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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Rokokostudien

Kunst. In die Verachtung der Gotik faßte sich der leidenschaftliche Haß zu¬
sammen, der die artige und galante Welt der Aufklärung von den Schöpfungen
des Mittelalters schied. Der Name gotisch ist ja von Haus aus ein Schmüh-
wvrt, mit dem der italienische Humanismus eine seiner nationalen Empfind¬
lichkeit widerwärtige Kunst zu brandmarken suchte. Lorenzo della Valla ist
der Chorführer dieser Gotenhasser gewesen; die Legende der gotischen Barbarei
hat auch nach ihm in Italien gläubige Verehrer gefunden. Sie hat sich trotz
aller Einsprüche einer besonnenen historischen Kritik -- Flavio Biondo trat
ihr schon entgegen -- widerstandsfähig und unausrottbar gezeigt. Auch in
Deutschland, wo die Goten doch auf eine billigere Beurteilung hätten rechnen
sollen, fand sie raschen Eingang. Es wurde Mode, alles, was dem geläuterten
Empfinden widrig erschien, alles Geschmacklose als gotisch zu bezeichnen. In
diesem allgemeinen Sinne erscheint das Wort in dem Sprachgebrauch des
achtzehnten Jahrhunderts. So verwendet es noch Lessing. Auch Goethe war
in dieser Auffassung aufgewachsen. "Unter die Rubrik Gothisch -- so bekennt
er in dem begeisterten Hymnus: "Von deutscher Baukunst" -- gleich dem Artikel
eines Wörterbuches häufte ich alle synonymischen Mißverständnisse, die nur
von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichen, Zusammengestöppeltem,
Aufgeflicktem, Überladenen jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht ge¬
scheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt, hieß alles
Gothisch, was nicht in mein System Paßte, vou dem gedrechselten bunten
Puppen- und Bilderwerk an, womit unsre bürgerlichen Edelleute ihre Hänser
schmücken, bis zu den erusten Resten der ältern deutschen Baukunst, über die
ich auf Anlaß einiger abenteuerliche" Schnörkel in den allgemeinen Gesang
stimmte: "Ganz von Zierat erdrückt!" und so graute mirs im Gehen vorm
Anblick eines mißgeformten krausbvrstigen Ungeheuers."

Besonders hatte man -- wie auch Goethes Äußerungen zeigen -- die
Bauwerke der ülteru Zeit bei dem Worte gotisch im Sinne, ohne jedoch damit
die klare Vorstellung eines bestimmten Baustiles zu verbinden. Diese Ab¬
neigung des Rokoko gegen die Bauweise der Vorzeit läßt sich recht wohl er¬
klären. Was wollten die himmelanstrebenden Zeugnisse eines kraftvollen
Bürgertums diesem höfischen Geschlechte sagen? Man denke sich die weiten
Räume eiues Domes erfüllt von einem geschminkten und gepuderten Rokoko-
Völkchen! Welcher Gegensatz!

Man suchte diese durch deu innern Widerstreit der Jahrhunderte be¬
gründete Voreingenommenheit gegen die Gotik aber auch ästhetisch zu recht¬
fertigen. In deu "Diseourseu der Mahlern" werden (II, 22) "die Gebände
der Gothischen Architektur mit der neuen Baukunst, die natürlich ist," ver¬
glichen. Wie schon der Eingang vermuten läßt, läuft die kunsttheoretische
Erörterung auf eine sehr abfällige Kritik der frühern Zeit und eine Lob¬
preisung der neuen wahren Bauweise hinaus. "Diese gothischen Lvvula der


Rokokostudien

Kunst. In die Verachtung der Gotik faßte sich der leidenschaftliche Haß zu¬
sammen, der die artige und galante Welt der Aufklärung von den Schöpfungen
des Mittelalters schied. Der Name gotisch ist ja von Haus aus ein Schmüh-
wvrt, mit dem der italienische Humanismus eine seiner nationalen Empfind¬
lichkeit widerwärtige Kunst zu brandmarken suchte. Lorenzo della Valla ist
der Chorführer dieser Gotenhasser gewesen; die Legende der gotischen Barbarei
hat auch nach ihm in Italien gläubige Verehrer gefunden. Sie hat sich trotz
aller Einsprüche einer besonnenen historischen Kritik — Flavio Biondo trat
ihr schon entgegen — widerstandsfähig und unausrottbar gezeigt. Auch in
Deutschland, wo die Goten doch auf eine billigere Beurteilung hätten rechnen
sollen, fand sie raschen Eingang. Es wurde Mode, alles, was dem geläuterten
Empfinden widrig erschien, alles Geschmacklose als gotisch zu bezeichnen. In
diesem allgemeinen Sinne erscheint das Wort in dem Sprachgebrauch des
achtzehnten Jahrhunderts. So verwendet es noch Lessing. Auch Goethe war
in dieser Auffassung aufgewachsen. „Unter die Rubrik Gothisch — so bekennt
er in dem begeisterten Hymnus: »Von deutscher Baukunst« — gleich dem Artikel
eines Wörterbuches häufte ich alle synonymischen Mißverständnisse, die nur
von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichen, Zusammengestöppeltem,
Aufgeflicktem, Überladenen jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht ge¬
scheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt, hieß alles
Gothisch, was nicht in mein System Paßte, vou dem gedrechselten bunten
Puppen- und Bilderwerk an, womit unsre bürgerlichen Edelleute ihre Hänser
schmücken, bis zu den erusten Resten der ältern deutschen Baukunst, über die
ich auf Anlaß einiger abenteuerliche« Schnörkel in den allgemeinen Gesang
stimmte: »Ganz von Zierat erdrückt!« und so graute mirs im Gehen vorm
Anblick eines mißgeformten krausbvrstigen Ungeheuers."

Besonders hatte man — wie auch Goethes Äußerungen zeigen — die
Bauwerke der ülteru Zeit bei dem Worte gotisch im Sinne, ohne jedoch damit
die klare Vorstellung eines bestimmten Baustiles zu verbinden. Diese Ab¬
neigung des Rokoko gegen die Bauweise der Vorzeit läßt sich recht wohl er¬
klären. Was wollten die himmelanstrebenden Zeugnisse eines kraftvollen
Bürgertums diesem höfischen Geschlechte sagen? Man denke sich die weiten
Räume eiues Domes erfüllt von einem geschminkten und gepuderten Rokoko-
Völkchen! Welcher Gegensatz!

Man suchte diese durch deu innern Widerstreit der Jahrhunderte be¬
gründete Voreingenommenheit gegen die Gotik aber auch ästhetisch zu recht¬
fertigen. In deu „Diseourseu der Mahlern" werden (II, 22) „die Gebände
der Gothischen Architektur mit der neuen Baukunst, die natürlich ist," ver¬
glichen. Wie schon der Eingang vermuten läßt, läuft die kunsttheoretische
Erörterung auf eine sehr abfällige Kritik der frühern Zeit und eine Lob¬
preisung der neuen wahren Bauweise hinaus. „Diese gothischen Lvvula der


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[0586] Rokokostudien Kunst. In die Verachtung der Gotik faßte sich der leidenschaftliche Haß zu¬ sammen, der die artige und galante Welt der Aufklärung von den Schöpfungen des Mittelalters schied. Der Name gotisch ist ja von Haus aus ein Schmüh- wvrt, mit dem der italienische Humanismus eine seiner nationalen Empfind¬ lichkeit widerwärtige Kunst zu brandmarken suchte. Lorenzo della Valla ist der Chorführer dieser Gotenhasser gewesen; die Legende der gotischen Barbarei hat auch nach ihm in Italien gläubige Verehrer gefunden. Sie hat sich trotz aller Einsprüche einer besonnenen historischen Kritik — Flavio Biondo trat ihr schon entgegen — widerstandsfähig und unausrottbar gezeigt. Auch in Deutschland, wo die Goten doch auf eine billigere Beurteilung hätten rechnen sollen, fand sie raschen Eingang. Es wurde Mode, alles, was dem geläuterten Empfinden widrig erschien, alles Geschmacklose als gotisch zu bezeichnen. In diesem allgemeinen Sinne erscheint das Wort in dem Sprachgebrauch des achtzehnten Jahrhunderts. So verwendet es noch Lessing. Auch Goethe war in dieser Auffassung aufgewachsen. „Unter die Rubrik Gothisch — so bekennt er in dem begeisterten Hymnus: »Von deutscher Baukunst« — gleich dem Artikel eines Wörterbuches häufte ich alle synonymischen Mißverständnisse, die nur von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichen, Zusammengestöppeltem, Aufgeflicktem, Überladenen jemals durch den Kopf gezogen waren. Nicht ge¬ scheiter als ein Volk, das die ganze fremde Welt barbarisch nennt, hieß alles Gothisch, was nicht in mein System Paßte, vou dem gedrechselten bunten Puppen- und Bilderwerk an, womit unsre bürgerlichen Edelleute ihre Hänser schmücken, bis zu den erusten Resten der ältern deutschen Baukunst, über die ich auf Anlaß einiger abenteuerliche« Schnörkel in den allgemeinen Gesang stimmte: »Ganz von Zierat erdrückt!« und so graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausbvrstigen Ungeheuers." Besonders hatte man — wie auch Goethes Äußerungen zeigen — die Bauwerke der ülteru Zeit bei dem Worte gotisch im Sinne, ohne jedoch damit die klare Vorstellung eines bestimmten Baustiles zu verbinden. Diese Ab¬ neigung des Rokoko gegen die Bauweise der Vorzeit läßt sich recht wohl er¬ klären. Was wollten die himmelanstrebenden Zeugnisse eines kraftvollen Bürgertums diesem höfischen Geschlechte sagen? Man denke sich die weiten Räume eiues Domes erfüllt von einem geschminkten und gepuderten Rokoko- Völkchen! Welcher Gegensatz! Man suchte diese durch deu innern Widerstreit der Jahrhunderte be¬ gründete Voreingenommenheit gegen die Gotik aber auch ästhetisch zu recht¬ fertigen. In deu „Diseourseu der Mahlern" werden (II, 22) „die Gebände der Gothischen Architektur mit der neuen Baukunst, die natürlich ist," ver¬ glichen. Wie schon der Eingang vermuten läßt, läuft die kunsttheoretische Erörterung auf eine sehr abfällige Kritik der frühern Zeit und eine Lob¬ preisung der neuen wahren Bauweise hinaus. „Diese gothischen Lvvula der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/586>, abgerufen am 24.07.2024.