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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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was kann die Schule zur Charakterbildung thun?

besteht, sind diese so eingeschränkt, daß ihnen eine erziehende Thätigkeit kaum
möglich ist. Daß man bei dem heutigen Humanitätsdusel dem Lehrer die
Strnfgewalt weit über das Maß beschnitten hat, ist ja bekannt, aber man hat
ihm auch den Unterricht festgelegt, man nötigt ihn schon ein Jahr vorher, ehe
er noch seine Schüler gesehen hat, ehe er weiß, was er ihnen zumuten kann,
anzugeben, was er mit ihnen lesen will! So kommt man den Zuständen in
Frankreich nahe, wo der Unterrichtsminister zu jeder Stunde weiß, was im
entferntesten Lheeum gerade vorgenommen wird.

Unter diesen Umständen läßt sich die Frage, was die Schule thun kann,
um den Charakter zu bilden, sehr einfach beantworten: Herzlich wenig oder --
nichts.

Was könnte sie aber thun? Wenn auf alleu Stufen der Unterrichts¬
verwaltung eine größere Selbständigkeit herrschte, so käme das zuletzt oder
zuerst, wie man will, den Schülern zugute. Fühlt sich der Lehrer als Mann,
der seinen Vorgesetzten zwar Gehorsam schuldet, aber auch von ihnen geachtet
wird, weil er dieselbe Bildung besitzt wie sie und auch einmal an ihre Stelle
treten kaun, so wird er auch im Schiller den künftigen Mann sehen und ihn
demgemäß behandeln. Er wird ihn nicht von vornherein für seinen Feind
halten, der alles darauf anlegt, ihm zu schaden und ihn zu betrügen,
sondern wird ihm mit Vertrauen entgegenkommen und in den meisten Fällen
auch Vertrauen finden. Dabei müssen wir wieder an eine Verfügung von
oben denken. Um zu verHuten, daß Unterschriften gefälscht werden, haben
einige Schulkvllegieu oder das Ministerium bestimmt, daß Arrestzcttcl dem
Schüler niemals in die Hand gegeben werden dürfen, sondern mit der Post
oder durch den Schuldiener den Eltern zugestellt werden sollen. Das heißt aber
doch jeden Schüler ohne Unterschied von vornherein für einen Fälscher erkläre".
Weil der eine oder der andre aus Angst vor der Strafe einmal die Unter¬
schrift des Vaters nachmacht, wird jedem, der etwas nicht gelernt hat, gesagt,
daß man ihn anch für einen Betrüger halte. Wo soll da das Vertrauen
herkommen? Wie kaun man zur Ehrlichkeit und Offenheit erziehen, wenn
man dem Jungen keine Gelegenheit giebt, ehrlich und offen zu sein? Und
verhütet man denn wirklich den Betrug? Wir könnten Fälle anführen, wo
gewitzigte Burschen mit Hilfe des Dienstmädchens, sogar des Briefträgers
solche Briefe an sich zu bringen gewußt und der Schule ein Schnippchen ge¬
schlagen haben. Durch diese Behandlung drängt man die Jungen geradezu
auf den Weg des Betruges. Denn was vermag alle Weisheit des Lehrers
gegen die Erfindungskraft der Jungen? Also fort damit! Man halte den
Schüler so lange für ehrlich, bis er Beweise vom Gegenteil gegeben hat, dann
wird er sich auch der Offenheit und Ehrlichkeit befleißigen.

Mit Strafen soll der Lehrer sparsam sein. Das ist ein sehr richtiger Grund¬
satz, der aber doch in der Anwendung seine Grenzen findet. So gewissenlos


was kann die Schule zur Charakterbildung thun?

besteht, sind diese so eingeschränkt, daß ihnen eine erziehende Thätigkeit kaum
möglich ist. Daß man bei dem heutigen Humanitätsdusel dem Lehrer die
Strnfgewalt weit über das Maß beschnitten hat, ist ja bekannt, aber man hat
ihm auch den Unterricht festgelegt, man nötigt ihn schon ein Jahr vorher, ehe
er noch seine Schüler gesehen hat, ehe er weiß, was er ihnen zumuten kann,
anzugeben, was er mit ihnen lesen will! So kommt man den Zuständen in
Frankreich nahe, wo der Unterrichtsminister zu jeder Stunde weiß, was im
entferntesten Lheeum gerade vorgenommen wird.

Unter diesen Umständen läßt sich die Frage, was die Schule thun kann,
um den Charakter zu bilden, sehr einfach beantworten: Herzlich wenig oder —
nichts.

Was könnte sie aber thun? Wenn auf alleu Stufen der Unterrichts¬
verwaltung eine größere Selbständigkeit herrschte, so käme das zuletzt oder
zuerst, wie man will, den Schülern zugute. Fühlt sich der Lehrer als Mann,
der seinen Vorgesetzten zwar Gehorsam schuldet, aber auch von ihnen geachtet
wird, weil er dieselbe Bildung besitzt wie sie und auch einmal an ihre Stelle
treten kaun, so wird er auch im Schiller den künftigen Mann sehen und ihn
demgemäß behandeln. Er wird ihn nicht von vornherein für seinen Feind
halten, der alles darauf anlegt, ihm zu schaden und ihn zu betrügen,
sondern wird ihm mit Vertrauen entgegenkommen und in den meisten Fällen
auch Vertrauen finden. Dabei müssen wir wieder an eine Verfügung von
oben denken. Um zu verHuten, daß Unterschriften gefälscht werden, haben
einige Schulkvllegieu oder das Ministerium bestimmt, daß Arrestzcttcl dem
Schüler niemals in die Hand gegeben werden dürfen, sondern mit der Post
oder durch den Schuldiener den Eltern zugestellt werden sollen. Das heißt aber
doch jeden Schüler ohne Unterschied von vornherein für einen Fälscher erkläre».
Weil der eine oder der andre aus Angst vor der Strafe einmal die Unter¬
schrift des Vaters nachmacht, wird jedem, der etwas nicht gelernt hat, gesagt,
daß man ihn anch für einen Betrüger halte. Wo soll da das Vertrauen
herkommen? Wie kaun man zur Ehrlichkeit und Offenheit erziehen, wenn
man dem Jungen keine Gelegenheit giebt, ehrlich und offen zu sein? Und
verhütet man denn wirklich den Betrug? Wir könnten Fälle anführen, wo
gewitzigte Burschen mit Hilfe des Dienstmädchens, sogar des Briefträgers
solche Briefe an sich zu bringen gewußt und der Schule ein Schnippchen ge¬
schlagen haben. Durch diese Behandlung drängt man die Jungen geradezu
auf den Weg des Betruges. Denn was vermag alle Weisheit des Lehrers
gegen die Erfindungskraft der Jungen? Also fort damit! Man halte den
Schüler so lange für ehrlich, bis er Beweise vom Gegenteil gegeben hat, dann
wird er sich auch der Offenheit und Ehrlichkeit befleißigen.

Mit Strafen soll der Lehrer sparsam sein. Das ist ein sehr richtiger Grund¬
satz, der aber doch in der Anwendung seine Grenzen findet. So gewissenlos


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[0476] was kann die Schule zur Charakterbildung thun? besteht, sind diese so eingeschränkt, daß ihnen eine erziehende Thätigkeit kaum möglich ist. Daß man bei dem heutigen Humanitätsdusel dem Lehrer die Strnfgewalt weit über das Maß beschnitten hat, ist ja bekannt, aber man hat ihm auch den Unterricht festgelegt, man nötigt ihn schon ein Jahr vorher, ehe er noch seine Schüler gesehen hat, ehe er weiß, was er ihnen zumuten kann, anzugeben, was er mit ihnen lesen will! So kommt man den Zuständen in Frankreich nahe, wo der Unterrichtsminister zu jeder Stunde weiß, was im entferntesten Lheeum gerade vorgenommen wird. Unter diesen Umständen läßt sich die Frage, was die Schule thun kann, um den Charakter zu bilden, sehr einfach beantworten: Herzlich wenig oder — nichts. Was könnte sie aber thun? Wenn auf alleu Stufen der Unterrichts¬ verwaltung eine größere Selbständigkeit herrschte, so käme das zuletzt oder zuerst, wie man will, den Schülern zugute. Fühlt sich der Lehrer als Mann, der seinen Vorgesetzten zwar Gehorsam schuldet, aber auch von ihnen geachtet wird, weil er dieselbe Bildung besitzt wie sie und auch einmal an ihre Stelle treten kaun, so wird er auch im Schiller den künftigen Mann sehen und ihn demgemäß behandeln. Er wird ihn nicht von vornherein für seinen Feind halten, der alles darauf anlegt, ihm zu schaden und ihn zu betrügen, sondern wird ihm mit Vertrauen entgegenkommen und in den meisten Fällen auch Vertrauen finden. Dabei müssen wir wieder an eine Verfügung von oben denken. Um zu verHuten, daß Unterschriften gefälscht werden, haben einige Schulkvllegieu oder das Ministerium bestimmt, daß Arrestzcttcl dem Schüler niemals in die Hand gegeben werden dürfen, sondern mit der Post oder durch den Schuldiener den Eltern zugestellt werden sollen. Das heißt aber doch jeden Schüler ohne Unterschied von vornherein für einen Fälscher erkläre». Weil der eine oder der andre aus Angst vor der Strafe einmal die Unter¬ schrift des Vaters nachmacht, wird jedem, der etwas nicht gelernt hat, gesagt, daß man ihn anch für einen Betrüger halte. Wo soll da das Vertrauen herkommen? Wie kaun man zur Ehrlichkeit und Offenheit erziehen, wenn man dem Jungen keine Gelegenheit giebt, ehrlich und offen zu sein? Und verhütet man denn wirklich den Betrug? Wir könnten Fälle anführen, wo gewitzigte Burschen mit Hilfe des Dienstmädchens, sogar des Briefträgers solche Briefe an sich zu bringen gewußt und der Schule ein Schnippchen ge¬ schlagen haben. Durch diese Behandlung drängt man die Jungen geradezu auf den Weg des Betruges. Denn was vermag alle Weisheit des Lehrers gegen die Erfindungskraft der Jungen? Also fort damit! Man halte den Schüler so lange für ehrlich, bis er Beweise vom Gegenteil gegeben hat, dann wird er sich auch der Offenheit und Ehrlichkeit befleißigen. Mit Strafen soll der Lehrer sparsam sein. Das ist ein sehr richtiger Grund¬ satz, der aber doch in der Anwendung seine Grenzen findet. So gewissenlos

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/476>, abgerufen am 24.07.2024.