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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Da drängt sich denn unwillkürlich die Frage auf: Ist dieser Fall als
vereinzelt zu betrachten, oder erscheint er als typisch für den Charakter der
Zeit, in der wir leben? Ist er nicht das Erzeugnis der zerstörenden Be¬
strebungen, die unsre Zeit beherrschen? Ist er nicht die natürliche Folge einer
fehlerhaften Erziehung, an der Haus und Schule einzeln oder gemeinsam die
Verantwortung tragen? Der eine Thäter betritt den Weg des Verbrechens
unmittelbar von der eben verlassnen Schulbank aus, und der Vater des K.
thut, als er erfährt, die Polizei fahnde auf den Jungen, die bezeichnende Äuße¬
rung: Sags, wenn du was aufgefressen hast, schlagen dürfen sie dich nicht!
Die Familie nährt sich vom Tagelohn, der Junge selbst ist bereits zweimal
wegen Diebstahls bestraft. Die Mutter des N. ist Leichenwäscherin und lebt
im Armenhause. G. ist der Sohn eines bei der Eisenbahn angestellten Brem¬
sers und hat eine städtische Erziehung genossen. Die Mutter erscheint vor
Gericht als Entlastungszeugin in Hut und gewählter Kleidung und giebt
sich im Verein mit dem Vater die Miene, als verträte sie den gebildeten
Beamtenstand.

Die Klagen über die Verwilderung unsrer Jugend sind nicht neu. Sie
haben auch schon in diesen Blättern ihren Ausdruck gefunden. Daß ein Mensch
wie dieser K. noch vor dem Eintritt in das Alter der vollen Strafbarkeit zu
den rückfälligen Dieben gehört und mit dem achtzehnten Lebensjahre Zuchthnus-
kaudidat ist, gehört schou uicht mehr zu den Seltenheiten. Daß in einem andern
Falle junge Leute einen Verein gründen, der den Zweck hat, gemeinschaft¬
lich oder jeder für sich zu stehlen und zu betrügen, das dadurch gewonnene
Geld in einer Kasse anlegen, um, wenn die nötige Summe zusammen ist,
in die weite Welt hinauszuziehen, zu diesem Zwecke Satzungen beraten
und die Mitglieder mit besondern Feierlichkeiten aufnehmen, wobei sie das
ihren Prinzipalen aus dem Keller gestohlene Bier trinken, das hat immer
noch einen Anflug von jugendlicher Romantik. Sittlich schlimmer sind schon
die zahlreichen Vergehen in geschlechtlicher Beziehung, auf die man jetzt schon
bei Kindern stößt. Sie haben zugleich auch einen physischen Ruin im Gefolge.
Volksschullehrer machen in Bezug ans diese Dinge oft Erfahrungen und Ent¬
deckungen, bei denen einen: die Haare zu Berge stehen, und wenn man die
Straßen der kinderreichen Arbeiterviertel unsrer Groß- und Fabrikstädte durch¬
wandert, treten uns an Wand und Thor massenhaft die Zeugnisse einer vor¬
zeitigen Bekanntschaft mit geschlechtlichen Verhältnissen vor Augen. Nimmt
man dazu den besonders schweren Fall, der sich vor einiger Zeit in Berlin
ereignete, daß ein Junge ein kleines Mädchen, nachdem er sie der Ohrringe
beraubt hatte, um sich ihr Zeugnis vom Halse zu schaffen, zum Feusier hinaus¬
stürzte, nimmt man dazu, welche Rolle die halbwüchsige Jugend bei allen
Arbeiterkrawallen spielt, und so manches andre, was die Presse in Bezug auf
dieses Thema gebracht hat, so kann man nicht leugnen, daß in der Jugend-


!vo soll das hinaus?

Da drängt sich denn unwillkürlich die Frage auf: Ist dieser Fall als
vereinzelt zu betrachten, oder erscheint er als typisch für den Charakter der
Zeit, in der wir leben? Ist er nicht das Erzeugnis der zerstörenden Be¬
strebungen, die unsre Zeit beherrschen? Ist er nicht die natürliche Folge einer
fehlerhaften Erziehung, an der Haus und Schule einzeln oder gemeinsam die
Verantwortung tragen? Der eine Thäter betritt den Weg des Verbrechens
unmittelbar von der eben verlassnen Schulbank aus, und der Vater des K.
thut, als er erfährt, die Polizei fahnde auf den Jungen, die bezeichnende Äuße¬
rung: Sags, wenn du was aufgefressen hast, schlagen dürfen sie dich nicht!
Die Familie nährt sich vom Tagelohn, der Junge selbst ist bereits zweimal
wegen Diebstahls bestraft. Die Mutter des N. ist Leichenwäscherin und lebt
im Armenhause. G. ist der Sohn eines bei der Eisenbahn angestellten Brem¬
sers und hat eine städtische Erziehung genossen. Die Mutter erscheint vor
Gericht als Entlastungszeugin in Hut und gewählter Kleidung und giebt
sich im Verein mit dem Vater die Miene, als verträte sie den gebildeten
Beamtenstand.

Die Klagen über die Verwilderung unsrer Jugend sind nicht neu. Sie
haben auch schon in diesen Blättern ihren Ausdruck gefunden. Daß ein Mensch
wie dieser K. noch vor dem Eintritt in das Alter der vollen Strafbarkeit zu
den rückfälligen Dieben gehört und mit dem achtzehnten Lebensjahre Zuchthnus-
kaudidat ist, gehört schou uicht mehr zu den Seltenheiten. Daß in einem andern
Falle junge Leute einen Verein gründen, der den Zweck hat, gemeinschaft¬
lich oder jeder für sich zu stehlen und zu betrügen, das dadurch gewonnene
Geld in einer Kasse anlegen, um, wenn die nötige Summe zusammen ist,
in die weite Welt hinauszuziehen, zu diesem Zwecke Satzungen beraten
und die Mitglieder mit besondern Feierlichkeiten aufnehmen, wobei sie das
ihren Prinzipalen aus dem Keller gestohlene Bier trinken, das hat immer
noch einen Anflug von jugendlicher Romantik. Sittlich schlimmer sind schon
die zahlreichen Vergehen in geschlechtlicher Beziehung, auf die man jetzt schon
bei Kindern stößt. Sie haben zugleich auch einen physischen Ruin im Gefolge.
Volksschullehrer machen in Bezug ans diese Dinge oft Erfahrungen und Ent¬
deckungen, bei denen einen: die Haare zu Berge stehen, und wenn man die
Straßen der kinderreichen Arbeiterviertel unsrer Groß- und Fabrikstädte durch¬
wandert, treten uns an Wand und Thor massenhaft die Zeugnisse einer vor¬
zeitigen Bekanntschaft mit geschlechtlichen Verhältnissen vor Augen. Nimmt
man dazu den besonders schweren Fall, der sich vor einiger Zeit in Berlin
ereignete, daß ein Junge ein kleines Mädchen, nachdem er sie der Ohrringe
beraubt hatte, um sich ihr Zeugnis vom Halse zu schaffen, zum Feusier hinaus¬
stürzte, nimmt man dazu, welche Rolle die halbwüchsige Jugend bei allen
Arbeiterkrawallen spielt, und so manches andre, was die Presse in Bezug auf
dieses Thema gebracht hat, so kann man nicht leugnen, daß in der Jugend-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/237>, abgerufen am 23.07.2024.