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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Nah" z" bleiben. Das wäre eben gar keine Partei, d. h. keine Vertretung
einer Sonderidee oder eines Svndcrinteresses. Man könnte ihr nicht einmal
zum Lobe nachrühmen, daß sie das Stnatswvhl oder das Wohl der Gesamt¬
heit über alle Sonderinteressen stelle, denn das Gesamtwvhl besteht ja eben
im Wohle der Einzelnen. Ein Widerspruch zwischen Einzelwohl und Gemein¬
wohl ist mir insofern vorhanden, als das Gemeinwohl auf Kosten des Einzel¬
wohles manche Opfer fordert. Allem in den modernen Staaten handelt es
sich nicht mehr wie im mittelalterlichen Ständestaat darum, ob diese Opfer
gebracht werden sollen oder nicht --- die Aufbringung der Staatsbednrfnissc
ist bis auf einige streitige Millionen, die kaum ins Gewicht fallen, überall
und immer gesichert, -- sondern um die Verteilung der Staatslasten, und
dabei geraten eben die Interessengruppen nnter einander, nicht mit dem Staate
in Konflikt.

Der moderne Kvnstitutivimlismus hat ja nnn allerdings den undenkbaren
Gedanken eines Staatswvhls, das außerhalb oder über dem Wohle der Ein¬
zelne" ein gespenstisches Dasein führt, eines Volkes, das etwas andres sein
soll als die Gesamtheit der Volksgenossen, gewissermaßen zum Staatsgrund¬
gesetz erhoben, indem er erklärt, der Abgeordnete vertrete weder seinen Wahl¬
kreis, noch seinen Stand, noch seine Partei, sondern das "ganze Volk." Aber
es können doch nur gedankenlose Phrasendrescher diesen Satz ausspreche", ohne
darüber zu lachen. Wo ist denn das "ganze Volk," das ein Abgeordneter bei
nus vertreten könnte? Die meisten werden bei der Wahl nur darum uicht
mit faulen Äpfeln und Eiern beworfen, weil diese Form der Äußerung des
Volkswillens bei uns nicht Mode ist oder polizeilich nicht gestattet wird, oder
vielleicht auch, weil bei uns Äpfel und Eier zu teuer siud. Gehören nnn die
Staatsbürger, die dein Gewählten wenigstens faule Redensarten an den Kopf
geworfen haben, uicht zum Volle? Am einmütigsten Pflegen die Abgeordneten
für Oberbaiern, Oberschlesien und Pommern gewählt zu werden; aber welcher
Sturm der Entrüstung würde sich erheben, wenn die Protestanten Pommerns
einen Mtramontcmen oder die Ultrnmontanen einer katholischen Landschaft
einen strammen Protestanten als Vertreter des ganzen deutschen Volkes aner¬
kennen sollten! Das Volk besteht eben aus Personen, die sehr Verschicdnes
wollen. Darin allerdings sind alle einig, daß der Staat fortbestehen und sich
seiner äußern Feinde erwehren können soll; eine Invasion der Franzosen, die
dem ganzen Volke schwere Opfer auferlegen würde, wünschen wahrscheinlich
nicht einmal die Sozialdemokratin; und wenn auch der Fanatiker des Sozin-
lismus sür sein Utopien schwärmt, so ist ihm doch daran gelegen, daß in der
Zwischenzeit wenigstens einige Einrichtungen des bitter gehaßten "Klassenstaates,"
wie die Arbeiterversicherung und der Arbeiterschntz, bestehen bleiben möchten.
Aber diesen Willen der Erhaltung des Staates oder besser gesagt des unge¬
teilten Volksganzen, des Vaterlandes nuszusprechen, wie ihn das deutsche Volk


Nah» z» bleiben. Das wäre eben gar keine Partei, d. h. keine Vertretung
einer Sonderidee oder eines Svndcrinteresses. Man könnte ihr nicht einmal
zum Lobe nachrühmen, daß sie das Stnatswvhl oder das Wohl der Gesamt¬
heit über alle Sonderinteressen stelle, denn das Gesamtwvhl besteht ja eben
im Wohle der Einzelnen. Ein Widerspruch zwischen Einzelwohl und Gemein¬
wohl ist mir insofern vorhanden, als das Gemeinwohl auf Kosten des Einzel¬
wohles manche Opfer fordert. Allem in den modernen Staaten handelt es
sich nicht mehr wie im mittelalterlichen Ständestaat darum, ob diese Opfer
gebracht werden sollen oder nicht —- die Aufbringung der Staatsbednrfnissc
ist bis auf einige streitige Millionen, die kaum ins Gewicht fallen, überall
und immer gesichert, — sondern um die Verteilung der Staatslasten, und
dabei geraten eben die Interessengruppen nnter einander, nicht mit dem Staate
in Konflikt.

Der moderne Kvnstitutivimlismus hat ja nnn allerdings den undenkbaren
Gedanken eines Staatswvhls, das außerhalb oder über dem Wohle der Ein¬
zelne» ein gespenstisches Dasein führt, eines Volkes, das etwas andres sein
soll als die Gesamtheit der Volksgenossen, gewissermaßen zum Staatsgrund¬
gesetz erhoben, indem er erklärt, der Abgeordnete vertrete weder seinen Wahl¬
kreis, noch seinen Stand, noch seine Partei, sondern das „ganze Volk." Aber
es können doch nur gedankenlose Phrasendrescher diesen Satz ausspreche», ohne
darüber zu lachen. Wo ist denn das „ganze Volk," das ein Abgeordneter bei
nus vertreten könnte? Die meisten werden bei der Wahl nur darum uicht
mit faulen Äpfeln und Eiern beworfen, weil diese Form der Äußerung des
Volkswillens bei uns nicht Mode ist oder polizeilich nicht gestattet wird, oder
vielleicht auch, weil bei uns Äpfel und Eier zu teuer siud. Gehören nnn die
Staatsbürger, die dein Gewählten wenigstens faule Redensarten an den Kopf
geworfen haben, uicht zum Volle? Am einmütigsten Pflegen die Abgeordneten
für Oberbaiern, Oberschlesien und Pommern gewählt zu werden; aber welcher
Sturm der Entrüstung würde sich erheben, wenn die Protestanten Pommerns
einen Mtramontcmen oder die Ultrnmontanen einer katholischen Landschaft
einen strammen Protestanten als Vertreter des ganzen deutschen Volkes aner¬
kennen sollten! Das Volk besteht eben aus Personen, die sehr Verschicdnes
wollen. Darin allerdings sind alle einig, daß der Staat fortbestehen und sich
seiner äußern Feinde erwehren können soll; eine Invasion der Franzosen, die
dem ganzen Volke schwere Opfer auferlegen würde, wünschen wahrscheinlich
nicht einmal die Sozialdemokratin; und wenn auch der Fanatiker des Sozin-
lismus sür sein Utopien schwärmt, so ist ihm doch daran gelegen, daß in der
Zwischenzeit wenigstens einige Einrichtungen des bitter gehaßten „Klassenstaates,"
wie die Arbeiterversicherung und der Arbeiterschntz, bestehen bleiben möchten.
Aber diesen Willen der Erhaltung des Staates oder besser gesagt des unge¬
teilten Volksganzen, des Vaterlandes nuszusprechen, wie ihn das deutsche Volk


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/559>, abgerufen am 24.07.2024.