Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.Dinge. Er war geradezu religiös indifferent. Vielleicht kommt darin nicht Auch einige Verwandtschaft mit Gottfried Keller, auf die der Biograph Daß wir mit unserm Versuch, aus der Innerlichkeit des Dichters den Dinge. Er war geradezu religiös indifferent. Vielleicht kommt darin nicht Auch einige Verwandtschaft mit Gottfried Keller, auf die der Biograph Daß wir mit unserm Versuch, aus der Innerlichkeit des Dichters den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0055" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209922"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_131" prev="#ID_130"> Dinge. Er war geradezu religiös indifferent. Vielleicht kommt darin nicht<lb/> sowohl der Unterschied der beiden Wiener Dichter, als vielmehr der des acht¬<lb/> zehnte!? und neunzehnten Jahrhunderts zu Tage.</p><lb/> <p xml:id="ID_132"> Auch einige Verwandtschaft mit Gottfried Keller, auf die der Biograph<lb/> hindeutet, ist nicht zu übersehe». Die knabenhafte Vertrautheit des grünen<lb/> Heinrich mit dem lieben Gott ist anch ein gut anzengrnberisches Motiv, und<lb/> dem Geiste der sieben Legenden ist mancher derbe Schwank Anzengrnbers ver¬<lb/> wandt. In dem Lebensideal des klugen, praktischen, heitern Mannes treffen<lb/> der Schweizer und der Österreicher zusammen. Aber Keller ist doch vor¬<lb/> wiegend der Dichter der reinen Schönheit, Anzengruber hat immer das Be¬<lb/> dürfnis zur Tendenz; ist es keine polemische gegen Kirche und Gesellschaft, so ist<lb/> es eine veristische, ans die große Wirklichkeit des Lebens selbst gerichtete, wie<lb/> im „Sternsteinhof." An Bildung und Sprachkunst ist Keller dem Österreicher<lb/> weit überlegen, dieser aber hat die höhere und schwierigere Form des Dramas<lb/> beherrscht, seine Wirksamkeit ist stärker, wie die aller Vühnenwerke im Vergleich<lb/> zum Buche. Nur dürfte diese Wirksamkeit uicht bloß wegen des Dia¬<lb/> lektes, sondern auch wegen des Pathos, das die Werke erfüllt, vorwiegend<lb/> auf den katholischen Süden Deutschlands beschränkt bleiben, in dem sie wurzeln.<lb/> Doch stehen dieser Vermutung Erfolge Anzengrnbers als Dramatiker und Er¬<lb/> zähler im deutschen Norden entgegen. Zu seinen Lebzeiten hat ihn gerade der<lb/> Beifall und die thätige Liebe von Norddeutschen gefordert.</p><lb/> <p xml:id="ID_133" next="#ID_134"> Daß wir mit unserm Versuch, aus der Innerlichkeit des Dichters den<lb/> Charakterseiner Werke zu erfassen, nicht zur Betrachtung aller seiner Dramen<lb/> und Erzählungen gelangen konnten, ist uns wohl bewußt; uur seine Meister¬<lb/> werke sind dabei in Betracht gekommen. Anzengrnber gehört nicht in die<lb/> Reihe jener Dichter, von denen der größte Goethe war, die mit Vorliebe<lb/> Persönliche Erlebnisse, künstlerisch verdichtet, zur Anschauung gebracht haben.<lb/> Er war vorwiegend Realist und ist nach und nach Verist geworden. Vielfach<lb/> hat er Motive zu seinen Dichtungen bloß ans den Ereignissen seiner Zeit<lb/> oder aus ihren Zuständen geholt. Die „Kreuzelschreiber" gehen auf ein wirk¬<lb/> liches Ereignis zurück: eine bairische Dorfgemeinde hatte eine Adresse an<lb/> Döllinger zur Zeit seiner Kämpfe gegen Rom gerichtet und die Pfarrer da¬<lb/> durch gegen sich aufgebracht. Der „Doppelselbstmord" entstand zu einer Zeit,<lb/> wo in Wien eine krankhafte sucht der unglücklichen Liebespaare herrschte, sich<lb/> gemeinsam umzubringen. Der Schwank gewinnt von diesem Gesichtspunkt<lb/> aus eine eigne Bedeutung. Den „Fleck auf der Ehr" schrieb Anzengrnber<lb/> gleichfalls auf Anregung eines Lokalereignisses, mit der Tendenz, unschuldig<lb/> Verurteilten solle vou Staats wegen ein Dokument über ihre Unschuld mit¬<lb/> gegeben werden, um sie vor jedem Verdacht zu schützen. Die ganze Welt<lb/> des Dorfes hat Anzengruber mit unerschöpflicher Phantasie nach allen Rich¬<lb/> tungen hin durchforscht. Im „Ledigen Hof" ist die satirische Tendenz gegen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0055]
Dinge. Er war geradezu religiös indifferent. Vielleicht kommt darin nicht
sowohl der Unterschied der beiden Wiener Dichter, als vielmehr der des acht¬
zehnte!? und neunzehnten Jahrhunderts zu Tage.
Auch einige Verwandtschaft mit Gottfried Keller, auf die der Biograph
hindeutet, ist nicht zu übersehe». Die knabenhafte Vertrautheit des grünen
Heinrich mit dem lieben Gott ist anch ein gut anzengrnberisches Motiv, und
dem Geiste der sieben Legenden ist mancher derbe Schwank Anzengrnbers ver¬
wandt. In dem Lebensideal des klugen, praktischen, heitern Mannes treffen
der Schweizer und der Österreicher zusammen. Aber Keller ist doch vor¬
wiegend der Dichter der reinen Schönheit, Anzengruber hat immer das Be¬
dürfnis zur Tendenz; ist es keine polemische gegen Kirche und Gesellschaft, so ist
es eine veristische, ans die große Wirklichkeit des Lebens selbst gerichtete, wie
im „Sternsteinhof." An Bildung und Sprachkunst ist Keller dem Österreicher
weit überlegen, dieser aber hat die höhere und schwierigere Form des Dramas
beherrscht, seine Wirksamkeit ist stärker, wie die aller Vühnenwerke im Vergleich
zum Buche. Nur dürfte diese Wirksamkeit uicht bloß wegen des Dia¬
lektes, sondern auch wegen des Pathos, das die Werke erfüllt, vorwiegend
auf den katholischen Süden Deutschlands beschränkt bleiben, in dem sie wurzeln.
Doch stehen dieser Vermutung Erfolge Anzengrnbers als Dramatiker und Er¬
zähler im deutschen Norden entgegen. Zu seinen Lebzeiten hat ihn gerade der
Beifall und die thätige Liebe von Norddeutschen gefordert.
Daß wir mit unserm Versuch, aus der Innerlichkeit des Dichters den
Charakterseiner Werke zu erfassen, nicht zur Betrachtung aller seiner Dramen
und Erzählungen gelangen konnten, ist uns wohl bewußt; uur seine Meister¬
werke sind dabei in Betracht gekommen. Anzengrnber gehört nicht in die
Reihe jener Dichter, von denen der größte Goethe war, die mit Vorliebe
Persönliche Erlebnisse, künstlerisch verdichtet, zur Anschauung gebracht haben.
Er war vorwiegend Realist und ist nach und nach Verist geworden. Vielfach
hat er Motive zu seinen Dichtungen bloß ans den Ereignissen seiner Zeit
oder aus ihren Zuständen geholt. Die „Kreuzelschreiber" gehen auf ein wirk¬
liches Ereignis zurück: eine bairische Dorfgemeinde hatte eine Adresse an
Döllinger zur Zeit seiner Kämpfe gegen Rom gerichtet und die Pfarrer da¬
durch gegen sich aufgebracht. Der „Doppelselbstmord" entstand zu einer Zeit,
wo in Wien eine krankhafte sucht der unglücklichen Liebespaare herrschte, sich
gemeinsam umzubringen. Der Schwank gewinnt von diesem Gesichtspunkt
aus eine eigne Bedeutung. Den „Fleck auf der Ehr" schrieb Anzengrnber
gleichfalls auf Anregung eines Lokalereignisses, mit der Tendenz, unschuldig
Verurteilten solle vou Staats wegen ein Dokument über ihre Unschuld mit¬
gegeben werden, um sie vor jedem Verdacht zu schützen. Die ganze Welt
des Dorfes hat Anzengruber mit unerschöpflicher Phantasie nach allen Rich¬
tungen hin durchforscht. Im „Ledigen Hof" ist die satirische Tendenz gegen
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