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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Hamerling der Philosoph

Leuten hätte er schon Ehre genug erwiesen, wen" er statt seines langen Vor¬
worts Lessings kurzen Machtspruch hingesetzt hätte: "Darf ein Prediger Ko¬
mödien machen? Warum nicht? wenn er kann. Darf ein Komödienschreibcr
Predigten machen? Warum nicht? wenn er will!"

Über die Zeit, wo wir in der Stimmung des Jünglings von Sais an
jeden neuen Philosophen hinantraten, sind wir hinaus. Wir wissen längst,
daß es Thorheit ist, eine andre mit bessre Lösung der Rätsel des Daseins
zu suchen, als die der christliche Glaube darbietet. Wenn wir eine neue
Metaphysik -- denn das ist Hamerlings Buch -- in die Hand nehmen, so
geschieht es ohne alle Aufregung in der Erwartung, darin einige neue An¬
sichten und Aufschlüsse zu finden über Dinge, die imierhalb der Grenzen des
erkennbaren und der Hauptsache nach längst erkannten liege"; im vorliegende"
Falle aber interessiert es uns noch weit mehr, daß wir einmal das seltene
Glück haben sollen, einen Dichter von Bedeutung seine Weltansicht im Zu¬
sammenhang darstellen zu hören, die in seinen Dichterwerken unvollständig,
zerstreut und mit fremden Auschauungen vermischt (denn der wahre Dichter
stellt doch nicht immer nur sich selbst dar) sozusagen herumliegt. Das
Philosophische System eines Menschen ist seine geordnete Weltansicht. Und
wie jeder seinen eignen leiblichen Gesichtskreis hat, den kein andrer haben
kann, so lauge er nicht des ersten Stelle einnimmt, so hat auch jeder selb¬
ständig denkende Mann seine eigne Weltansicht, und zwar nicht bloß für einige
Augenblicke, denn in geistiger Beziehung kann nie einer an die Stelle des
andern treten. Gelingt also einem Manne in geistiger Beziehung das Kunst¬
stück, das im Gebiete der rättmlichen Erscheinungen Mutter Natur für unser
Auge besorgt, indem sie, wo immer wir auch stehen mögen, alle über uns
befindlichen sichtbaren Nauinpuukte zu einer schönen halben Hohlkugel an¬
ordnet, die sie über unsern kreisrunden Horizont stülpt, gelingt es ihm, das
Gewirr seiner Kenntnisse und Erfahrungen in ein geordnetes System aufzu¬
lösen, so kann dieses System nur sein eignes sein, und andre können wohl
daran lernen, wie man so etwas macht, aber sie können sichs nicht vollständig
aneignen. Teilweise schon, wie sich ja auch die körperlichen Gesichtskreise der
verschiednen Standpunkte teilweise decken.

Wollten wir Hamerling in eine Schule einzwängen, so müßten nur ihn
zu den Positivisten rechnen. Die Welt ist! Nach ihrem Ursprung zu fragen
hat keinen Sinn. Jenseits derselben giebt es nichts. So wie sie ist, ist sie
begreiflich. Das ist ungefähr der Kern seiner Metaphysik. "Erklären läßt
sich nnr, sagt er (I, 108), was eine Ursache hat. Das Sein kann keine
Ursache haben; denn diese Ursache müßte doch auch sein, wäre also ein Sein
vor dem Sem." Und S. 134: "Niemals ist das Endliche ans dem Un¬
endlichen hervorgegangen; es ist noch bis zum heutigen Tage in ihm. Beide
sind von Anbeginn und in alle Ewigkeit nur in und mit und durch einander.


Hamerling der Philosoph

Leuten hätte er schon Ehre genug erwiesen, wen» er statt seines langen Vor¬
worts Lessings kurzen Machtspruch hingesetzt hätte: „Darf ein Prediger Ko¬
mödien machen? Warum nicht? wenn er kann. Darf ein Komödienschreibcr
Predigten machen? Warum nicht? wenn er will!"

Über die Zeit, wo wir in der Stimmung des Jünglings von Sais an
jeden neuen Philosophen hinantraten, sind wir hinaus. Wir wissen längst,
daß es Thorheit ist, eine andre mit bessre Lösung der Rätsel des Daseins
zu suchen, als die der christliche Glaube darbietet. Wenn wir eine neue
Metaphysik — denn das ist Hamerlings Buch — in die Hand nehmen, so
geschieht es ohne alle Aufregung in der Erwartung, darin einige neue An¬
sichten und Aufschlüsse zu finden über Dinge, die imierhalb der Grenzen des
erkennbaren und der Hauptsache nach längst erkannten liege»; im vorliegende»
Falle aber interessiert es uns noch weit mehr, daß wir einmal das seltene
Glück haben sollen, einen Dichter von Bedeutung seine Weltansicht im Zu¬
sammenhang darstellen zu hören, die in seinen Dichterwerken unvollständig,
zerstreut und mit fremden Auschauungen vermischt (denn der wahre Dichter
stellt doch nicht immer nur sich selbst dar) sozusagen herumliegt. Das
Philosophische System eines Menschen ist seine geordnete Weltansicht. Und
wie jeder seinen eignen leiblichen Gesichtskreis hat, den kein andrer haben
kann, so lauge er nicht des ersten Stelle einnimmt, so hat auch jeder selb¬
ständig denkende Mann seine eigne Weltansicht, und zwar nicht bloß für einige
Augenblicke, denn in geistiger Beziehung kann nie einer an die Stelle des
andern treten. Gelingt also einem Manne in geistiger Beziehung das Kunst¬
stück, das im Gebiete der rättmlichen Erscheinungen Mutter Natur für unser
Auge besorgt, indem sie, wo immer wir auch stehen mögen, alle über uns
befindlichen sichtbaren Nauinpuukte zu einer schönen halben Hohlkugel an¬
ordnet, die sie über unsern kreisrunden Horizont stülpt, gelingt es ihm, das
Gewirr seiner Kenntnisse und Erfahrungen in ein geordnetes System aufzu¬
lösen, so kann dieses System nur sein eignes sein, und andre können wohl
daran lernen, wie man so etwas macht, aber sie können sichs nicht vollständig
aneignen. Teilweise schon, wie sich ja auch die körperlichen Gesichtskreise der
verschiednen Standpunkte teilweise decken.

Wollten wir Hamerling in eine Schule einzwängen, so müßten nur ihn
zu den Positivisten rechnen. Die Welt ist! Nach ihrem Ursprung zu fragen
hat keinen Sinn. Jenseits derselben giebt es nichts. So wie sie ist, ist sie
begreiflich. Das ist ungefähr der Kern seiner Metaphysik. „Erklären läßt
sich nnr, sagt er (I, 108), was eine Ursache hat. Das Sein kann keine
Ursache haben; denn diese Ursache müßte doch auch sein, wäre also ein Sein
vor dem Sem." Und S. 134: „Niemals ist das Endliche ans dem Un¬
endlichen hervorgegangen; es ist noch bis zum heutigen Tage in ihm. Beide
sind von Anbeginn und in alle Ewigkeit nur in und mit und durch einander.


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[0479] Hamerling der Philosoph Leuten hätte er schon Ehre genug erwiesen, wen» er statt seines langen Vor¬ worts Lessings kurzen Machtspruch hingesetzt hätte: „Darf ein Prediger Ko¬ mödien machen? Warum nicht? wenn er kann. Darf ein Komödienschreibcr Predigten machen? Warum nicht? wenn er will!" Über die Zeit, wo wir in der Stimmung des Jünglings von Sais an jeden neuen Philosophen hinantraten, sind wir hinaus. Wir wissen längst, daß es Thorheit ist, eine andre mit bessre Lösung der Rätsel des Daseins zu suchen, als die der christliche Glaube darbietet. Wenn wir eine neue Metaphysik — denn das ist Hamerlings Buch — in die Hand nehmen, so geschieht es ohne alle Aufregung in der Erwartung, darin einige neue An¬ sichten und Aufschlüsse zu finden über Dinge, die imierhalb der Grenzen des erkennbaren und der Hauptsache nach längst erkannten liege»; im vorliegende» Falle aber interessiert es uns noch weit mehr, daß wir einmal das seltene Glück haben sollen, einen Dichter von Bedeutung seine Weltansicht im Zu¬ sammenhang darstellen zu hören, die in seinen Dichterwerken unvollständig, zerstreut und mit fremden Auschauungen vermischt (denn der wahre Dichter stellt doch nicht immer nur sich selbst dar) sozusagen herumliegt. Das Philosophische System eines Menschen ist seine geordnete Weltansicht. Und wie jeder seinen eignen leiblichen Gesichtskreis hat, den kein andrer haben kann, so lauge er nicht des ersten Stelle einnimmt, so hat auch jeder selb¬ ständig denkende Mann seine eigne Weltansicht, und zwar nicht bloß für einige Augenblicke, denn in geistiger Beziehung kann nie einer an die Stelle des andern treten. Gelingt also einem Manne in geistiger Beziehung das Kunst¬ stück, das im Gebiete der rättmlichen Erscheinungen Mutter Natur für unser Auge besorgt, indem sie, wo immer wir auch stehen mögen, alle über uns befindlichen sichtbaren Nauinpuukte zu einer schönen halben Hohlkugel an¬ ordnet, die sie über unsern kreisrunden Horizont stülpt, gelingt es ihm, das Gewirr seiner Kenntnisse und Erfahrungen in ein geordnetes System aufzu¬ lösen, so kann dieses System nur sein eignes sein, und andre können wohl daran lernen, wie man so etwas macht, aber sie können sichs nicht vollständig aneignen. Teilweise schon, wie sich ja auch die körperlichen Gesichtskreise der verschiednen Standpunkte teilweise decken. Wollten wir Hamerling in eine Schule einzwängen, so müßten nur ihn zu den Positivisten rechnen. Die Welt ist! Nach ihrem Ursprung zu fragen hat keinen Sinn. Jenseits derselben giebt es nichts. So wie sie ist, ist sie begreiflich. Das ist ungefähr der Kern seiner Metaphysik. „Erklären läßt sich nnr, sagt er (I, 108), was eine Ursache hat. Das Sein kann keine Ursache haben; denn diese Ursache müßte doch auch sein, wäre also ein Sein vor dem Sem." Und S. 134: „Niemals ist das Endliche ans dem Un¬ endlichen hervorgegangen; es ist noch bis zum heutigen Tage in ihm. Beide sind von Anbeginn und in alle Ewigkeit nur in und mit und durch einander.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/479>, abgerufen am 24.07.2024.