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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr.

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in den Abruzzen gemalt: eine Prozession von nackten, mit Gold- und Blumen¬
schmuck bekränzten Kindern, die eben aus einer Kirche herausgetreten sind und
draußen, auf der Freitreppe, von Müttern und Schwestern jubelnd empfangen
werden. Die kleinen nackten Körper sind mit größter Sorgfalt gezeichnet "ut
zu schönster Rundung herausmvdellirt. Sie bilden die höchsten Lichtpunkte in
der Fülle von Glanz und Farben, die über das ganze, von unzähligen Figuren
belebte Bild ausgegossen ist. Wieder mehr an die skizzenhaft audeuteude, auf
Touwirkuug nnsgeheudc Manier Fvrtunys schließt sich Michettis Kirchgang an,
dessen Schauplatz ebenfalls die Freitreppe einer Kirche in Chieti oder Francnvilln
a Mure ist, einer kleinen Stadt am Adriatischen Meere, wo Michetti, fern vou dem
Treiben des Touristenlebeus und der hauptstädtischen Geselligkeit, seit Jahren seine
geistreichen, durch die Frische der malerischen Technik immer aufs neue fesselnden
Genrebilder aus dem modernen Volksleben nud seine Landschaften malt. Der
.Kirchgang, entweder der Gang eines Brautpaares zur Trauung oder der erste
Kirchenbesuch des neuvermählten, von Gevattern und Gevatterinnen begleiteten
Paares, findet uuter erschwerenden Umständen statt. Ein Regen von südlicher
Kraft ist eben niedergegangen, und noch stehen auf den Steinflächen die Lachen,
über die die Brautjungfern mit kokett aufgehobenen Rocken hinweghüpfeu.
An der Kirchenfront steht unter dein schützenden Dach eine ländliche Musik-
bande, die die Hochzeitsgesellschaft mit voller Musik empfängt. Tiefe oder
wenigstens eigenartige Gedanken sind weder in diesen noch in andern italie¬
nischen und spanischen Sitteubilderu niedergelegt. Aber sie werden, wenn wir
die geschichtliche Erfahrung als Maßstab der Beurteilung annehmen dürfen,
in Zukunft ungefähr denselben Rang behaupten wie etwa in unsrer Zeit die
niederländischen Genrebilder des siebzehnten Jahrhunderts. Sie werden in
gleichem Maß als treue, kulturgeschichtliche Urkunden ihrer Zeit gelten. Darin
liegt ein nicht geringes Verdienst. Denn wenn man die ganze Entwicklung
der Kunstübung von deu Aufüngeu unsrer Kenntnis bis auf die Gegenwart
betrachtet und einen sichern Gewinn daraus zu ziehen sucht, wird man zu dem
Schlüsse kommen, daß zweierlei der Kunst ihren Hauptinhalt gegeben und sie
vorwärts gebracht hat: die Religion, d. h. der auf die Versinnlichung der
verehrungswürdigsten Vorstellungen der Phantasie gerichtete künstlerische Trieb,
und die Darstellung des Volkslebens in seiner dem Wesen jeder Nasse ent¬
sprechenden Eigentümlichkeit. Was dazwischen liegt: Allegorien und phan¬
tastische Gebilde idealen Inhalts, politische Geschichte, Haupt- und Staats-
aktionen, das alles besteht nicht vor dem Richterstuhl des geschichtlichen Urteils
oder, wenn man den Begriff so allgemein wie möglich fassen will, vor dem
des Wechselndell Geschmackes. Auch für religiöse und Genrebilder tritt noch
zur Beurteilung sud spoeio aoterni eine EinschrKnknng hinzu: je naiver, un¬
befangener und absichtsloser sich ein Kunstwerk darbietet, nur so mehr hat es
Aussicht, in der Hochschätzung späterer Geschlechter fortzubestehen.


in den Abruzzen gemalt: eine Prozession von nackten, mit Gold- und Blumen¬
schmuck bekränzten Kindern, die eben aus einer Kirche herausgetreten sind und
draußen, auf der Freitreppe, von Müttern und Schwestern jubelnd empfangen
werden. Die kleinen nackten Körper sind mit größter Sorgfalt gezeichnet »ut
zu schönster Rundung herausmvdellirt. Sie bilden die höchsten Lichtpunkte in
der Fülle von Glanz und Farben, die über das ganze, von unzähligen Figuren
belebte Bild ausgegossen ist. Wieder mehr an die skizzenhaft audeuteude, auf
Touwirkuug nnsgeheudc Manier Fvrtunys schließt sich Michettis Kirchgang an,
dessen Schauplatz ebenfalls die Freitreppe einer Kirche in Chieti oder Francnvilln
a Mure ist, einer kleinen Stadt am Adriatischen Meere, wo Michetti, fern vou dem
Treiben des Touristenlebeus und der hauptstädtischen Geselligkeit, seit Jahren seine
geistreichen, durch die Frische der malerischen Technik immer aufs neue fesselnden
Genrebilder aus dem modernen Volksleben nud seine Landschaften malt. Der
.Kirchgang, entweder der Gang eines Brautpaares zur Trauung oder der erste
Kirchenbesuch des neuvermählten, von Gevattern und Gevatterinnen begleiteten
Paares, findet uuter erschwerenden Umständen statt. Ein Regen von südlicher
Kraft ist eben niedergegangen, und noch stehen auf den Steinflächen die Lachen,
über die die Brautjungfern mit kokett aufgehobenen Rocken hinweghüpfeu.
An der Kirchenfront steht unter dein schützenden Dach eine ländliche Musik-
bande, die die Hochzeitsgesellschaft mit voller Musik empfängt. Tiefe oder
wenigstens eigenartige Gedanken sind weder in diesen noch in andern italie¬
nischen und spanischen Sitteubilderu niedergelegt. Aber sie werden, wenn wir
die geschichtliche Erfahrung als Maßstab der Beurteilung annehmen dürfen,
in Zukunft ungefähr denselben Rang behaupten wie etwa in unsrer Zeit die
niederländischen Genrebilder des siebzehnten Jahrhunderts. Sie werden in
gleichem Maß als treue, kulturgeschichtliche Urkunden ihrer Zeit gelten. Darin
liegt ein nicht geringes Verdienst. Denn wenn man die ganze Entwicklung
der Kunstübung von deu Aufüngeu unsrer Kenntnis bis auf die Gegenwart
betrachtet und einen sichern Gewinn daraus zu ziehen sucht, wird man zu dem
Schlüsse kommen, daß zweierlei der Kunst ihren Hauptinhalt gegeben und sie
vorwärts gebracht hat: die Religion, d. h. der auf die Versinnlichung der
verehrungswürdigsten Vorstellungen der Phantasie gerichtete künstlerische Trieb,
und die Darstellung des Volkslebens in seiner dem Wesen jeder Nasse ent¬
sprechenden Eigentümlichkeit. Was dazwischen liegt: Allegorien und phan¬
tastische Gebilde idealen Inhalts, politische Geschichte, Haupt- und Staats-
aktionen, das alles besteht nicht vor dem Richterstuhl des geschichtlichen Urteils
oder, wenn man den Begriff so allgemein wie möglich fassen will, vor dem
des Wechselndell Geschmackes. Auch für religiöse und Genrebilder tritt noch
zur Beurteilung sud spoeio aoterni eine EinschrKnknng hinzu: je naiver, un¬
befangener und absichtsloser sich ein Kunstwerk darbietet, nur so mehr hat es
Aussicht, in der Hochschätzung späterer Geschlechter fortzubestehen.


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[0135] in den Abruzzen gemalt: eine Prozession von nackten, mit Gold- und Blumen¬ schmuck bekränzten Kindern, die eben aus einer Kirche herausgetreten sind und draußen, auf der Freitreppe, von Müttern und Schwestern jubelnd empfangen werden. Die kleinen nackten Körper sind mit größter Sorgfalt gezeichnet »ut zu schönster Rundung herausmvdellirt. Sie bilden die höchsten Lichtpunkte in der Fülle von Glanz und Farben, die über das ganze, von unzähligen Figuren belebte Bild ausgegossen ist. Wieder mehr an die skizzenhaft audeuteude, auf Touwirkuug nnsgeheudc Manier Fvrtunys schließt sich Michettis Kirchgang an, dessen Schauplatz ebenfalls die Freitreppe einer Kirche in Chieti oder Francnvilln a Mure ist, einer kleinen Stadt am Adriatischen Meere, wo Michetti, fern vou dem Treiben des Touristenlebeus und der hauptstädtischen Geselligkeit, seit Jahren seine geistreichen, durch die Frische der malerischen Technik immer aufs neue fesselnden Genrebilder aus dem modernen Volksleben nud seine Landschaften malt. Der .Kirchgang, entweder der Gang eines Brautpaares zur Trauung oder der erste Kirchenbesuch des neuvermählten, von Gevattern und Gevatterinnen begleiteten Paares, findet uuter erschwerenden Umständen statt. Ein Regen von südlicher Kraft ist eben niedergegangen, und noch stehen auf den Steinflächen die Lachen, über die die Brautjungfern mit kokett aufgehobenen Rocken hinweghüpfeu. An der Kirchenfront steht unter dein schützenden Dach eine ländliche Musik- bande, die die Hochzeitsgesellschaft mit voller Musik empfängt. Tiefe oder wenigstens eigenartige Gedanken sind weder in diesen noch in andern italie¬ nischen und spanischen Sitteubilderu niedergelegt. Aber sie werden, wenn wir die geschichtliche Erfahrung als Maßstab der Beurteilung annehmen dürfen, in Zukunft ungefähr denselben Rang behaupten wie etwa in unsrer Zeit die niederländischen Genrebilder des siebzehnten Jahrhunderts. Sie werden in gleichem Maß als treue, kulturgeschichtliche Urkunden ihrer Zeit gelten. Darin liegt ein nicht geringes Verdienst. Denn wenn man die ganze Entwicklung der Kunstübung von deu Aufüngeu unsrer Kenntnis bis auf die Gegenwart betrachtet und einen sichern Gewinn daraus zu ziehen sucht, wird man zu dem Schlüsse kommen, daß zweierlei der Kunst ihren Hauptinhalt gegeben und sie vorwärts gebracht hat: die Religion, d. h. der auf die Versinnlichung der verehrungswürdigsten Vorstellungen der Phantasie gerichtete künstlerische Trieb, und die Darstellung des Volkslebens in seiner dem Wesen jeder Nasse ent¬ sprechenden Eigentümlichkeit. Was dazwischen liegt: Allegorien und phan¬ tastische Gebilde idealen Inhalts, politische Geschichte, Haupt- und Staats- aktionen, das alles besteht nicht vor dem Richterstuhl des geschichtlichen Urteils oder, wenn man den Begriff so allgemein wie möglich fassen will, vor dem des Wechselndell Geschmackes. Auch für religiöse und Genrebilder tritt noch zur Beurteilung sud spoeio aoterni eine EinschrKnknng hinzu: je naiver, un¬ befangener und absichtsloser sich ein Kunstwerk darbietet, nur so mehr hat es Aussicht, in der Hochschätzung späterer Geschlechter fortzubestehen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_289767/135>, abgerufen am 26.08.2024.