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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Was kann die Schule zur Charakterbildung thun?

bei der Eröffnung der Schulkonferenz. Gerade diese Vorgeschichte giebt uns
Stoff zur Beantwortung der Frage.

Wenn der Kaiser ein Wort seines Lehrers rühmt: "Wer erziehen will,
muß selbst erzogen sein," so darf man wohl erst recht sagen, daß niemand
einen Charakter bilden kann, der nicht selbst ein Charakter ist. Das erste aber,
was zum Charakter gehört, ist Selbständigkeit, und gerade diese vermissen wir
in der gesamten Unterrichtsverwaltung. Jene Frage ist entweder so wichtig,
daß sich alle Lehrer darüber klar sein müssen -- dann durfte man nicht erst
ans die Anregung von oben warten --, oder sie ist minder wichtig -- dann
brauchte man sie nicht noch nachträglich zu stellen. Es erinnert das an das
Vorgehen einiger Berliner Ghmnasialdirektoren, die unmittelbar nach der Er¬
öffnung der Schulkonserenz ihren Jungen drei Stunden freigaben, damit sie
aufs Eis gehen könnten. Verträgt das der Unterricht, dann streiche man
überhaupt diese Stunden, verträgt er es nicht, dann hätte man es auch in
diesem Falle lassen sollen. Nun geschieht es zwar nicht alle Tage, das; der
Kaiser persönlich in die Angelegenheiten der Schule eingreift, aber die Ab¬
hängigkeit der Provinzialbehörden von Berlin ist etwas Bleibendes, und wie
die Schulkollegieu sich in allem und jedem uach dem Ministerium richten
müssen, so schreiben sie ihrerseits wieder den Direktoren bis ins kleinste vor,
wie sie sich zu verhalten haben, sodaß diese als Direktoren kaum noch Persön¬
lichkeiten zu nennen sind. So bestimmt z. B. die Behörde, daß der Unterricht
am letzten Tage vor den Ferien bis um ein Uhr dauert, daß aber auswärtige
Schüler, die sonst an diesem Tage ihre Heimat nicht erreichen können, um elf,
frühestens um zehn entlassen werde" dürfen. Nun kommt es aber vor, daß
sie zu einer noch frühern Stunde abreisen müssen. Wagt in diesem Falle der
Direktor den Schüler zu entlassen? Wir könnten Direktoren nennen, die erst
gehorsam anfragen, wie sie sich zu verhalten haben, und nach dem Wortlaut
der Verfügung müssen sie das auch thun. Aber ist das eines Direktors
würdig? Und wie viele überflüssige Verfügungen werden erlassen! Da soll
z. B, eine neue Stimmgabel eingeführt werden. Würde es nicht genügen, das
in einem kurzen Schreiben anzuzeigen? Nein, es ergehen vier lange Verord¬
nungen, und auf jede einzelne muß der Direktor berichten. Wo soll er da
noch Zeit haben, sich um die wirkliche Leitung der Anstalt zu kümmern? Er
kann höchstens seinen Ärger an den Lehrern auslassen, und dann sind diese
Unglücklichen erst recht nicht die Männer, den Charakter ihrer Schüler zu
bilden. Mit welcher Unterwürfigkeit begegnen oft die Lehrer ihrem Direktor;
nicht wie Männer, die dieselbe Bildung haben und dieselbe Stellung ein¬
nehmen könnten, nein, wie Diener, die von der Laune ihres Herrn abhängen.
Aber freilich, das geht nach oben weiter; wo wird je ein Provinzialschnlrat
einen Direktor seinen Kollegen nennen! Und nun gar erst der Herr Ministerialrat!
Aber selbst wo ein würdiges Verhältnis zwischen dem Direktor und den Lehrern


Was kann die Schule zur Charakterbildung thun?

bei der Eröffnung der Schulkonferenz. Gerade diese Vorgeschichte giebt uns
Stoff zur Beantwortung der Frage.

Wenn der Kaiser ein Wort seines Lehrers rühmt: „Wer erziehen will,
muß selbst erzogen sein," so darf man wohl erst recht sagen, daß niemand
einen Charakter bilden kann, der nicht selbst ein Charakter ist. Das erste aber,
was zum Charakter gehört, ist Selbständigkeit, und gerade diese vermissen wir
in der gesamten Unterrichtsverwaltung. Jene Frage ist entweder so wichtig,
daß sich alle Lehrer darüber klar sein müssen — dann durfte man nicht erst
ans die Anregung von oben warten —, oder sie ist minder wichtig — dann
brauchte man sie nicht noch nachträglich zu stellen. Es erinnert das an das
Vorgehen einiger Berliner Ghmnasialdirektoren, die unmittelbar nach der Er¬
öffnung der Schulkonserenz ihren Jungen drei Stunden freigaben, damit sie
aufs Eis gehen könnten. Verträgt das der Unterricht, dann streiche man
überhaupt diese Stunden, verträgt er es nicht, dann hätte man es auch in
diesem Falle lassen sollen. Nun geschieht es zwar nicht alle Tage, das; der
Kaiser persönlich in die Angelegenheiten der Schule eingreift, aber die Ab¬
hängigkeit der Provinzialbehörden von Berlin ist etwas Bleibendes, und wie
die Schulkollegieu sich in allem und jedem uach dem Ministerium richten
müssen, so schreiben sie ihrerseits wieder den Direktoren bis ins kleinste vor,
wie sie sich zu verhalten haben, sodaß diese als Direktoren kaum noch Persön¬
lichkeiten zu nennen sind. So bestimmt z. B. die Behörde, daß der Unterricht
am letzten Tage vor den Ferien bis um ein Uhr dauert, daß aber auswärtige
Schüler, die sonst an diesem Tage ihre Heimat nicht erreichen können, um elf,
frühestens um zehn entlassen werde» dürfen. Nun kommt es aber vor, daß
sie zu einer noch frühern Stunde abreisen müssen. Wagt in diesem Falle der
Direktor den Schüler zu entlassen? Wir könnten Direktoren nennen, die erst
gehorsam anfragen, wie sie sich zu verhalten haben, und nach dem Wortlaut
der Verfügung müssen sie das auch thun. Aber ist das eines Direktors
würdig? Und wie viele überflüssige Verfügungen werden erlassen! Da soll
z. B, eine neue Stimmgabel eingeführt werden. Würde es nicht genügen, das
in einem kurzen Schreiben anzuzeigen? Nein, es ergehen vier lange Verord¬
nungen, und auf jede einzelne muß der Direktor berichten. Wo soll er da
noch Zeit haben, sich um die wirkliche Leitung der Anstalt zu kümmern? Er
kann höchstens seinen Ärger an den Lehrern auslassen, und dann sind diese
Unglücklichen erst recht nicht die Männer, den Charakter ihrer Schüler zu
bilden. Mit welcher Unterwürfigkeit begegnen oft die Lehrer ihrem Direktor;
nicht wie Männer, die dieselbe Bildung haben und dieselbe Stellung ein¬
nehmen könnten, nein, wie Diener, die von der Laune ihres Herrn abhängen.
Aber freilich, das geht nach oben weiter; wo wird je ein Provinzialschnlrat
einen Direktor seinen Kollegen nennen! Und nun gar erst der Herr Ministerialrat!
Aber selbst wo ein würdiges Verhältnis zwischen dem Direktor und den Lehrern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/475>, abgerufen am 24.07.2024.