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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Geschichtsphilosophische Gedanken

es nicht etwa ein einzelner hervorragender Mann ist, der da als Lenker des
Staates schreibt oder die Schreiben diktirt. Potest^ und Capitano, die, falls
sie nicht gerade abwesend sind, mit vollem Namen und Titel zeichnen, waren
jährlich wechselnde Fremde und lediglich Werkzeuge der Republik. Mitunter
kam ein solcher Beamter abhanden. So meldet ein neugewählter Capitano,
das; er auf der Reise zum Amtsantritt in die Gewalt der Feinde geraten sei,
und bittet, ihn zu befreien. Die Signoren antworten, es sei ihnen leid, aber
sie konnten nichts für ihn thun; er möge sehen, wie er loskomme, sei er nicht
zum bestimmten Tage da, so müßten sie sich eben nach einem andern umsehen.
Verfasser der Briefe sind die Prioren -- die Redaktion war Sache eines
Notars --, und deren Namen werden nicht genannt. Wozu auch! Wechseln
sie doch aller zwei Monate, und kein einzelner Prior darf für sich das Ver¬
dienst des Inspirators oder Verfassers in Anspruch nehmen, denn -- anders
ist die ganze Erscheinung gar nicht zu erklären -- der eigentliche Verfasser
ist "das Commune," die Bürgerschaft, diese Menge anonymer Wechsler, Tuch¬
fabrikanten, Goldschmiede, Schwertfeger, Schuster und sonstiger Handwerker,
von denen keiner daran denkt, seineu Anteil an dem Werke zu beurkunden und
so seinen Namen der Nachwelt zu überliefern. In christlichen Zeiten wohl
der merkwürdigste Fall eines Gemeingeistes, der gleich einem in sich klaren
und charakterfester Einzelgeiste sein Ziel beharrlich und ohne Schwanken ver¬
folgt und in keinem Augenblick über die zu ergreifenden Maßregeln in Zweifel
gerät. Daß Venedig seine weise Politik nicht drei, sondern beinahe tausend
Jahre hindurch festzuhalten vermochte, das erscheint uns zwar unendlich gro߬
artiger, ist aber doch im Grunde genommen leichter zu erklären; denn diese
Beherrscherin der Meere besaß, beim gänzlichen Ausschluß des gemeinen Volkes
von der Staatsleitung, in ihrem Adel eine dem nltrömischen Senat und in
der Dogenwürde eine der Monarchie ähnliche Einrichtung. Zu einem Übel,
das um jeden Preis überwunden werden mußte, wurden die Kleinstaaterei
und die Parteikämpfe in Italien und Deutschland erst von der Zeit ab, wo
die spanisch-habsburgische und die französische Großmacht fertig geworden waren
und die Selbständigkeit der innerlich gespaltenen Nachbarvölker bedrohten. Die
Aufrichtung großer Nationalstaaten wurde umso nötiger, als die Ausbildung
der modernen Technik, die Beschleunigung und Erleichterung des Verkehrs
Vermögen anhäufte, deren Inhaber in einem Kleinstaate nicht mehr Bürger,
sondern nur noch Herren sein können (die Mediceer können als Vorbild sür
spätere Zeiten angesehen werden), Großstädte anwachsen ließ, deren Ernährung
mir in einem Großstaat gesichert werden kann, und Werke anzulegen zwang
(Eisenbahnen, Kanäle, Artillerieschießstätten, Festungen), die über das Maß
kleinstaatlicher Verhältnisse hinausgehen. Auch der Großstaat hat seiue Schön¬
heit und seine Vorzüge. Vor der Erhabenheit einer Volkserhebung wie der
deutschen in den Jahren 1813 und 1870, vor einer Armee von einer Million


Geschichtsphilosophische Gedanken

es nicht etwa ein einzelner hervorragender Mann ist, der da als Lenker des
Staates schreibt oder die Schreiben diktirt. Potest^ und Capitano, die, falls
sie nicht gerade abwesend sind, mit vollem Namen und Titel zeichnen, waren
jährlich wechselnde Fremde und lediglich Werkzeuge der Republik. Mitunter
kam ein solcher Beamter abhanden. So meldet ein neugewählter Capitano,
das; er auf der Reise zum Amtsantritt in die Gewalt der Feinde geraten sei,
und bittet, ihn zu befreien. Die Signoren antworten, es sei ihnen leid, aber
sie konnten nichts für ihn thun; er möge sehen, wie er loskomme, sei er nicht
zum bestimmten Tage da, so müßten sie sich eben nach einem andern umsehen.
Verfasser der Briefe sind die Prioren — die Redaktion war Sache eines
Notars —, und deren Namen werden nicht genannt. Wozu auch! Wechseln
sie doch aller zwei Monate, und kein einzelner Prior darf für sich das Ver¬
dienst des Inspirators oder Verfassers in Anspruch nehmen, denn — anders
ist die ganze Erscheinung gar nicht zu erklären — der eigentliche Verfasser
ist „das Commune," die Bürgerschaft, diese Menge anonymer Wechsler, Tuch¬
fabrikanten, Goldschmiede, Schwertfeger, Schuster und sonstiger Handwerker,
von denen keiner daran denkt, seineu Anteil an dem Werke zu beurkunden und
so seinen Namen der Nachwelt zu überliefern. In christlichen Zeiten wohl
der merkwürdigste Fall eines Gemeingeistes, der gleich einem in sich klaren
und charakterfester Einzelgeiste sein Ziel beharrlich und ohne Schwanken ver¬
folgt und in keinem Augenblick über die zu ergreifenden Maßregeln in Zweifel
gerät. Daß Venedig seine weise Politik nicht drei, sondern beinahe tausend
Jahre hindurch festzuhalten vermochte, das erscheint uns zwar unendlich gro߬
artiger, ist aber doch im Grunde genommen leichter zu erklären; denn diese
Beherrscherin der Meere besaß, beim gänzlichen Ausschluß des gemeinen Volkes
von der Staatsleitung, in ihrem Adel eine dem nltrömischen Senat und in
der Dogenwürde eine der Monarchie ähnliche Einrichtung. Zu einem Übel,
das um jeden Preis überwunden werden mußte, wurden die Kleinstaaterei
und die Parteikämpfe in Italien und Deutschland erst von der Zeit ab, wo
die spanisch-habsburgische und die französische Großmacht fertig geworden waren
und die Selbständigkeit der innerlich gespaltenen Nachbarvölker bedrohten. Die
Aufrichtung großer Nationalstaaten wurde umso nötiger, als die Ausbildung
der modernen Technik, die Beschleunigung und Erleichterung des Verkehrs
Vermögen anhäufte, deren Inhaber in einem Kleinstaate nicht mehr Bürger,
sondern nur noch Herren sein können (die Mediceer können als Vorbild sür
spätere Zeiten angesehen werden), Großstädte anwachsen ließ, deren Ernährung
mir in einem Großstaat gesichert werden kann, und Werke anzulegen zwang
(Eisenbahnen, Kanäle, Artillerieschießstätten, Festungen), die über das Maß
kleinstaatlicher Verhältnisse hinausgehen. Auch der Großstaat hat seiue Schön¬
heit und seine Vorzüge. Vor der Erhabenheit einer Volkserhebung wie der
deutschen in den Jahren 1813 und 1870, vor einer Armee von einer Million


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/610>, abgerufen am 24.07.2024.