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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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wird nun aber die Überführung keineswegs vollständig. Es wäre denkbar,
daß sie es würde, wenn Hamlet, die Verwirrung des Schuldigen benutzend,
ihn geradezu des Mordes anklagte. Dies wäre ein vielleicht sehr gefährlicher,
aber immerhin der einzig aussichtsvvlle Weg, jene Überführung, auf die ihm
angeblich alles ankommt, zu bewirken. Jedenfalls wird eine andre, gleich
günstige Gelegenheit so bald nicht wieder kommen, und Hamlet müßte sich
daher entweder doch zur Tötung ohne Überführung entschließen oder auf jedes
Handeln überhaupt verzichten, wodurch er freilich der ihm gewordenen Auf¬
gabe noch weniger als auf die erstere Art gerecht werden würde. Gegen einen
schuldigen König, der im Besitze der Macht und daher aller Rechenschaft ent¬
rückt ist, kann man eben nicht alle möglichen juristischen Förmlichkeiten zur
Anwendung bringen, er muß es sich schon gefallen lassen, wenn das Verfahren
gegen ihn einen etwas tumultuarischen Anstrich trägt.

Wie reimen sich aber vollends mit der Überführnngsthevrie jene Selbst¬
vorwürfe, mit denen sich Hamlet bei den verschiedensten Gelegenheiten wegen
seines NichtHandelns überschüttet? Hierin nur eine ungerechte Beurteilung
seiner selbst zu sehen, die ans der begreiflichen Ungeduld des zur Unthätigkeit
verurteilte" und aus unzureichender, psychologischer Selbsterkenntnis entspringe,
das vermögen nur die, die Hamlet besser zu kennen meinen, als er sich selbst
kennt und als ihn der Dichter kennt, der mit keinem Worte den Zuschauer
darauf hinweist, daß hier sein Held sich selber unrecht thue. Wenn Hamlet
seinem eignen Zaudern den Schauspieler gegenüberstellt, der um nichts, um
fremden Unglücks willen seinem Antlitz und seiner Körperhaltung den Aus¬
druck wildester Leidenschaft zu verleihen weiß, wenn ihn der Anblick der
Krieger des Fortinbras, die "für 'ne Grille, ein Phantom des Ruhms zum
Grabe gehn wie ins Bett," ein brennender Vorwurf ist, wie kommt es
denn, daß er sein Gewissen nicht mit jener ihm so freundlich untergelegten
Überführnngsthevrie beschwichtigt? "Von Stund an trachtet nach Blut, Ge¬
danken, oder seid verachtet," ruft er bei dieser Gelegenheit aus, und diese
Selbstanspvrnnng beweist, daß er sie für nötig hält. Wenn er von Unter-
nehmungen redet, die "von des Gedankens Blässe angekränkelt" seien, oder
von einem "bangen Zweifel, welcher zu genau bedenkt den Ausgnug," einem
Gedanken, "der, zerlegt man ihn, ein viertel Weisheit nur und stets drei viertel
Feigheit hat," was könnte er dabei anders im Auge haben, als sein eignes
Verhalten, und wie könnte er von diesem Verhalten so herabsetzende Ausdrücke
gebrauchen, wenn er es durch so vortreffliche Gründe, wie sie seine Ver¬
teidiger ihm um die Hand geben, entschuldigt wüßte? Es ist nicht anders,
seiue Aufgabe liegt klar vor ihm, aber die Schwere dessen, was ihn: zu thun
bleibt, die Zweifelhaftigkeit des Ausgangs erschreckt ihn. Er spricht selbst
einmal von einer Art "schlimmer Ahndung, die vielleicht ein Weib ängstigen
würde." Und wenn wir die Schwere seiner Aufgabe bedenken, dürfen wir


wird nun aber die Überführung keineswegs vollständig. Es wäre denkbar,
daß sie es würde, wenn Hamlet, die Verwirrung des Schuldigen benutzend,
ihn geradezu des Mordes anklagte. Dies wäre ein vielleicht sehr gefährlicher,
aber immerhin der einzig aussichtsvvlle Weg, jene Überführung, auf die ihm
angeblich alles ankommt, zu bewirken. Jedenfalls wird eine andre, gleich
günstige Gelegenheit so bald nicht wieder kommen, und Hamlet müßte sich
daher entweder doch zur Tötung ohne Überführung entschließen oder auf jedes
Handeln überhaupt verzichten, wodurch er freilich der ihm gewordenen Auf¬
gabe noch weniger als auf die erstere Art gerecht werden würde. Gegen einen
schuldigen König, der im Besitze der Macht und daher aller Rechenschaft ent¬
rückt ist, kann man eben nicht alle möglichen juristischen Förmlichkeiten zur
Anwendung bringen, er muß es sich schon gefallen lassen, wenn das Verfahren
gegen ihn einen etwas tumultuarischen Anstrich trägt.

Wie reimen sich aber vollends mit der Überführnngsthevrie jene Selbst¬
vorwürfe, mit denen sich Hamlet bei den verschiedensten Gelegenheiten wegen
seines NichtHandelns überschüttet? Hierin nur eine ungerechte Beurteilung
seiner selbst zu sehen, die ans der begreiflichen Ungeduld des zur Unthätigkeit
verurteilte» und aus unzureichender, psychologischer Selbsterkenntnis entspringe,
das vermögen nur die, die Hamlet besser zu kennen meinen, als er sich selbst
kennt und als ihn der Dichter kennt, der mit keinem Worte den Zuschauer
darauf hinweist, daß hier sein Held sich selber unrecht thue. Wenn Hamlet
seinem eignen Zaudern den Schauspieler gegenüberstellt, der um nichts, um
fremden Unglücks willen seinem Antlitz und seiner Körperhaltung den Aus¬
druck wildester Leidenschaft zu verleihen weiß, wenn ihn der Anblick der
Krieger des Fortinbras, die „für 'ne Grille, ein Phantom des Ruhms zum
Grabe gehn wie ins Bett," ein brennender Vorwurf ist, wie kommt es
denn, daß er sein Gewissen nicht mit jener ihm so freundlich untergelegten
Überführnngsthevrie beschwichtigt? „Von Stund an trachtet nach Blut, Ge¬
danken, oder seid verachtet," ruft er bei dieser Gelegenheit aus, und diese
Selbstanspvrnnng beweist, daß er sie für nötig hält. Wenn er von Unter-
nehmungen redet, die „von des Gedankens Blässe angekränkelt" seien, oder
von einem „bangen Zweifel, welcher zu genau bedenkt den Ausgnug," einem
Gedanken, „der, zerlegt man ihn, ein viertel Weisheit nur und stets drei viertel
Feigheit hat," was könnte er dabei anders im Auge haben, als sein eignes
Verhalten, und wie könnte er von diesem Verhalten so herabsetzende Ausdrücke
gebrauchen, wenn er es durch so vortreffliche Gründe, wie sie seine Ver¬
teidiger ihm um die Hand geben, entschuldigt wüßte? Es ist nicht anders,
seiue Aufgabe liegt klar vor ihm, aber die Schwere dessen, was ihn: zu thun
bleibt, die Zweifelhaftigkeit des Ausgangs erschreckt ihn. Er spricht selbst
einmal von einer Art „schlimmer Ahndung, die vielleicht ein Weib ängstigen
würde." Und wenn wir die Schwere seiner Aufgabe bedenken, dürfen wir


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/578>, abgerufen am 24.07.2024.