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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das Steiwgraphieunmesen

von idealer Pracht" und ähnliche Ausdrücke sind ständige Umschreibungen der
Stenographie. Gegen den Mißbrauch der Stenographen mit dem Worte
"Kunst" sollten die Vertreter der wirklichen Künste ahndend vorgehen. Un¬
bestreitbar gehört zur Aufstellung einer zweckmäßigen Stenographie außer
wissenschaftlicher Tüchtigkeit und praktischem Blick auch ein gewisser künst¬
lerischer Sinn, und ein System von besondrer Gediegenheit kann sich unter
Umständen als Kunstwerk darstellen. Die praktische Anwendung selbst eines
solchen Kunstwerkes erfordert aber weiter nichts als eine dnrch Übung zu ge¬
winnende mechanische Fertigkeit, von künstlerischer Thätigkeit dabei faselt nur
die Unvernunft. Die unter Stenographen beliebte gegenseitige Begrüßung
mit "Herr Kunstgenosse" ist daher mindestens gedankenlos. Mit Vorliebe
stellen ferner die Stenographen die Proportion auf

Fußgänger : Eisenbahnfahrer -- Kurreutschreiber : Steuographiebeuutzer.

Das ist auch so eine Narretei. Der Vergleich ist so lahm, daß er überhaupt
uicht vou der Stelle kommt. Der Eisenbahureisende läßt seine Beine hübsch
in Nuhe und zahlt blankes Geld dafür, daß er ohne eigne Körperbewegung
befördert wird. Der Stenographlebenutzer dagegen kauft sich nicht von jeder
Arbeit los, sondern muß seine höchsteigne Hand regen, nur daß er mit poten-
zirten Mitteln arbeitet und darum die Aufgabe rascher bewältigt als ein
Kurreutschreiber. Weit passender wäre die Gleichung

Fußgänger : Stelzengünger ---- Kurrentschreiber: Stenographiebenutzer.

Auch der Stelzeugänger muß seine Beine selbst bewegen wie der Fußgänger,
aber er kommt vermöge der weitausschreitendeu Stelzen mit gleichem Kraft-
aufwnnde und in gleicher Zeit weiter als der andre. Je höher die Stelzen
sind, um so großer wird der Vorsprung, aber um so mehr wächst auch die
Unsicherheit des Ganges und die Furcht zu straucheln. Just dasselbe findet
bei der Stenographie statt. Mit der ans die Spitze getriebenen Leistuugs-
großthuerei geht Hand in Hand das Schwanken und die Gefahr des Zu¬
sammenbruchs. Auch beim Stenographieerfinder zeigt sich der wahre Meister
in der Beschränkung. Nicht darin wird er seine Stärke suchen, die Stelzen
so hoch wie möglich zu bauen, sondern in weisem Abwägen der Stufe, auf
der er Sicherheit und Behagen der Stelzengünger mit gesteigerter Leistungs¬
fähigkeit am einträchtigsten verbinden kann. Etwas Unnatürliches wird der
Stelzeulauf immer behalten, und im Verkehre mit den auf glatter Sohle ruhig
einherschreitenden andern Sterblichen wird auch der stenographische Stelzen¬
gänger gern seine Spazierhölzer abschnallen und sich freuen, auf ebener Erde
Mensch unter Mensche" sein. Die besonders possirliche Abart der närrischen
Leute, die jeden Deutschen zu ununterbrochenem hochbeinigen Stelzcngange
ü. 1a, Siloam Dvrnvn verurteilen, d. h. die gewöhnliche Schrift vollständig
durch die Stenographie verdrängen wollten, ist glücklicherweise fast ganz aus-


Das Steiwgraphieunmesen

von idealer Pracht" und ähnliche Ausdrücke sind ständige Umschreibungen der
Stenographie. Gegen den Mißbrauch der Stenographen mit dem Worte
„Kunst" sollten die Vertreter der wirklichen Künste ahndend vorgehen. Un¬
bestreitbar gehört zur Aufstellung einer zweckmäßigen Stenographie außer
wissenschaftlicher Tüchtigkeit und praktischem Blick auch ein gewisser künst¬
lerischer Sinn, und ein System von besondrer Gediegenheit kann sich unter
Umständen als Kunstwerk darstellen. Die praktische Anwendung selbst eines
solchen Kunstwerkes erfordert aber weiter nichts als eine dnrch Übung zu ge¬
winnende mechanische Fertigkeit, von künstlerischer Thätigkeit dabei faselt nur
die Unvernunft. Die unter Stenographen beliebte gegenseitige Begrüßung
mit „Herr Kunstgenosse" ist daher mindestens gedankenlos. Mit Vorliebe
stellen ferner die Stenographen die Proportion auf

Fußgänger : Eisenbahnfahrer — Kurreutschreiber : Steuographiebeuutzer.

Das ist auch so eine Narretei. Der Vergleich ist so lahm, daß er überhaupt
uicht vou der Stelle kommt. Der Eisenbahureisende läßt seine Beine hübsch
in Nuhe und zahlt blankes Geld dafür, daß er ohne eigne Körperbewegung
befördert wird. Der Stenographlebenutzer dagegen kauft sich nicht von jeder
Arbeit los, sondern muß seine höchsteigne Hand regen, nur daß er mit poten-
zirten Mitteln arbeitet und darum die Aufgabe rascher bewältigt als ein
Kurreutschreiber. Weit passender wäre die Gleichung

Fußgänger : Stelzengünger ---- Kurrentschreiber: Stenographiebenutzer.

Auch der Stelzeugänger muß seine Beine selbst bewegen wie der Fußgänger,
aber er kommt vermöge der weitausschreitendeu Stelzen mit gleichem Kraft-
aufwnnde und in gleicher Zeit weiter als der andre. Je höher die Stelzen
sind, um so großer wird der Vorsprung, aber um so mehr wächst auch die
Unsicherheit des Ganges und die Furcht zu straucheln. Just dasselbe findet
bei der Stenographie statt. Mit der ans die Spitze getriebenen Leistuugs-
großthuerei geht Hand in Hand das Schwanken und die Gefahr des Zu¬
sammenbruchs. Auch beim Stenographieerfinder zeigt sich der wahre Meister
in der Beschränkung. Nicht darin wird er seine Stärke suchen, die Stelzen
so hoch wie möglich zu bauen, sondern in weisem Abwägen der Stufe, auf
der er Sicherheit und Behagen der Stelzengünger mit gesteigerter Leistungs¬
fähigkeit am einträchtigsten verbinden kann. Etwas Unnatürliches wird der
Stelzeulauf immer behalten, und im Verkehre mit den auf glatter Sohle ruhig
einherschreitenden andern Sterblichen wird auch der stenographische Stelzen¬
gänger gern seine Spazierhölzer abschnallen und sich freuen, auf ebener Erde
Mensch unter Mensche» sein. Die besonders possirliche Abart der närrischen
Leute, die jeden Deutschen zu ununterbrochenem hochbeinigen Stelzcngange
ü. 1a, Siloam Dvrnvn verurteilen, d. h. die gewöhnliche Schrift vollständig
durch die Stenographie verdrängen wollten, ist glücklicherweise fast ganz aus-


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[0624] Das Steiwgraphieunmesen von idealer Pracht" und ähnliche Ausdrücke sind ständige Umschreibungen der Stenographie. Gegen den Mißbrauch der Stenographen mit dem Worte „Kunst" sollten die Vertreter der wirklichen Künste ahndend vorgehen. Un¬ bestreitbar gehört zur Aufstellung einer zweckmäßigen Stenographie außer wissenschaftlicher Tüchtigkeit und praktischem Blick auch ein gewisser künst¬ lerischer Sinn, und ein System von besondrer Gediegenheit kann sich unter Umständen als Kunstwerk darstellen. Die praktische Anwendung selbst eines solchen Kunstwerkes erfordert aber weiter nichts als eine dnrch Übung zu ge¬ winnende mechanische Fertigkeit, von künstlerischer Thätigkeit dabei faselt nur die Unvernunft. Die unter Stenographen beliebte gegenseitige Begrüßung mit „Herr Kunstgenosse" ist daher mindestens gedankenlos. Mit Vorliebe stellen ferner die Stenographen die Proportion auf Fußgänger : Eisenbahnfahrer — Kurreutschreiber : Steuographiebeuutzer. Das ist auch so eine Narretei. Der Vergleich ist so lahm, daß er überhaupt uicht vou der Stelle kommt. Der Eisenbahureisende läßt seine Beine hübsch in Nuhe und zahlt blankes Geld dafür, daß er ohne eigne Körperbewegung befördert wird. Der Stenographlebenutzer dagegen kauft sich nicht von jeder Arbeit los, sondern muß seine höchsteigne Hand regen, nur daß er mit poten- zirten Mitteln arbeitet und darum die Aufgabe rascher bewältigt als ein Kurreutschreiber. Weit passender wäre die Gleichung Fußgänger : Stelzengünger ---- Kurrentschreiber: Stenographiebenutzer. Auch der Stelzeugänger muß seine Beine selbst bewegen wie der Fußgänger, aber er kommt vermöge der weitausschreitendeu Stelzen mit gleichem Kraft- aufwnnde und in gleicher Zeit weiter als der andre. Je höher die Stelzen sind, um so großer wird der Vorsprung, aber um so mehr wächst auch die Unsicherheit des Ganges und die Furcht zu straucheln. Just dasselbe findet bei der Stenographie statt. Mit der ans die Spitze getriebenen Leistuugs- großthuerei geht Hand in Hand das Schwanken und die Gefahr des Zu¬ sammenbruchs. Auch beim Stenographieerfinder zeigt sich der wahre Meister in der Beschränkung. Nicht darin wird er seine Stärke suchen, die Stelzen so hoch wie möglich zu bauen, sondern in weisem Abwägen der Stufe, auf der er Sicherheit und Behagen der Stelzengünger mit gesteigerter Leistungs¬ fähigkeit am einträchtigsten verbinden kann. Etwas Unnatürliches wird der Stelzeulauf immer behalten, und im Verkehre mit den auf glatter Sohle ruhig einherschreitenden andern Sterblichen wird auch der stenographische Stelzen¬ gänger gern seine Spazierhölzer abschnallen und sich freuen, auf ebener Erde Mensch unter Mensche» sein. Die besonders possirliche Abart der närrischen Leute, die jeden Deutschen zu ununterbrochenem hochbeinigen Stelzcngange ü. 1a, Siloam Dvrnvn verurteilen, d. h. die gewöhnliche Schrift vollständig durch die Stenographie verdrängen wollten, ist glücklicherweise fast ganz aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/624>, abgerufen am 24.07.2024.