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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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Zur Reform der Lisenbahnfahrpreise

Sicher ist der Gedanke des Zonentarifs schön. Wer möchte nicht für den
Preis von 1 Mark in 3., von 2 Mark in 2. Klasse oder sür den Preis von
6 Mark, also kaum mehr als den Zimmerpreis eines guten Hotels, in ele¬
gantem Salon- und Schlafwagen das ganze deutsche Reich durchfahren können?
Aber es ist kein Gedanke, der sich von heute auf morgen verwirklichen ließe,
sondern eine Phantasie, ein Zuknnflsideal, ähnlich wie das Ideal des sozia¬
listischen Staates, das der Amerikaner Bellnmy in seinem Rückblicke aus dem
Jahre 2000 vor kurzen: entworfen hat. Die eifrigen Verfechter des Zonen¬
tarifs pflegen auf das einheitliche Briefporto hinzuweisen, dem man anch ein
vollständiges Fiasko vorausgesagt, und das doch einen so glänzenden Erfolg
gehabt habe. Daß ein Unterschied zwischen einem Brief und einem Menschen
besteht, wollen sie nicht zugeben, und doch sollte sie schon der Umstand darauf
hinführen, daß auch die Post für alle größern Packete, sobald sie mehr als
5 Kilogramm wiegen, den Preis mit der Entfernung beträchtlich steigen läßt.
Die Eisenbahnen seien jetzt nie voll, sagen sie, im Durchschnitt werde nnr
etwa ein Viertel der vorhandenen Plätze ausgenützt, und eine Vermehrung
des Verkehrs würde daher keine Mehrkosten verursachen. Bei dieser Statistik
sind in der 1. Klasse 6, in der 2. Klasse 8 und in der 3. Klasse 10 Plätze
in der Abteilung zu Grunde gelegt, die Eisenbahnverwaltnng hat aber in
gerechter Rücksicht ans die Gesundheit und die Bequemlichkeit der Reisenden
ihre Beamten angewiesen, besonders im Sommer nicht mehr als sechs Plätze
in der zweiten und acht Plätze in der dritten Klasse zu besetzen, und eS ist
nicht zu wünschen, daß diese Anordnung aufgehoben werde. Ferner muß doch
jeder Eisenbahnzug mehr Plätze führen, als im Mittel besetzt werden, denn
der Andrang ist den einen Tag größer, den andern kleiner, und anch bei
größerm Andrange darf kein Platzmangel eintreten. Aus diesen beiden Gründen
wird die Ausnutzung nie mehr als etwa 50 bis t!0 Prozent der Plätze be¬
tragen können. Auf vielen Nebenlinien könnte allerdings ein stärkerer Verkehr
auch ohne Vermehrung der Züge und Wagen bewältigt werden, aber auf den
Hauptlinien wurde stärkerer Verkehr auch größere Betriebsmittel erfordern und
darum beträchtliche Mehrkosten verursachen. Es ist mehr als fraglich, ob
diese bei den niedrigen Sätzen des Engelschen Zonentarifs gedeckt werden
würden. Seine Einführung würde aber nicht nur ans diesem finanziellen
Grunde unmöglich sein, sondern würde auch großen sozialpolitischen Bedenken
begegnen, denn er ist seinem Wesen nach eine Begünstigung des Fernverkehrs
gegenüber dem Nahverkehr, dessen Entwicklung hente gerade eine Hauptaufgabe
bildet, und wie man anch über die Freizügigkeit an sich denken mag, so würde
doch die plötzliche Entfesselung einer so schrankenlosen Freizügigkeit, wie sie
die Einführung eines Eisenbahnfahrpreises von einer Mark hervorrufen würde,
zweifellos eine sehr große Gefahr für unser ganzes wirtschaftliches und soziales
Leben sein.


Zur Reform der Lisenbahnfahrpreise

Sicher ist der Gedanke des Zonentarifs schön. Wer möchte nicht für den
Preis von 1 Mark in 3., von 2 Mark in 2. Klasse oder sür den Preis von
6 Mark, also kaum mehr als den Zimmerpreis eines guten Hotels, in ele¬
gantem Salon- und Schlafwagen das ganze deutsche Reich durchfahren können?
Aber es ist kein Gedanke, der sich von heute auf morgen verwirklichen ließe,
sondern eine Phantasie, ein Zuknnflsideal, ähnlich wie das Ideal des sozia¬
listischen Staates, das der Amerikaner Bellnmy in seinem Rückblicke aus dem
Jahre 2000 vor kurzen: entworfen hat. Die eifrigen Verfechter des Zonen¬
tarifs pflegen auf das einheitliche Briefporto hinzuweisen, dem man anch ein
vollständiges Fiasko vorausgesagt, und das doch einen so glänzenden Erfolg
gehabt habe. Daß ein Unterschied zwischen einem Brief und einem Menschen
besteht, wollen sie nicht zugeben, und doch sollte sie schon der Umstand darauf
hinführen, daß auch die Post für alle größern Packete, sobald sie mehr als
5 Kilogramm wiegen, den Preis mit der Entfernung beträchtlich steigen läßt.
Die Eisenbahnen seien jetzt nie voll, sagen sie, im Durchschnitt werde nnr
etwa ein Viertel der vorhandenen Plätze ausgenützt, und eine Vermehrung
des Verkehrs würde daher keine Mehrkosten verursachen. Bei dieser Statistik
sind in der 1. Klasse 6, in der 2. Klasse 8 und in der 3. Klasse 10 Plätze
in der Abteilung zu Grunde gelegt, die Eisenbahnverwaltnng hat aber in
gerechter Rücksicht ans die Gesundheit und die Bequemlichkeit der Reisenden
ihre Beamten angewiesen, besonders im Sommer nicht mehr als sechs Plätze
in der zweiten und acht Plätze in der dritten Klasse zu besetzen, und eS ist
nicht zu wünschen, daß diese Anordnung aufgehoben werde. Ferner muß doch
jeder Eisenbahnzug mehr Plätze führen, als im Mittel besetzt werden, denn
der Andrang ist den einen Tag größer, den andern kleiner, und anch bei
größerm Andrange darf kein Platzmangel eintreten. Aus diesen beiden Gründen
wird die Ausnutzung nie mehr als etwa 50 bis t!0 Prozent der Plätze be¬
tragen können. Auf vielen Nebenlinien könnte allerdings ein stärkerer Verkehr
auch ohne Vermehrung der Züge und Wagen bewältigt werden, aber auf den
Hauptlinien wurde stärkerer Verkehr auch größere Betriebsmittel erfordern und
darum beträchtliche Mehrkosten verursachen. Es ist mehr als fraglich, ob
diese bei den niedrigen Sätzen des Engelschen Zonentarifs gedeckt werden
würden. Seine Einführung würde aber nicht nur ans diesem finanziellen
Grunde unmöglich sein, sondern würde auch großen sozialpolitischen Bedenken
begegnen, denn er ist seinem Wesen nach eine Begünstigung des Fernverkehrs
gegenüber dem Nahverkehr, dessen Entwicklung hente gerade eine Hauptaufgabe
bildet, und wie man anch über die Freizügigkeit an sich denken mag, so würde
doch die plötzliche Entfesselung einer so schrankenlosen Freizügigkeit, wie sie
die Einführung eines Eisenbahnfahrpreises von einer Mark hervorrufen würde,
zweifellos eine sehr große Gefahr für unser ganzes wirtschaftliches und soziales
Leben sein.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/20>, abgerufen am 23.07.2024.