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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Ihres Römische Geschichte

bittern, aber treffenden Worte: "Dies ist ein ungerechter Vorwurf. Er geht
ans von Leuten der Wissenschaft, von Schriftstellern, die in Gelehrsamkeit be¬
fangen mit einseitiger Vorliebe diejenigen Eigenschaften preisen, zu deren Er¬
werbung sie selbst keine Gelegenheit haben. Wenn diese Cicero verspotten,
weil er für sein Leben gefürchtet, seine Feinde ausgewiesen, sich versteckt und
geflüchtet habe, so vergessen sie, daß nicht bloß Cicero, sondern alle seine
Landsleute und Zeitgenossen, gerade wie er selbst, ihr Leben zu retten suchten,
wenn ihre siegreichen Feinde es gefährdeten." Nach den vielen gröblicher
Angriffen auf Cicero ist es eine wahre Frende, die Abschnitte zu lesen, in
denen Jhre seine Thätigkeit im Staatsleben behandelt. Er verschweigt keines¬
wegs die Fehler und Schwächen Ciceros, seine Eitelkeit und Ruhmredigkeit,
den Mangel an Selbstbeherrschung in der Verbannung und seine Unent-
schlossenheit und Kurzsichtigkeit beim Ausbruch des Bürgerkrieges; den Staats¬
mann Cicero kann auch Jhre nicht retten. Aber er hebt mit vollem Rechte
die hellen Züge in Ciceros Bilde hervor, die künstlerische Veaulagung des
Redners, seine Uneigennützigkeit in der Verwaltung der Statthalterschaft, die
Offenheit, womit er in den Briefen seine geheimsten Gedanken nusspricht, seine
Vaterlandsliebe und die Treue, mit der er während seiner beiden letzten Lebens¬
jahre bei einer Verlornen Sache ausharrt. Es ist Ihres Verdienst, uns Cicero
als Menschen wieder lieb und achtungswürdig gemacht zu haben.

Wie Jhre in der Charakterschilderung Mommsen nicht ebenbürtig ist, so
steht anch die Darlegung der innern Zustände und der Gegensätze und letzten
Ziele der Parteien hinter den entsprechenden Abschnitten bei Mommsen zurück.
Jhre erkennt richtig die Ursachen des Verfalls der Republik in den ungesunden
wirtschaftlichen Verhältnissen, dem Sklavenwcsen, dem Schwinden des Bauern¬
standes, der Ausdehnung des großen Grundbesitzes über ganz Italien. Aber
den gracchischen Bestrebungen, diese Schäden zu Heilen, bringt er wenig Teil¬
nahme entgegen. Das Auftreten des Tiberius Gracchus wird mit deu Worten
eingeleitet: "Ehe wir auf eine Würdigung des Inhalts dieser Reform eingehen,
drängt sich schon hier die Frage auf, ob es weise war in (!) einem so blut¬
jungen Staatsmann, der erst am Anfang seiner Laufbahn stand, einen voraus-
sichtlich schweren Kampf fo ans eigne Faust, aus bloßer Begeisterung und
Vertrauen auf seine Sache zu unternehmen. Der Erfolg hat gezeigt, daß er,
wenn auch nicht unrecht, so doch unweise handelte." Jhre selbst verspottet
an andern Stellen das vMvmiuur c-x LVöuw, und wir meinen, in einer
Volksnvt komme es nicht darauf an, daß der Mann, der sich zum Retter be¬
rufen fühlt, einen Kahlkopf und den Geheimratstitel oder eine Reihe Orden
vor der Brust hat. Tiberius war dreißig Jahre alt, als er den Kampf be¬
gann; er hatte an zwei Feldzügen, in Afrika und in Spanien, hier als hoher
Offizier teilgenommen; er hatte den ganzen Jammer der Adelswirtschaft kennen
lernen, und er sah richtig, wo der Hebel anzusetzen war, um eine Besserung


Ihres Römische Geschichte

bittern, aber treffenden Worte: „Dies ist ein ungerechter Vorwurf. Er geht
ans von Leuten der Wissenschaft, von Schriftstellern, die in Gelehrsamkeit be¬
fangen mit einseitiger Vorliebe diejenigen Eigenschaften preisen, zu deren Er¬
werbung sie selbst keine Gelegenheit haben. Wenn diese Cicero verspotten,
weil er für sein Leben gefürchtet, seine Feinde ausgewiesen, sich versteckt und
geflüchtet habe, so vergessen sie, daß nicht bloß Cicero, sondern alle seine
Landsleute und Zeitgenossen, gerade wie er selbst, ihr Leben zu retten suchten,
wenn ihre siegreichen Feinde es gefährdeten." Nach den vielen gröblicher
Angriffen auf Cicero ist es eine wahre Frende, die Abschnitte zu lesen, in
denen Jhre seine Thätigkeit im Staatsleben behandelt. Er verschweigt keines¬
wegs die Fehler und Schwächen Ciceros, seine Eitelkeit und Ruhmredigkeit,
den Mangel an Selbstbeherrschung in der Verbannung und seine Unent-
schlossenheit und Kurzsichtigkeit beim Ausbruch des Bürgerkrieges; den Staats¬
mann Cicero kann auch Jhre nicht retten. Aber er hebt mit vollem Rechte
die hellen Züge in Ciceros Bilde hervor, die künstlerische Veaulagung des
Redners, seine Uneigennützigkeit in der Verwaltung der Statthalterschaft, die
Offenheit, womit er in den Briefen seine geheimsten Gedanken nusspricht, seine
Vaterlandsliebe und die Treue, mit der er während seiner beiden letzten Lebens¬
jahre bei einer Verlornen Sache ausharrt. Es ist Ihres Verdienst, uns Cicero
als Menschen wieder lieb und achtungswürdig gemacht zu haben.

Wie Jhre in der Charakterschilderung Mommsen nicht ebenbürtig ist, so
steht anch die Darlegung der innern Zustände und der Gegensätze und letzten
Ziele der Parteien hinter den entsprechenden Abschnitten bei Mommsen zurück.
Jhre erkennt richtig die Ursachen des Verfalls der Republik in den ungesunden
wirtschaftlichen Verhältnissen, dem Sklavenwcsen, dem Schwinden des Bauern¬
standes, der Ausdehnung des großen Grundbesitzes über ganz Italien. Aber
den gracchischen Bestrebungen, diese Schäden zu Heilen, bringt er wenig Teil¬
nahme entgegen. Das Auftreten des Tiberius Gracchus wird mit deu Worten
eingeleitet: „Ehe wir auf eine Würdigung des Inhalts dieser Reform eingehen,
drängt sich schon hier die Frage auf, ob es weise war in (!) einem so blut¬
jungen Staatsmann, der erst am Anfang seiner Laufbahn stand, einen voraus-
sichtlich schweren Kampf fo ans eigne Faust, aus bloßer Begeisterung und
Vertrauen auf seine Sache zu unternehmen. Der Erfolg hat gezeigt, daß er,
wenn auch nicht unrecht, so doch unweise handelte." Jhre selbst verspottet
an andern Stellen das vMvmiuur c-x LVöuw, und wir meinen, in einer
Volksnvt komme es nicht darauf an, daß der Mann, der sich zum Retter be¬
rufen fühlt, einen Kahlkopf und den Geheimratstitel oder eine Reihe Orden
vor der Brust hat. Tiberius war dreißig Jahre alt, als er den Kampf be¬
gann; er hatte an zwei Feldzügen, in Afrika und in Spanien, hier als hoher
Offizier teilgenommen; er hatte den ganzen Jammer der Adelswirtschaft kennen
lernen, und er sah richtig, wo der Hebel anzusetzen war, um eine Besserung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/472>, abgerufen am 24.07.2024.