Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Geschichtsphilosophische Gedanken

diese stürzt und zur Unterdrückung aller andern Parteien fortschreitet, wie es
die Jakobiner in Frankreich gemacht haben, und wenn die zwei großen Par¬
teien, in die das Volk zerfällt, verschiedne Landschaften bewohnen; wie leicht
vollzog sich 1830 der Zerfall der Niederlande, die allerdings nur ein Knnst-
gebilde waren, in Belgien und Holland! An solche Beispiele denkt man zu¬
meist, wenn man vor den Gefahren der Parteisucht warnt. Allein die Bei¬
spiele sind gewöhnlich unpassend gewählt. Hegel behauptet sogar, das einzige,
was die Geschichte lehre, sei das, daß nichts aus ihr zu lernen sei, weil sich
ja keine frühere Lage wiederhole. So weit gehen wir nicht; denn kehrt auch
dieselbe Lage niemals wieder, so doch oft genug eine ähnliche. Aber nicht
selten wendet man ganz unähnliche Fälle auf die Gegenwart an, z. B. wenn
den heutigen Deutschen bei ihren Feder- nud Wortgefechten die alten Griechen
als warnendes Beispiel vorgehalten werden. Warum soll denn Griechenland
lehrreicher für uns fein als Rom, das in beständigen Parteikämpfen groß und
immer größer ward, ja gerade durch seine Parteikämpfe in die Eroberungs¬
politik hineingetrieben wurde? Welcher Unverstand außerdem, den alten Griechen
einen Vorwurf daraus zumachen, daß sie keinen Großstaat aufgerichtet haben!
Von Gott zu einem seefahrenden, kulturvcrbreiteudeu Volke bestimmt, haben
sie die Küsten der Mittelmeerländer mit einem Saume vou Kolonien verbrämt,
und Griechenland selbst war eben auch nur eine ihrer Kolonien, die von
Hellenen kvlonisirte Spitze der Valkanhalbinsel. Wer hätte auch nur an die
Möglichkeit denken können, diese Küstenstreifen zu einem Staate zu vereinigen?
Hätte es je zum Einheitsstaate kommen sollen, so hätten die Griechen, anstatt
langgestreckte Küsten zu besiedeln, ins Innere ihrer Halbinsel eindringen müssen.
Aber denn wären sie eben etwas ganz andres geworden als jenes Hellenenvolk,
das wir kennen. Sie hätten, gleich den ägyptischen oder asiatischen Despotien
und den Römern, die Kunst des Landkrieges und die der Verwaltung großer
Provinzen ausgebildet, zwei Künste, die ohnehin reichlich vorhanden waren.
Ihnen aber war von der Vorsehung die anderwärts noch nicht gelöste Auf¬
gabe gestellt, in Werken der Kunst die Idee des Schönen auszuprägen und
damit den spätern Geschlechtern eine nie versiegende Quelle der Erquickung
zu erschließen; sodann zu lehren, wie man die Dinge richtig schaut, das Ge¬
schaute in Worten richtig wiedergiebt, die Ursachen der Anschauungen erforscht
und die Ergebnisse der Forschungen methodisch verknüpft. Die Orientalen
konnten die strenge Wissenschaft nicht schaffen, weil bei ihnen die Phantasie,
die Römer nicht, weil bei ihnen das praktische Interesse überwog. Um aber
diese beiden Leistungen vollbringen zu können, mußten sie gerade so leben, wie
sie lebten: nicht in ein großes, gleichartiges Land zusammengedrängt, sondern
über viele verschieden gestaltete Länder zerstreut, sodaß ihnen aus wechselnder
Umgebung stets eine Fülle verschiedner Anschauungen zufloß, immer in der
aufheiternden Nähe eiues freundliche,: warmen Meeres und lieblicher Land-


Geschichtsphilosophische Gedanken

diese stürzt und zur Unterdrückung aller andern Parteien fortschreitet, wie es
die Jakobiner in Frankreich gemacht haben, und wenn die zwei großen Par¬
teien, in die das Volk zerfällt, verschiedne Landschaften bewohnen; wie leicht
vollzog sich 1830 der Zerfall der Niederlande, die allerdings nur ein Knnst-
gebilde waren, in Belgien und Holland! An solche Beispiele denkt man zu¬
meist, wenn man vor den Gefahren der Parteisucht warnt. Allein die Bei¬
spiele sind gewöhnlich unpassend gewählt. Hegel behauptet sogar, das einzige,
was die Geschichte lehre, sei das, daß nichts aus ihr zu lernen sei, weil sich
ja keine frühere Lage wiederhole. So weit gehen wir nicht; denn kehrt auch
dieselbe Lage niemals wieder, so doch oft genug eine ähnliche. Aber nicht
selten wendet man ganz unähnliche Fälle auf die Gegenwart an, z. B. wenn
den heutigen Deutschen bei ihren Feder- nud Wortgefechten die alten Griechen
als warnendes Beispiel vorgehalten werden. Warum soll denn Griechenland
lehrreicher für uns fein als Rom, das in beständigen Parteikämpfen groß und
immer größer ward, ja gerade durch seine Parteikämpfe in die Eroberungs¬
politik hineingetrieben wurde? Welcher Unverstand außerdem, den alten Griechen
einen Vorwurf daraus zumachen, daß sie keinen Großstaat aufgerichtet haben!
Von Gott zu einem seefahrenden, kulturvcrbreiteudeu Volke bestimmt, haben
sie die Küsten der Mittelmeerländer mit einem Saume vou Kolonien verbrämt,
und Griechenland selbst war eben auch nur eine ihrer Kolonien, die von
Hellenen kvlonisirte Spitze der Valkanhalbinsel. Wer hätte auch nur an die
Möglichkeit denken können, diese Küstenstreifen zu einem Staate zu vereinigen?
Hätte es je zum Einheitsstaate kommen sollen, so hätten die Griechen, anstatt
langgestreckte Küsten zu besiedeln, ins Innere ihrer Halbinsel eindringen müssen.
Aber denn wären sie eben etwas ganz andres geworden als jenes Hellenenvolk,
das wir kennen. Sie hätten, gleich den ägyptischen oder asiatischen Despotien
und den Römern, die Kunst des Landkrieges und die der Verwaltung großer
Provinzen ausgebildet, zwei Künste, die ohnehin reichlich vorhanden waren.
Ihnen aber war von der Vorsehung die anderwärts noch nicht gelöste Auf¬
gabe gestellt, in Werken der Kunst die Idee des Schönen auszuprägen und
damit den spätern Geschlechtern eine nie versiegende Quelle der Erquickung
zu erschließen; sodann zu lehren, wie man die Dinge richtig schaut, das Ge¬
schaute in Worten richtig wiedergiebt, die Ursachen der Anschauungen erforscht
und die Ergebnisse der Forschungen methodisch verknüpft. Die Orientalen
konnten die strenge Wissenschaft nicht schaffen, weil bei ihnen die Phantasie,
die Römer nicht, weil bei ihnen das praktische Interesse überwog. Um aber
diese beiden Leistungen vollbringen zu können, mußten sie gerade so leben, wie
sie lebten: nicht in ein großes, gleichartiges Land zusammengedrängt, sondern
über viele verschieden gestaltete Länder zerstreut, sodaß ihnen aus wechselnder
Umgebung stets eine Fülle verschiedner Anschauungen zufloß, immer in der
aufheiternden Nähe eiues freundliche,: warmen Meeres und lieblicher Land-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0604" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210471"/>
          <fw type="header" place="top"> Geschichtsphilosophische Gedanken</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1700" prev="#ID_1699" next="#ID_1701"> diese stürzt und zur Unterdrückung aller andern Parteien fortschreitet, wie es<lb/>
die Jakobiner in Frankreich gemacht haben, und wenn die zwei großen Par¬<lb/>
teien, in die das Volk zerfällt, verschiedne Landschaften bewohnen; wie leicht<lb/>
vollzog sich 1830 der Zerfall der Niederlande, die allerdings nur ein Knnst-<lb/>
gebilde waren, in Belgien und Holland! An solche Beispiele denkt man zu¬<lb/>
meist, wenn man vor den Gefahren der Parteisucht warnt. Allein die Bei¬<lb/>
spiele sind gewöhnlich unpassend gewählt. Hegel behauptet sogar, das einzige,<lb/>
was die Geschichte lehre, sei das, daß nichts aus ihr zu lernen sei, weil sich<lb/>
ja keine frühere Lage wiederhole. So weit gehen wir nicht; denn kehrt auch<lb/>
dieselbe Lage niemals wieder, so doch oft genug eine ähnliche. Aber nicht<lb/>
selten wendet man ganz unähnliche Fälle auf die Gegenwart an, z. B. wenn<lb/>
den heutigen Deutschen bei ihren Feder- nud Wortgefechten die alten Griechen<lb/>
als warnendes Beispiel vorgehalten werden. Warum soll denn Griechenland<lb/>
lehrreicher für uns fein als Rom, das in beständigen Parteikämpfen groß und<lb/>
immer größer ward, ja gerade durch seine Parteikämpfe in die Eroberungs¬<lb/>
politik hineingetrieben wurde? Welcher Unverstand außerdem, den alten Griechen<lb/>
einen Vorwurf daraus zumachen, daß sie keinen Großstaat aufgerichtet haben!<lb/>
Von Gott zu einem seefahrenden, kulturvcrbreiteudeu Volke bestimmt, haben<lb/>
sie die Küsten der Mittelmeerländer mit einem Saume vou Kolonien verbrämt,<lb/>
und Griechenland selbst war eben auch nur eine ihrer Kolonien, die von<lb/>
Hellenen kvlonisirte Spitze der Valkanhalbinsel. Wer hätte auch nur an die<lb/>
Möglichkeit denken können, diese Küstenstreifen zu einem Staate zu vereinigen?<lb/>
Hätte es je zum Einheitsstaate kommen sollen, so hätten die Griechen, anstatt<lb/>
langgestreckte Küsten zu besiedeln, ins Innere ihrer Halbinsel eindringen müssen.<lb/>
Aber denn wären sie eben etwas ganz andres geworden als jenes Hellenenvolk,<lb/>
das wir kennen. Sie hätten, gleich den ägyptischen oder asiatischen Despotien<lb/>
und den Römern, die Kunst des Landkrieges und die der Verwaltung großer<lb/>
Provinzen ausgebildet, zwei Künste, die ohnehin reichlich vorhanden waren.<lb/>
Ihnen aber war von der Vorsehung die anderwärts noch nicht gelöste Auf¬<lb/>
gabe gestellt, in Werken der Kunst die Idee des Schönen auszuprägen und<lb/>
damit den spätern Geschlechtern eine nie versiegende Quelle der Erquickung<lb/>
zu erschließen; sodann zu lehren, wie man die Dinge richtig schaut, das Ge¬<lb/>
schaute in Worten richtig wiedergiebt, die Ursachen der Anschauungen erforscht<lb/>
und die Ergebnisse der Forschungen methodisch verknüpft. Die Orientalen<lb/>
konnten die strenge Wissenschaft nicht schaffen, weil bei ihnen die Phantasie,<lb/>
die Römer nicht, weil bei ihnen das praktische Interesse überwog. Um aber<lb/>
diese beiden Leistungen vollbringen zu können, mußten sie gerade so leben, wie<lb/>
sie lebten: nicht in ein großes, gleichartiges Land zusammengedrängt, sondern<lb/>
über viele verschieden gestaltete Länder zerstreut, sodaß ihnen aus wechselnder<lb/>
Umgebung stets eine Fülle verschiedner Anschauungen zufloß, immer in der<lb/>
aufheiternden Nähe eiues freundliche,: warmen Meeres und lieblicher Land-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0604] Geschichtsphilosophische Gedanken diese stürzt und zur Unterdrückung aller andern Parteien fortschreitet, wie es die Jakobiner in Frankreich gemacht haben, und wenn die zwei großen Par¬ teien, in die das Volk zerfällt, verschiedne Landschaften bewohnen; wie leicht vollzog sich 1830 der Zerfall der Niederlande, die allerdings nur ein Knnst- gebilde waren, in Belgien und Holland! An solche Beispiele denkt man zu¬ meist, wenn man vor den Gefahren der Parteisucht warnt. Allein die Bei¬ spiele sind gewöhnlich unpassend gewählt. Hegel behauptet sogar, das einzige, was die Geschichte lehre, sei das, daß nichts aus ihr zu lernen sei, weil sich ja keine frühere Lage wiederhole. So weit gehen wir nicht; denn kehrt auch dieselbe Lage niemals wieder, so doch oft genug eine ähnliche. Aber nicht selten wendet man ganz unähnliche Fälle auf die Gegenwart an, z. B. wenn den heutigen Deutschen bei ihren Feder- nud Wortgefechten die alten Griechen als warnendes Beispiel vorgehalten werden. Warum soll denn Griechenland lehrreicher für uns fein als Rom, das in beständigen Parteikämpfen groß und immer größer ward, ja gerade durch seine Parteikämpfe in die Eroberungs¬ politik hineingetrieben wurde? Welcher Unverstand außerdem, den alten Griechen einen Vorwurf daraus zumachen, daß sie keinen Großstaat aufgerichtet haben! Von Gott zu einem seefahrenden, kulturvcrbreiteudeu Volke bestimmt, haben sie die Küsten der Mittelmeerländer mit einem Saume vou Kolonien verbrämt, und Griechenland selbst war eben auch nur eine ihrer Kolonien, die von Hellenen kvlonisirte Spitze der Valkanhalbinsel. Wer hätte auch nur an die Möglichkeit denken können, diese Küstenstreifen zu einem Staate zu vereinigen? Hätte es je zum Einheitsstaate kommen sollen, so hätten die Griechen, anstatt langgestreckte Küsten zu besiedeln, ins Innere ihrer Halbinsel eindringen müssen. Aber denn wären sie eben etwas ganz andres geworden als jenes Hellenenvolk, das wir kennen. Sie hätten, gleich den ägyptischen oder asiatischen Despotien und den Römern, die Kunst des Landkrieges und die der Verwaltung großer Provinzen ausgebildet, zwei Künste, die ohnehin reichlich vorhanden waren. Ihnen aber war von der Vorsehung die anderwärts noch nicht gelöste Auf¬ gabe gestellt, in Werken der Kunst die Idee des Schönen auszuprägen und damit den spätern Geschlechtern eine nie versiegende Quelle der Erquickung zu erschließen; sodann zu lehren, wie man die Dinge richtig schaut, das Ge¬ schaute in Worten richtig wiedergiebt, die Ursachen der Anschauungen erforscht und die Ergebnisse der Forschungen methodisch verknüpft. Die Orientalen konnten die strenge Wissenschaft nicht schaffen, weil bei ihnen die Phantasie, die Römer nicht, weil bei ihnen das praktische Interesse überwog. Um aber diese beiden Leistungen vollbringen zu können, mußten sie gerade so leben, wie sie lebten: nicht in ein großes, gleichartiges Land zusammengedrängt, sondern über viele verschieden gestaltete Länder zerstreut, sodaß ihnen aus wechselnder Umgebung stets eine Fülle verschiedner Anschauungen zufloß, immer in der aufheiternden Nähe eiues freundliche,: warmen Meeres und lieblicher Land-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/604
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/604>, abgerufen am 24.07.2024.