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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sache selbst gegebenen Grenzen, das sich ans den verschiedensten Gebieten beobachten
läßt. Das Berechtigte einer formenschönen, in sich gegliederten und darum ge¬
fälligen Kritik fall deswegen nicht verkannt werden; die Kritik soll und darf an
sich fesseln und anregen, immer aber nur auf Grund des Gegenstandes, dem sie
dient. Denn eine dienende Magd wird sie immer bleiben und bleiben müssen,
wenn sie ihren Zweck ganz erreichen will. Faßt man aber die Aufgabe der
Theaterkritik als eine dienende, so ergiebt sich nach den drei Gesichtspunkten:
Dichter, Darsteller und Zuschauer ganz von selbst eine natürliche Gliederung, über
deren Grenzen der Beurteiler bei aller Anstrengung seines Scharfsinnes, anziehende
Abwechslung zu bieten, nicht hinauskommen wird, ohne sich in seiner Wirkung selbst
aufs schwerste zu schädigen. Thatsächlich bieten auch die drei genannten Gesichts¬
punkte, wenn man sie in sich wieder teilt, etwa nach den Fragen: Was wollte der
Dichter, was hat er dargestellt, war seine Darstellung berechtigt, was verlangte
der Dichter von dem Darsteller, was gab dieser n. s. w. eine solche Fülle an¬
regender Fragen, daß es des selbstgefälligen Anskrnmens fern liegender eigner
Gedanken und Gedankenstriche wahrlich nicht bedarf, um ein anziehendes Werkchen
zu liefern, das einer belehrenden und aufklärenden Wirkung sicher sein darf. Diese
Darlegungen erscheinen so naheliegend und selbstverständlich, daß man sie leicht sür
überflüssig halten möchte. Und doch würde eine eingehende Beschäftigung mit der
Masse von Kritiken, die täglich auf den Markt gebracht werden, um schnell ver¬
gessen zu werden, das Gegenteil erweisen. Wir wenigstens können einen wenn
auch nur flüchtigen Hinweis auf die eigentlichen Aufgaben der Kritik nicht für
zwecklos halten in einer Zeit, wo die durch die leidige Verwöhnung eines hei߬
hungriger Publikums zur Pflicht gewordene Schnelligkeit der Arbeit wie die Ver¬
seuchung unsrer litterarischen Thätigkeit durch den "Feuilletonismus" die einfachsten
Grundlagen der kritischen Thätigkeit oft ganz in Vergessenheit gebracht hat. Zur
Vertiefung des litterarischen Urteiles hat die Fesselung der Theaterkritik an die
Tagespresse ebenso wenig beigetragen wie zur Erhöhung ihrer Wertschätzung.
Leider ist die Mehrzahl der neuesten Bühnenerzeugnisse so beschaffe", daß sie selbst
dem schnellfertigen Urteil wenig Widerstand entgegensetzen; aber auch manches tiefer
angelegte Werk hat unter der Gewohnheit, nach einmaliger Aufführung in der Zeit
von vierundzwanzig Stunden ein Drama öffentlich abzuurteilen, empfindlich zu
leiden. Es eröffnen sich hier mancherlei Fragen, die dem Urteil des Einzelnen über¬
lassen bleiben mögen. Es muß genügen, nachdem wir die Stellung des Publikums
zum Theater besprochen haben, auch die Kritik an ihre Pflichten zu erinnern, als
deren erste neben rücksichtsloser Unbefangenheit in persönlichen Fragen aller Art
gegen das Publikum wie gegen den Dichter und den Darsteller, Achtung vor den
ernsten Aufgaben des Theaters als einer Anstalt der künstlerischen und sittlichen
Bildung zu gelten hat x x .




Maßgebliches und Unmaßgebliches

Sache selbst gegebenen Grenzen, das sich ans den verschiedensten Gebieten beobachten
läßt. Das Berechtigte einer formenschönen, in sich gegliederten und darum ge¬
fälligen Kritik fall deswegen nicht verkannt werden; die Kritik soll und darf an
sich fesseln und anregen, immer aber nur auf Grund des Gegenstandes, dem sie
dient. Denn eine dienende Magd wird sie immer bleiben und bleiben müssen,
wenn sie ihren Zweck ganz erreichen will. Faßt man aber die Aufgabe der
Theaterkritik als eine dienende, so ergiebt sich nach den drei Gesichtspunkten:
Dichter, Darsteller und Zuschauer ganz von selbst eine natürliche Gliederung, über
deren Grenzen der Beurteiler bei aller Anstrengung seines Scharfsinnes, anziehende
Abwechslung zu bieten, nicht hinauskommen wird, ohne sich in seiner Wirkung selbst
aufs schwerste zu schädigen. Thatsächlich bieten auch die drei genannten Gesichts¬
punkte, wenn man sie in sich wieder teilt, etwa nach den Fragen: Was wollte der
Dichter, was hat er dargestellt, war seine Darstellung berechtigt, was verlangte
der Dichter von dem Darsteller, was gab dieser n. s. w. eine solche Fülle an¬
regender Fragen, daß es des selbstgefälligen Anskrnmens fern liegender eigner
Gedanken und Gedankenstriche wahrlich nicht bedarf, um ein anziehendes Werkchen
zu liefern, das einer belehrenden und aufklärenden Wirkung sicher sein darf. Diese
Darlegungen erscheinen so naheliegend und selbstverständlich, daß man sie leicht sür
überflüssig halten möchte. Und doch würde eine eingehende Beschäftigung mit der
Masse von Kritiken, die täglich auf den Markt gebracht werden, um schnell ver¬
gessen zu werden, das Gegenteil erweisen. Wir wenigstens können einen wenn
auch nur flüchtigen Hinweis auf die eigentlichen Aufgaben der Kritik nicht für
zwecklos halten in einer Zeit, wo die durch die leidige Verwöhnung eines hei߬
hungriger Publikums zur Pflicht gewordene Schnelligkeit der Arbeit wie die Ver¬
seuchung unsrer litterarischen Thätigkeit durch den „Feuilletonismus" die einfachsten
Grundlagen der kritischen Thätigkeit oft ganz in Vergessenheit gebracht hat. Zur
Vertiefung des litterarischen Urteiles hat die Fesselung der Theaterkritik an die
Tagespresse ebenso wenig beigetragen wie zur Erhöhung ihrer Wertschätzung.
Leider ist die Mehrzahl der neuesten Bühnenerzeugnisse so beschaffe», daß sie selbst
dem schnellfertigen Urteil wenig Widerstand entgegensetzen; aber auch manches tiefer
angelegte Werk hat unter der Gewohnheit, nach einmaliger Aufführung in der Zeit
von vierundzwanzig Stunden ein Drama öffentlich abzuurteilen, empfindlich zu
leiden. Es eröffnen sich hier mancherlei Fragen, die dem Urteil des Einzelnen über¬
lassen bleiben mögen. Es muß genügen, nachdem wir die Stellung des Publikums
zum Theater besprochen haben, auch die Kritik an ihre Pflichten zu erinnern, als
deren erste neben rücksichtsloser Unbefangenheit in persönlichen Fragen aller Art
gegen das Publikum wie gegen den Dichter und den Darsteller, Achtung vor den
ernsten Aufgaben des Theaters als einer Anstalt der künstlerischen und sittlichen
Bildung zu gelten hat x x .




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[0244] Maßgebliches und Unmaßgebliches Sache selbst gegebenen Grenzen, das sich ans den verschiedensten Gebieten beobachten läßt. Das Berechtigte einer formenschönen, in sich gegliederten und darum ge¬ fälligen Kritik fall deswegen nicht verkannt werden; die Kritik soll und darf an sich fesseln und anregen, immer aber nur auf Grund des Gegenstandes, dem sie dient. Denn eine dienende Magd wird sie immer bleiben und bleiben müssen, wenn sie ihren Zweck ganz erreichen will. Faßt man aber die Aufgabe der Theaterkritik als eine dienende, so ergiebt sich nach den drei Gesichtspunkten: Dichter, Darsteller und Zuschauer ganz von selbst eine natürliche Gliederung, über deren Grenzen der Beurteiler bei aller Anstrengung seines Scharfsinnes, anziehende Abwechslung zu bieten, nicht hinauskommen wird, ohne sich in seiner Wirkung selbst aufs schwerste zu schädigen. Thatsächlich bieten auch die drei genannten Gesichts¬ punkte, wenn man sie in sich wieder teilt, etwa nach den Fragen: Was wollte der Dichter, was hat er dargestellt, war seine Darstellung berechtigt, was verlangte der Dichter von dem Darsteller, was gab dieser n. s. w. eine solche Fülle an¬ regender Fragen, daß es des selbstgefälligen Anskrnmens fern liegender eigner Gedanken und Gedankenstriche wahrlich nicht bedarf, um ein anziehendes Werkchen zu liefern, das einer belehrenden und aufklärenden Wirkung sicher sein darf. Diese Darlegungen erscheinen so naheliegend und selbstverständlich, daß man sie leicht sür überflüssig halten möchte. Und doch würde eine eingehende Beschäftigung mit der Masse von Kritiken, die täglich auf den Markt gebracht werden, um schnell ver¬ gessen zu werden, das Gegenteil erweisen. Wir wenigstens können einen wenn auch nur flüchtigen Hinweis auf die eigentlichen Aufgaben der Kritik nicht für zwecklos halten in einer Zeit, wo die durch die leidige Verwöhnung eines hei߬ hungriger Publikums zur Pflicht gewordene Schnelligkeit der Arbeit wie die Ver¬ seuchung unsrer litterarischen Thätigkeit durch den „Feuilletonismus" die einfachsten Grundlagen der kritischen Thätigkeit oft ganz in Vergessenheit gebracht hat. Zur Vertiefung des litterarischen Urteiles hat die Fesselung der Theaterkritik an die Tagespresse ebenso wenig beigetragen wie zur Erhöhung ihrer Wertschätzung. Leider ist die Mehrzahl der neuesten Bühnenerzeugnisse so beschaffe», daß sie selbst dem schnellfertigen Urteil wenig Widerstand entgegensetzen; aber auch manches tiefer angelegte Werk hat unter der Gewohnheit, nach einmaliger Aufführung in der Zeit von vierundzwanzig Stunden ein Drama öffentlich abzuurteilen, empfindlich zu leiden. Es eröffnen sich hier mancherlei Fragen, die dem Urteil des Einzelnen über¬ lassen bleiben mögen. Es muß genügen, nachdem wir die Stellung des Publikums zum Theater besprochen haben, auch die Kritik an ihre Pflichten zu erinnern, als deren erste neben rücksichtsloser Unbefangenheit in persönlichen Fragen aller Art gegen das Publikum wie gegen den Dichter und den Darsteller, Achtung vor den ernsten Aufgaben des Theaters als einer Anstalt der künstlerischen und sittlichen Bildung zu gelten hat x x .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/244>, abgerufen am 23.07.2024.