Die Übertreibung liegt darin, daß unsre modernen Volkswirt¬
schaftslehrer der Ansicht zuneigen, die Konzentration müsse allgemein durch¬
geführt und der angeblich lebensunfähige Kleinbetrieb vom Großbetriebe voll¬
ständig verdrängt werden. Gerade in dem hier betrachteten Zeitraum findet
diese Ansicht ihre Widerlegung. Die großen Grundherrschaften lösen sich
wieder in kleinere Betriebe auf, deren Inhaber werden nach und nach frei,
und am Ende des zwölften Jahrhunderts befindet sich die Hauptmasse des be¬
bauten Landes in dem Besitz persönlich freier Bauern und kleiner Ritterguts¬
besitzer (ehemaliger Meier). Die Ergänzung jenes Satzes, daß nämlich die
Aufsaugung der vielen kleinen Betriebe durch wenige große die Knechtung der
Gemeinfreien zur unvermeidlichen Folge hat, hören die Liberalen nicht gern,
und wenn sie einmal nicht umhin können, sich damit zu befassen, so behaupten
sie, der Mann werde für den Verlust seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit
durch die Freizügigkeit und die sogenannte politische Freiheit reichlich ent¬
schädigt, obwohl diese für den Besitzlosen nur ein Sodomscipfel ist, der des
nährenden und wohlschmeckenden Inhalts gänzlich entbehrt. Die Sozialdemo-
kraten hingegen erkennen diese andre Hälfte des Satzes nicht allein an, sondern
legen das Hauptgewicht darauf und lehren, diese Sklaverei, die als unver¬
meidlicher Durchgangspunkt des wirtschaftlichen Fortschritts eine Zeit lang
habe ertragen werden müssen, werde, nachdem sie ihren Zweck erreicht habe,
dadurch ihr natürliches Ende finden, daß die hergestellten Großbetriebe von
den mündig gewordenen Arbeitern übernommen und auf deren Rechnung ge¬
nossenschaftlich weitergeführt würden. Diese Art Lösung kaun aber vermieden
werden, wenn die Dinge jenen weit natürlicheren Verlauf nehmen, wie bei der
mittelalterlichen Landwirtschaft, wo der wiederhergestellte Bauernstand mit den
im Großbetrieb errungenen technischen Vorteilen nicht "kollektivistisch", sondern
im Einzelbetrieb fortwirtschaftete. Übrigens fehlt in der nachkarolingischen
Periode den großen Herrschaften auch der hervorstechendste Zug des modernen
Großbetriebes nicht: das Streben nach Steigerung der Rente. Neue Unter¬
nehmungen, z. B. Rodungen, haben nicht mehr die Verwendung überschüssiger
Kräfte, sondern die Erhöhung der Einkünfte zum Zweck. Und mit diesem
Streben hält die wachsende Gleichgiltigkeit gegen das Gut und die Leute
darauf, die sich in dem häufiger werdenden Absentismus äußert, gleichen
Schritt: wenn nur reichliche Zinsen abfallen! Wie sie herausgeschlagen werden,
das kümmert den Rentenempfänger nicht.

Wenn sich das deutsche Volk durch alle diese Wandlungen hindurch seine
alte Kraft und Tüchtigkeit bewahrte und noch im sechzehnten Jahrhundert,


Grenzboten III 1891 33
Zur deutschen Wirtschaftsgeschichte

Ferner findet schon in dem damaligen Gange der wirtschaftlichen Ent¬
wicklung jener Satz seine Rechtfertigung, dessen Übertreibung einen Angelpunkt
sowohl des manchesterlicheu wie des sozialdemokratischen Systems bildet: daß
ohne eine gewisse Konzentration des Betriebes kein wirtschaftlicher Fortschritt
möglich ist. Die Übertreibung liegt darin, daß unsre modernen Volkswirt¬
schaftslehrer der Ansicht zuneigen, die Konzentration müsse allgemein durch¬
geführt und der angeblich lebensunfähige Kleinbetrieb vom Großbetriebe voll¬
ständig verdrängt werden. Gerade in dem hier betrachteten Zeitraum findet
diese Ansicht ihre Widerlegung. Die großen Grundherrschaften lösen sich
wieder in kleinere Betriebe auf, deren Inhaber werden nach und nach frei,
und am Ende des zwölften Jahrhunderts befindet sich die Hauptmasse des be¬
bauten Landes in dem Besitz persönlich freier Bauern und kleiner Ritterguts¬
besitzer (ehemaliger Meier). Die Ergänzung jenes Satzes, daß nämlich die
Aufsaugung der vielen kleinen Betriebe durch wenige große die Knechtung der
Gemeinfreien zur unvermeidlichen Folge hat, hören die Liberalen nicht gern,
und wenn sie einmal nicht umhin können, sich damit zu befassen, so behaupten
sie, der Mann werde für den Verlust seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit
durch die Freizügigkeit und die sogenannte politische Freiheit reichlich ent¬
schädigt, obwohl diese für den Besitzlosen nur ein Sodomscipfel ist, der des
nährenden und wohlschmeckenden Inhalts gänzlich entbehrt. Die Sozialdemo-
kraten hingegen erkennen diese andre Hälfte des Satzes nicht allein an, sondern
legen das Hauptgewicht darauf und lehren, diese Sklaverei, die als unver¬
meidlicher Durchgangspunkt des wirtschaftlichen Fortschritts eine Zeit lang
habe ertragen werden müssen, werde, nachdem sie ihren Zweck erreicht habe,
dadurch ihr natürliches Ende finden, daß die hergestellten Großbetriebe von
den mündig gewordenen Arbeitern übernommen und auf deren Rechnung ge¬
nossenschaftlich weitergeführt würden. Diese Art Lösung kaun aber vermieden
werden, wenn die Dinge jenen weit natürlicheren Verlauf nehmen, wie bei der
mittelalterlichen Landwirtschaft, wo der wiederhergestellte Bauernstand mit den
im Großbetrieb errungenen technischen Vorteilen nicht „kollektivistisch", sondern
im Einzelbetrieb fortwirtschaftete. Übrigens fehlt in der nachkarolingischen
Periode den großen Herrschaften auch der hervorstechendste Zug des modernen
Großbetriebes nicht: das Streben nach Steigerung der Rente. Neue Unter¬
nehmungen, z. B. Rodungen, haben nicht mehr die Verwendung überschüssiger
Kräfte, sondern die Erhöhung der Einkünfte zum Zweck. Und mit diesem
Streben hält die wachsende Gleichgiltigkeit gegen das Gut und die Leute
darauf, die sich in dem häufiger werdenden Absentismus äußert, gleichen
Schritt: wenn nur reichliche Zinsen abfallen! Wie sie herausgeschlagen werden,
das kümmert den Rentenempfänger nicht.

Wenn sich das deutsche Volk durch alle diese Wandlungen hindurch seine
alte Kraft und Tüchtigkeit bewahrte und noch im sechzehnten Jahrhundert,


Grenzboten III 1891 33
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0265" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/290033"/>
          <fw type="header" place="top"> Zur deutschen Wirtschaftsgeschichte</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_735"> Ferner findet schon in dem damaligen Gange der wirtschaftlichen Ent¬<lb/>
wicklung jener Satz seine Rechtfertigung, dessen Übertreibung einen Angelpunkt<lb/>
sowohl des manchesterlicheu wie des sozialdemokratischen Systems bildet: daß<lb/>
ohne eine gewisse Konzentration des Betriebes kein wirtschaftlicher Fortschritt<lb/>
möglich ist. Die Übertreibung liegt darin, daß unsre modernen Volkswirt¬<lb/>
schaftslehrer der Ansicht zuneigen, die Konzentration müsse allgemein durch¬<lb/>
geführt und der angeblich lebensunfähige Kleinbetrieb vom Großbetriebe voll¬<lb/>
ständig verdrängt werden. Gerade in dem hier betrachteten Zeitraum findet<lb/>
diese Ansicht ihre Widerlegung. Die großen Grundherrschaften lösen sich<lb/>
wieder in kleinere Betriebe auf, deren Inhaber werden nach und nach frei,<lb/>
und am Ende des zwölften Jahrhunderts befindet sich die Hauptmasse des be¬<lb/>
bauten Landes in dem Besitz persönlich freier Bauern und kleiner Ritterguts¬<lb/>
besitzer (ehemaliger Meier). Die Ergänzung jenes Satzes, daß nämlich die<lb/>
Aufsaugung der vielen kleinen Betriebe durch wenige große die Knechtung der<lb/>
Gemeinfreien zur unvermeidlichen Folge hat, hören die Liberalen nicht gern,<lb/>
und wenn sie einmal nicht umhin können, sich damit zu befassen, so behaupten<lb/>
sie, der Mann werde für den Verlust seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit<lb/>
durch die Freizügigkeit und die sogenannte politische Freiheit reichlich ent¬<lb/>
schädigt, obwohl diese für den Besitzlosen nur ein Sodomscipfel ist, der des<lb/>
nährenden und wohlschmeckenden Inhalts gänzlich entbehrt. Die Sozialdemo-<lb/>
kraten hingegen erkennen diese andre Hälfte des Satzes nicht allein an, sondern<lb/>
legen das Hauptgewicht darauf und lehren, diese Sklaverei, die als unver¬<lb/>
meidlicher Durchgangspunkt des wirtschaftlichen Fortschritts eine Zeit lang<lb/>
habe ertragen werden müssen, werde, nachdem sie ihren Zweck erreicht habe,<lb/>
dadurch ihr natürliches Ende finden, daß die hergestellten Großbetriebe von<lb/>
den mündig gewordenen Arbeitern übernommen und auf deren Rechnung ge¬<lb/>
nossenschaftlich weitergeführt würden. Diese Art Lösung kaun aber vermieden<lb/>
werden, wenn die Dinge jenen weit natürlicheren Verlauf nehmen, wie bei der<lb/>
mittelalterlichen Landwirtschaft, wo der wiederhergestellte Bauernstand mit den<lb/>
im Großbetrieb errungenen technischen Vorteilen nicht &#x201E;kollektivistisch", sondern<lb/>
im Einzelbetrieb fortwirtschaftete. Übrigens fehlt in der nachkarolingischen<lb/>
Periode den großen Herrschaften auch der hervorstechendste Zug des modernen<lb/>
Großbetriebes nicht: das Streben nach Steigerung der Rente. Neue Unter¬<lb/>
nehmungen, z. B. Rodungen, haben nicht mehr die Verwendung überschüssiger<lb/>
Kräfte, sondern die Erhöhung der Einkünfte zum Zweck. Und mit diesem<lb/>
Streben hält die wachsende Gleichgiltigkeit gegen das Gut und die Leute<lb/>
darauf, die sich in dem häufiger werdenden Absentismus äußert, gleichen<lb/>
Schritt: wenn nur reichliche Zinsen abfallen! Wie sie herausgeschlagen werden,<lb/>
das kümmert den Rentenempfänger nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_736" next="#ID_737"> Wenn sich das deutsche Volk durch alle diese Wandlungen hindurch seine<lb/>
alte Kraft und Tüchtigkeit bewahrte und noch im sechzehnten Jahrhundert,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1891 33</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0265] Zur deutschen Wirtschaftsgeschichte Ferner findet schon in dem damaligen Gange der wirtschaftlichen Ent¬ wicklung jener Satz seine Rechtfertigung, dessen Übertreibung einen Angelpunkt sowohl des manchesterlicheu wie des sozialdemokratischen Systems bildet: daß ohne eine gewisse Konzentration des Betriebes kein wirtschaftlicher Fortschritt möglich ist. Die Übertreibung liegt darin, daß unsre modernen Volkswirt¬ schaftslehrer der Ansicht zuneigen, die Konzentration müsse allgemein durch¬ geführt und der angeblich lebensunfähige Kleinbetrieb vom Großbetriebe voll¬ ständig verdrängt werden. Gerade in dem hier betrachteten Zeitraum findet diese Ansicht ihre Widerlegung. Die großen Grundherrschaften lösen sich wieder in kleinere Betriebe auf, deren Inhaber werden nach und nach frei, und am Ende des zwölften Jahrhunderts befindet sich die Hauptmasse des be¬ bauten Landes in dem Besitz persönlich freier Bauern und kleiner Ritterguts¬ besitzer (ehemaliger Meier). Die Ergänzung jenes Satzes, daß nämlich die Aufsaugung der vielen kleinen Betriebe durch wenige große die Knechtung der Gemeinfreien zur unvermeidlichen Folge hat, hören die Liberalen nicht gern, und wenn sie einmal nicht umhin können, sich damit zu befassen, so behaupten sie, der Mann werde für den Verlust seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit durch die Freizügigkeit und die sogenannte politische Freiheit reichlich ent¬ schädigt, obwohl diese für den Besitzlosen nur ein Sodomscipfel ist, der des nährenden und wohlschmeckenden Inhalts gänzlich entbehrt. Die Sozialdemo- kraten hingegen erkennen diese andre Hälfte des Satzes nicht allein an, sondern legen das Hauptgewicht darauf und lehren, diese Sklaverei, die als unver¬ meidlicher Durchgangspunkt des wirtschaftlichen Fortschritts eine Zeit lang habe ertragen werden müssen, werde, nachdem sie ihren Zweck erreicht habe, dadurch ihr natürliches Ende finden, daß die hergestellten Großbetriebe von den mündig gewordenen Arbeitern übernommen und auf deren Rechnung ge¬ nossenschaftlich weitergeführt würden. Diese Art Lösung kaun aber vermieden werden, wenn die Dinge jenen weit natürlicheren Verlauf nehmen, wie bei der mittelalterlichen Landwirtschaft, wo der wiederhergestellte Bauernstand mit den im Großbetrieb errungenen technischen Vorteilen nicht „kollektivistisch", sondern im Einzelbetrieb fortwirtschaftete. Übrigens fehlt in der nachkarolingischen Periode den großen Herrschaften auch der hervorstechendste Zug des modernen Großbetriebes nicht: das Streben nach Steigerung der Rente. Neue Unter¬ nehmungen, z. B. Rodungen, haben nicht mehr die Verwendung überschüssiger Kräfte, sondern die Erhöhung der Einkünfte zum Zweck. Und mit diesem Streben hält die wachsende Gleichgiltigkeit gegen das Gut und die Leute darauf, die sich in dem häufiger werdenden Absentismus äußert, gleichen Schritt: wenn nur reichliche Zinsen abfallen! Wie sie herausgeschlagen werden, das kümmert den Rentenempfänger nicht. Wenn sich das deutsche Volk durch alle diese Wandlungen hindurch seine alte Kraft und Tüchtigkeit bewahrte und noch im sechzehnten Jahrhundert, Grenzboten III 1891 33

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/265
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/265>, abgerufen am 26.08.2024.