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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

wenden, sie müssen sich mit desto kleinern Zinsen, mit desto kleinerm Unter¬
nehmergewinn begnügen, je kleiner ihr Kapital ist. Daher die steigende soziale
Unzufriedenheit, daher der Haß gegen das Großkapital, der Haß gegen das
Kapital überhaupt. Es ist keine Frage, daß, wenn sich diese Zustände immer
mehr verschärfen sollten, sie schließlich zu einer sozialen Revolution führen
müßten, und das ist auch die Hoffnung der Sozialdemokraten. Aber das
Ergebnis einer solchen Revolution wäre ans die Dauer sicher nicht der sozial¬
demokratische Staat. Dieser verlangt zu seinem Bestehen eine Umwälzung
aller sittlichen und zum Teil auch politischen Anschauungen, wie sie sich nicht
von heute auf morgen vollziehen kann. Die Möglichkeit des sozialdemokrati-
schen Staates vorausgesetzt, wären Jahrhunderte notwendig, damit sich ein
solcher Umschwung aller Ansichten vollziehen konnte. Auch die heutigen
Sozialisten selbst würden sich in einem Staate nicht heimisch fühlen können,
dessen Konsequenzen Beschränkung der Individualität und Zerstörung ihres
Keimbodens, der Familie wären. Es ist nicht dasselbe, sich theoretisch und
sich praktisch in den sozialdemokratischen Staat hineinzuleben.

Ist es denn aber auch wirklich notwendig, um jenen Übeln eines kapita¬
listischen Staates vorzubeugen, einen rein sozialdemokratischen Staat zu schassen?
Sollten sich diese Übel nicht heben lassen durch Einschränkung des Großkapi¬
tals zu Gunsten des Arbeitslohnes und des Kleinkapitals? Es ist das eine
wirtschaftliche Frage, die vielleicht nur durch Praktische Versuche allmählich
wird beantwortet werden können, und die nur theoretisch zu erörtern hier nicht
der Ort ist. Aber soviel scheint doch festzustehen, daß das, was notwendig ist,
um einem Menschen die materiellen Grundlagen für seiue Zufriedenheit zu
liefern, nur so viel materielle Güter sind, daß seiue geistige und leibliche Ge¬
sundheit gewahrt bleiben. Über den Umfang dieser Begriffe mag Streit herr¬
schen, aber es ist noch nicht erwiesen, daß er so sehr erweitert werden müßte,
um die sozialdemokratischen Forderungen in sich zu fassen. Dazu müßten die
Sozialdemokraten erst nachweisen, daß die leibliche und geistige Gesundheit der
Bürger nur in einem sozialdemokratischen Staate volle Berücksichtigung finden
könnte. Aber die Sozialdemokraten verwechseln die materiellen Güter mit der
Glückseligkeit, sie übersehen, daß eine gleichmäßigere Verteilung der materiellen
Güter nicht dasselbe ist wie eine gleichmüßigere Verteilung der Glückseligkeit.
Sie fordern jene gleichmäßigere Verteilung nicht bloß aus Menschenliebe, son¬
dern zum Teil aus Neid und Haß. Sie wollen nicht jedem so viel verschaffen,
als er zur materiellen Unterlage seiner Zufriedenheit nötig hat, sie wollen
jedem so viel verschaffen, daß er bei der Vergleichung mit andern keinen Neid
in sich entstehen fühlt. Einen Unterschied in dieser Verteilung soll nur die
Arbeit machen; wer nicht arbeitet, soll nicht genießen können. Es ist klar,
daß dieses Gefühl des Neides, die Vergleichung mit andern notwendig seine
Spitze gegen den sozialdemokratischen Staat selbst kehren muß.


Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates

wenden, sie müssen sich mit desto kleinern Zinsen, mit desto kleinerm Unter¬
nehmergewinn begnügen, je kleiner ihr Kapital ist. Daher die steigende soziale
Unzufriedenheit, daher der Haß gegen das Großkapital, der Haß gegen das
Kapital überhaupt. Es ist keine Frage, daß, wenn sich diese Zustände immer
mehr verschärfen sollten, sie schließlich zu einer sozialen Revolution führen
müßten, und das ist auch die Hoffnung der Sozialdemokraten. Aber das
Ergebnis einer solchen Revolution wäre ans die Dauer sicher nicht der sozial¬
demokratische Staat. Dieser verlangt zu seinem Bestehen eine Umwälzung
aller sittlichen und zum Teil auch politischen Anschauungen, wie sie sich nicht
von heute auf morgen vollziehen kann. Die Möglichkeit des sozialdemokrati-
schen Staates vorausgesetzt, wären Jahrhunderte notwendig, damit sich ein
solcher Umschwung aller Ansichten vollziehen konnte. Auch die heutigen
Sozialisten selbst würden sich in einem Staate nicht heimisch fühlen können,
dessen Konsequenzen Beschränkung der Individualität und Zerstörung ihres
Keimbodens, der Familie wären. Es ist nicht dasselbe, sich theoretisch und
sich praktisch in den sozialdemokratischen Staat hineinzuleben.

Ist es denn aber auch wirklich notwendig, um jenen Übeln eines kapita¬
listischen Staates vorzubeugen, einen rein sozialdemokratischen Staat zu schassen?
Sollten sich diese Übel nicht heben lassen durch Einschränkung des Großkapi¬
tals zu Gunsten des Arbeitslohnes und des Kleinkapitals? Es ist das eine
wirtschaftliche Frage, die vielleicht nur durch Praktische Versuche allmählich
wird beantwortet werden können, und die nur theoretisch zu erörtern hier nicht
der Ort ist. Aber soviel scheint doch festzustehen, daß das, was notwendig ist,
um einem Menschen die materiellen Grundlagen für seiue Zufriedenheit zu
liefern, nur so viel materielle Güter sind, daß seiue geistige und leibliche Ge¬
sundheit gewahrt bleiben. Über den Umfang dieser Begriffe mag Streit herr¬
schen, aber es ist noch nicht erwiesen, daß er so sehr erweitert werden müßte,
um die sozialdemokratischen Forderungen in sich zu fassen. Dazu müßten die
Sozialdemokraten erst nachweisen, daß die leibliche und geistige Gesundheit der
Bürger nur in einem sozialdemokratischen Staate volle Berücksichtigung finden
könnte. Aber die Sozialdemokraten verwechseln die materiellen Güter mit der
Glückseligkeit, sie übersehen, daß eine gleichmäßigere Verteilung der materiellen
Güter nicht dasselbe ist wie eine gleichmüßigere Verteilung der Glückseligkeit.
Sie fordern jene gleichmäßigere Verteilung nicht bloß aus Menschenliebe, son¬
dern zum Teil aus Neid und Haß. Sie wollen nicht jedem so viel verschaffen,
als er zur materiellen Unterlage seiner Zufriedenheit nötig hat, sie wollen
jedem so viel verschaffen, daß er bei der Vergleichung mit andern keinen Neid
in sich entstehen fühlt. Einen Unterschied in dieser Verteilung soll nur die
Arbeit machen; wer nicht arbeitet, soll nicht genießen können. Es ist klar,
daß dieses Gefühl des Neides, die Vergleichung mit andern notwendig seine
Spitze gegen den sozialdemokratischen Staat selbst kehren muß.


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[0203] Die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates wenden, sie müssen sich mit desto kleinern Zinsen, mit desto kleinerm Unter¬ nehmergewinn begnügen, je kleiner ihr Kapital ist. Daher die steigende soziale Unzufriedenheit, daher der Haß gegen das Großkapital, der Haß gegen das Kapital überhaupt. Es ist keine Frage, daß, wenn sich diese Zustände immer mehr verschärfen sollten, sie schließlich zu einer sozialen Revolution führen müßten, und das ist auch die Hoffnung der Sozialdemokraten. Aber das Ergebnis einer solchen Revolution wäre ans die Dauer sicher nicht der sozial¬ demokratische Staat. Dieser verlangt zu seinem Bestehen eine Umwälzung aller sittlichen und zum Teil auch politischen Anschauungen, wie sie sich nicht von heute auf morgen vollziehen kann. Die Möglichkeit des sozialdemokrati- schen Staates vorausgesetzt, wären Jahrhunderte notwendig, damit sich ein solcher Umschwung aller Ansichten vollziehen konnte. Auch die heutigen Sozialisten selbst würden sich in einem Staate nicht heimisch fühlen können, dessen Konsequenzen Beschränkung der Individualität und Zerstörung ihres Keimbodens, der Familie wären. Es ist nicht dasselbe, sich theoretisch und sich praktisch in den sozialdemokratischen Staat hineinzuleben. Ist es denn aber auch wirklich notwendig, um jenen Übeln eines kapita¬ listischen Staates vorzubeugen, einen rein sozialdemokratischen Staat zu schassen? Sollten sich diese Übel nicht heben lassen durch Einschränkung des Großkapi¬ tals zu Gunsten des Arbeitslohnes und des Kleinkapitals? Es ist das eine wirtschaftliche Frage, die vielleicht nur durch Praktische Versuche allmählich wird beantwortet werden können, und die nur theoretisch zu erörtern hier nicht der Ort ist. Aber soviel scheint doch festzustehen, daß das, was notwendig ist, um einem Menschen die materiellen Grundlagen für seiue Zufriedenheit zu liefern, nur so viel materielle Güter sind, daß seiue geistige und leibliche Ge¬ sundheit gewahrt bleiben. Über den Umfang dieser Begriffe mag Streit herr¬ schen, aber es ist noch nicht erwiesen, daß er so sehr erweitert werden müßte, um die sozialdemokratischen Forderungen in sich zu fassen. Dazu müßten die Sozialdemokraten erst nachweisen, daß die leibliche und geistige Gesundheit der Bürger nur in einem sozialdemokratischen Staate volle Berücksichtigung finden könnte. Aber die Sozialdemokraten verwechseln die materiellen Güter mit der Glückseligkeit, sie übersehen, daß eine gleichmäßigere Verteilung der materiellen Güter nicht dasselbe ist wie eine gleichmüßigere Verteilung der Glückseligkeit. Sie fordern jene gleichmäßigere Verteilung nicht bloß aus Menschenliebe, son¬ dern zum Teil aus Neid und Haß. Sie wollen nicht jedem so viel verschaffen, als er zur materiellen Unterlage seiner Zufriedenheit nötig hat, sie wollen jedem so viel verschaffen, daß er bei der Vergleichung mit andern keinen Neid in sich entstehen fühlt. Einen Unterschied in dieser Verteilung soll nur die Arbeit machen; wer nicht arbeitet, soll nicht genießen können. Es ist klar, daß dieses Gefühl des Neides, die Vergleichung mit andern notwendig seine Spitze gegen den sozialdemokratischen Staat selbst kehren muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/203>, abgerufen am 26.08.2024.