Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.man Zahlen und Texte. Später galt dies als ein Merkmal einer ursprüng¬ Wenn es, wie Rümelin sagt, Aufgabe der Statistik als Wissenschaft ist, man Zahlen und Texte. Später galt dies als ein Merkmal einer ursprüng¬ Wenn es, wie Rümelin sagt, Aufgabe der Statistik als Wissenschaft ist, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0504" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/210371"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1391" prev="#ID_1390"> man Zahlen und Texte. Später galt dies als ein Merkmal einer ursprüng¬<lb/> lichen Naivität, das abgestreift werden müsse. Mau meinte, die Darstellung<lb/> offenkundiger oder doch leicht zu ergründender Dinge sei leine rechte Kunst<lb/> und verdiene nicht den Namen einer Wissenschaft. Für diese neue Wissenschaft<lb/> galt es aber, Lehrstühle an den Hochschulen zu erobern. In diesem Kampfe<lb/> um die Gleichberechtigung mit andern Wissenszweigen erfolgte die Lossagung<lb/> von der alten ursprünglichen Länder- und Völkerkunde, die Abstoßung der<lb/> beschreibenden und erläuternden Texte. Die Statistik ist aber nicht nur eine<lb/> wissenschaftliche Methode der Masseubevbachtnng und der Darstellung in<lb/> Zahlen oder in bildlichen Versinnlichungen, sonst würde sie in der That das<lb/> Urteil von Sah verdienen, der sie zu einer Dienerin der Nationalökonomie<lb/> herabgesetzt hat; die Statistik hat auch die Ursachen der Erscheinungen zu er¬<lb/> forschen. Wenn wir auf dem Wege der politischen Arithmetik zur Erkenntnis<lb/> einer Phhsivlogie der Gesellschaft gelangen wollen, so ist ein erläuternder Text<lb/> unerläßlich. Aber auch beim einfachern Geschäfte der amtlichen Statistik ist<lb/> der Text unentbehrlich, um Mißverständnisse« vorzubeugen und um Darstellung<lb/> und Beschreibung mit der Erklärung zu verbinden. Das Beispiel der Eng¬<lb/> länder, die die Ursachen der Erscheinungen vernachlässigen und nur die Zahlen<lb/> beachten, in deren längern Jahresreihen sich die verschiednen Einflüsse wieder<lb/> ausgleiche» sollen, verdient keine Nachahmung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1392" next="#ID_1393"> Wenn es, wie Rümelin sagt, Aufgabe der Statistik als Wissenschaft ist,<lb/> „den Zahlen den Mund zu öffnen/' so muß es auch als Aufgabe der amt¬<lb/> lichen Statistik, die ja bei der Entstehung dieser Zahlen zunächst beteiligt ist,<lb/> anerkannt werden, dafür zu sorgen, daß diese stummen Zahlen bei der Nach¬<lb/> forschung nach der Ursache der Erscheinungen nicht mißdeutet werden. Wenn<lb/> schon die Gelegenheiten zu Irrtümern bei der Erhebung selbst und dann<lb/> wieder bei der ersten Verarbeitung und Darstellung des Urstvffes recht zahl¬<lb/> reich sind, so entsteht eine neue Gefahr bei der Deutung der stummen Zahl,<lb/> die der knappste und nur äußerliche Ausdruck der Erscheinung ist. Die amt¬<lb/> liche Statistik, die nur Zahlen bringt, ist sozusagen in dem Verfahren zur<lb/> Ermittlung der Wahrheit nur der Thatrichter; das Urteil selbst wird gefällt<lb/> vom Politiker, vom Parlamentarier, von Fachgelehrten, vom Zeitungsschreiber<lb/> oder Zeitungsleser, vom Staatsmanne, vom Gebildeten wie vom Ungebildeten,<lb/> vom Gutmeinendeu wie vom Übelwollenden. Man sagt wohl: „Zahlen be¬<lb/> weisen"; aber was beweisen sie? Der Gegner, dein wir Zahlen vorführen,<lb/> wird dadurch nur mnndtvt gemacht und für den Augenblick in einen Zustand<lb/> der Wehrlosigkeit versetzt. Daher die Vorliebe von Dilettanten und angehenden<lb/> Politikern für statistische Zahlen, vövipimur sxsÄö roeti. Man könnte weit<lb/> richtiger und aus der Erfahrung schöpfend sagen: „Zahlen täuschen." Goethe<lb/> schon meinte, daß man mit Zahlen alles beweisen könne. Die Statistik<lb/> erfüllt ihre Aufgabe nur zur Hälfte, wenn sie nur Zahlen, sozusagen nur</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0504]
man Zahlen und Texte. Später galt dies als ein Merkmal einer ursprüng¬
lichen Naivität, das abgestreift werden müsse. Mau meinte, die Darstellung
offenkundiger oder doch leicht zu ergründender Dinge sei leine rechte Kunst
und verdiene nicht den Namen einer Wissenschaft. Für diese neue Wissenschaft
galt es aber, Lehrstühle an den Hochschulen zu erobern. In diesem Kampfe
um die Gleichberechtigung mit andern Wissenszweigen erfolgte die Lossagung
von der alten ursprünglichen Länder- und Völkerkunde, die Abstoßung der
beschreibenden und erläuternden Texte. Die Statistik ist aber nicht nur eine
wissenschaftliche Methode der Masseubevbachtnng und der Darstellung in
Zahlen oder in bildlichen Versinnlichungen, sonst würde sie in der That das
Urteil von Sah verdienen, der sie zu einer Dienerin der Nationalökonomie
herabgesetzt hat; die Statistik hat auch die Ursachen der Erscheinungen zu er¬
forschen. Wenn wir auf dem Wege der politischen Arithmetik zur Erkenntnis
einer Phhsivlogie der Gesellschaft gelangen wollen, so ist ein erläuternder Text
unerläßlich. Aber auch beim einfachern Geschäfte der amtlichen Statistik ist
der Text unentbehrlich, um Mißverständnisse« vorzubeugen und um Darstellung
und Beschreibung mit der Erklärung zu verbinden. Das Beispiel der Eng¬
länder, die die Ursachen der Erscheinungen vernachlässigen und nur die Zahlen
beachten, in deren längern Jahresreihen sich die verschiednen Einflüsse wieder
ausgleiche» sollen, verdient keine Nachahmung.
Wenn es, wie Rümelin sagt, Aufgabe der Statistik als Wissenschaft ist,
„den Zahlen den Mund zu öffnen/' so muß es auch als Aufgabe der amt¬
lichen Statistik, die ja bei der Entstehung dieser Zahlen zunächst beteiligt ist,
anerkannt werden, dafür zu sorgen, daß diese stummen Zahlen bei der Nach¬
forschung nach der Ursache der Erscheinungen nicht mißdeutet werden. Wenn
schon die Gelegenheiten zu Irrtümern bei der Erhebung selbst und dann
wieder bei der ersten Verarbeitung und Darstellung des Urstvffes recht zahl¬
reich sind, so entsteht eine neue Gefahr bei der Deutung der stummen Zahl,
die der knappste und nur äußerliche Ausdruck der Erscheinung ist. Die amt¬
liche Statistik, die nur Zahlen bringt, ist sozusagen in dem Verfahren zur
Ermittlung der Wahrheit nur der Thatrichter; das Urteil selbst wird gefällt
vom Politiker, vom Parlamentarier, von Fachgelehrten, vom Zeitungsschreiber
oder Zeitungsleser, vom Staatsmanne, vom Gebildeten wie vom Ungebildeten,
vom Gutmeinendeu wie vom Übelwollenden. Man sagt wohl: „Zahlen be¬
weisen"; aber was beweisen sie? Der Gegner, dein wir Zahlen vorführen,
wird dadurch nur mnndtvt gemacht und für den Augenblick in einen Zustand
der Wehrlosigkeit versetzt. Daher die Vorliebe von Dilettanten und angehenden
Politikern für statistische Zahlen, vövipimur sxsÄö roeti. Man könnte weit
richtiger und aus der Erfahrung schöpfend sagen: „Zahlen täuschen." Goethe
schon meinte, daß man mit Zahlen alles beweisen könne. Die Statistik
erfüllt ihre Aufgabe nur zur Hälfte, wenn sie nur Zahlen, sozusagen nur
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