Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.Geschichtsphilosophische Gedanken Streitern, die nicht ein Schwarm zusammengepeitschter Horden und Milizen Geschichtsphilosophische Gedanken Streitern, die nicht ein Schwarm zusammengepeitschter Horden und Milizen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0611" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210478"/> <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophische Gedanken</fw><lb/> <p xml:id="ID_1712" prev="#ID_1711" next="#ID_1713"> Streitern, die nicht ein Schwarm zusammengepeitschter Horden und Milizen<lb/> ist, wie das Heer des Xerxes, sondern ein aus lebendigen Teilen, ans Männern,<lb/> gebildeten Männer», kunstvoll gefügtes Instrument in der Hand eines Ge¬<lb/> waltigen, vor einem Verwaltungskörper wie dem des Königreichs Preußen<lb/> und des deutschen Reiches, in dem jedes der vielhunderttansend Glieder seine<lb/> Schuldigkeit thut, verschwindet alles, was frühere Zeiten geschaffen haben.<lb/> Für persönliche Größe jedoch bleibt nur an wenigen Stellen Raum übrig.<lb/> Eine besondre Art von Größe freilich ist sogar ganz allgemein, sie wird er¬<lb/> zwungen; aber es ist eine Art, die nichts Erhebendes und nichts Erfrischendes<lb/> hat. Der Mehrzahl der Menschen wird nämlich zugemutet, daß sie Helden<lb/> seien in schweigender Entsagung und stiller Pflichterfüllung; der Held dieser<lb/> Art sinkt nur zu leicht zum bloßen Lastvieh herab. Man kann sagen: In der<lb/> Zersplitterung sind die Menschen groß, ihre Werke klein (abgesehen von den<lb/> Kunstwerken, die nicht mathematisch, sondern dynamisch zu messen sind), im<lb/> Großstaat die Werke groß, die Menschen mittelmäßig und klein. Schreitet<lb/> die Ordnung des zentralisirteu Großstaates bis zur Vernichtung aller Indivi¬<lb/> dualität fort, dann verlieren auch die größten Werke allen Wert; sie sind dann<lb/> nur, gleich den Pyramiden, traurige Denkmäler des Hochmutes und Gräber<lb/> geopferter Menschenseelen. Der Absolutismus des vorigen Jahrhunderts hatte<lb/> schon den Weg nach diesem verhängnisvollen Ziele eingeschlagen. In Deutsch¬<lb/> land sorgte das rege litterarische Leben, dem die Kleinstaaterei eine Freistätte<lb/> gewährte, dafür, daß das Volk nicht geistig verödete, wie das französische<lb/> außerhalb Paris. Zwar wurde überall die Zensur gehandhabt, aber, wie es<lb/> in einer neuern Geschichte dieser Einrichtung ganz treffend heißt, da Württem¬<lb/> berg nichts dawider hatte, wenn Hessen, und Hessen nichts, wenn Württem¬<lb/> berg kritisirt wurde, so gab es kein Ländchen im Reich, über das nicht in<lb/> irgend einem andern Lündchen freimütig geschrieben werden konnte. Und doch,<lb/> trotz reichen litterarischen und wissenschaftlichen Lebens, welchen Stumpfsinn<lb/> bekundet das Volk bei seinen eignen großen Geschicken, und wie unfähig zur<lb/> Besorgung seiner eignen Angelegenheiten erweist es sich! Wie traurig erscheint<lb/> das stille Dulden des preußischen Volkes unter dem Drucke der französischen<lb/> Invasion, verglichen mit dem Widerstande, den die Lombardenstädte den Hohen-<lb/> staufen, die tuscischen dein Luxemburger leisteten, oder auch noch mit der<lb/> Tapferkeit Strcilsunds und Magdeburgs im dreißigjährigen Kriege! Und wie<lb/> kläglich erscheint noch heute die Unbeholfenheit der Gemeinden, Stände und<lb/> Gewerkschaften, die bei jedem kleinen Übelstande keinen andern Rat wissen, als<lb/> Polizei und Regierung anzurufen, während die Bürger- und Vaueruschafteu<lb/> früherer Zeiten ihre Angelegenheiten mit Geschick und Gewandtheit selbst zu<lb/> ordnen verstanden. Ohne alle Hilfe von außen oder oben haben vor sechs¬<lb/> hundert Jahren die deutschen Bauern im slawischen Osten die vortrefflichsten<lb/> Ordnungen hergestellt und haben die Slawen ohne Geschrei und Gewalt-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0611]
Geschichtsphilosophische Gedanken
Streitern, die nicht ein Schwarm zusammengepeitschter Horden und Milizen
ist, wie das Heer des Xerxes, sondern ein aus lebendigen Teilen, ans Männern,
gebildeten Männer», kunstvoll gefügtes Instrument in der Hand eines Ge¬
waltigen, vor einem Verwaltungskörper wie dem des Königreichs Preußen
und des deutschen Reiches, in dem jedes der vielhunderttansend Glieder seine
Schuldigkeit thut, verschwindet alles, was frühere Zeiten geschaffen haben.
Für persönliche Größe jedoch bleibt nur an wenigen Stellen Raum übrig.
Eine besondre Art von Größe freilich ist sogar ganz allgemein, sie wird er¬
zwungen; aber es ist eine Art, die nichts Erhebendes und nichts Erfrischendes
hat. Der Mehrzahl der Menschen wird nämlich zugemutet, daß sie Helden
seien in schweigender Entsagung und stiller Pflichterfüllung; der Held dieser
Art sinkt nur zu leicht zum bloßen Lastvieh herab. Man kann sagen: In der
Zersplitterung sind die Menschen groß, ihre Werke klein (abgesehen von den
Kunstwerken, die nicht mathematisch, sondern dynamisch zu messen sind), im
Großstaat die Werke groß, die Menschen mittelmäßig und klein. Schreitet
die Ordnung des zentralisirteu Großstaates bis zur Vernichtung aller Indivi¬
dualität fort, dann verlieren auch die größten Werke allen Wert; sie sind dann
nur, gleich den Pyramiden, traurige Denkmäler des Hochmutes und Gräber
geopferter Menschenseelen. Der Absolutismus des vorigen Jahrhunderts hatte
schon den Weg nach diesem verhängnisvollen Ziele eingeschlagen. In Deutsch¬
land sorgte das rege litterarische Leben, dem die Kleinstaaterei eine Freistätte
gewährte, dafür, daß das Volk nicht geistig verödete, wie das französische
außerhalb Paris. Zwar wurde überall die Zensur gehandhabt, aber, wie es
in einer neuern Geschichte dieser Einrichtung ganz treffend heißt, da Württem¬
berg nichts dawider hatte, wenn Hessen, und Hessen nichts, wenn Württem¬
berg kritisirt wurde, so gab es kein Ländchen im Reich, über das nicht in
irgend einem andern Lündchen freimütig geschrieben werden konnte. Und doch,
trotz reichen litterarischen und wissenschaftlichen Lebens, welchen Stumpfsinn
bekundet das Volk bei seinen eignen großen Geschicken, und wie unfähig zur
Besorgung seiner eignen Angelegenheiten erweist es sich! Wie traurig erscheint
das stille Dulden des preußischen Volkes unter dem Drucke der französischen
Invasion, verglichen mit dem Widerstande, den die Lombardenstädte den Hohen-
staufen, die tuscischen dein Luxemburger leisteten, oder auch noch mit der
Tapferkeit Strcilsunds und Magdeburgs im dreißigjährigen Kriege! Und wie
kläglich erscheint noch heute die Unbeholfenheit der Gemeinden, Stände und
Gewerkschaften, die bei jedem kleinen Übelstande keinen andern Rat wissen, als
Polizei und Regierung anzurufen, während die Bürger- und Vaueruschafteu
früherer Zeiten ihre Angelegenheiten mit Geschick und Gewandtheit selbst zu
ordnen verstanden. Ohne alle Hilfe von außen oder oben haben vor sechs¬
hundert Jahren die deutschen Bauern im slawischen Osten die vortrefflichsten
Ordnungen hergestellt und haben die Slawen ohne Geschrei und Gewalt-
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