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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Drama mit Publikum

man nur mit Schaudern daran denken kann, daß derartige "Geisteserzeugnisse"
Hunderte von Abenden die Hänser und die Taschen spekulativer Theater¬
direktoren zu füllen imstande sind. Wenn das wirklich gebildete Publikum
den Stamm der Berliner Theaterbesucher ausmachte, könnten derartige Er¬
scheinungen nicht so beherrschend in den Vordergrund treten.

Von diesem Geschmack aber wird das gesamte, zum mindesten das
norddeutsche Theater beeinflußt. Bis in die kleinsten Provinzialstüdte dringen diese
faden und diese pikanten Fabrikate und werden hier von einer Menge, die den
Erfolg anbetet, willkommen geheißen oder doch meist nur mit stummem,
unthätigen Kopfschütteln begrüßt. Die Direktoren aber, namentlich von kleinen
Provinzbühnen, die bei der Betrachtung des geistigen Gesamtlebens, sehr
mit Unrecht, meist anßer Betracht bleiben, werden gezwungen, den Novitäten-
schwindel mitzumachen, wenn sie uicht mit leeren Taschen abziehen wollen.
In kleinen Städten kann man hier öfter eine lehrreiche und anch nicht ganz
trostlose Erfahrung macheu, nämlich die, daß der Novitätenhunger des
Publikums durch die Qualität des Gebotenen unbefriedigt bleibt, daß sich z. B.
die Theaterfreunde eines kleinen Städtchens X trotz einer verhältnismäßig
guten Aufführung staunend fragen, wie solch ein Stück in der Reichshaupt-
stadt mehr als fünfzig mal vor vollen Häusern in Szene gehen kann. Leider
sind das aber, wie gesagt, seltene Erscheinungen, in deu meisten Fällen wird
das, was mit Berliner Stempel als erfolgreich eingeht, gläubig hingenommen,
wenigstens muß man es gesehen haben. Denn auch in kleinen Städten
gehört es zur Bildung, über das "Zweite Gesicht" und die "Sonue" sprechen
zu können.

Ist es nun keine Frage, daß der Geschmack des modernen Publikums
bei der Unruhe, die unser Leben kennzeichnet, dem ruhigen Gedeihen einer
Kunst wenig entgegenkommt, so wird man um allerwenigsten die Bevölkerung einer
angehenden Weltstadt, die die Fehler des Modernen natürlich in schärferer
Ausprägung zeigen muß, zum ausschlaggebenden Element in Kunstsachen
macheu wollen. Die Redensart, daß der Dichter der Neuzeit die schaffende
Hand am Puls des öffentlichen Lebens haben müsse, ist in dieser Allgemein¬
heit meist ebenso eine bloße Redensart, wie bei der gegenwärtigen Gestaltung
unsrer Verhältnisse die andre, daß dieser Puls nur in der Reichshauptstadt
deutlich fühlbar sei. Glücklicherweise ist dem nicht so. Ein wirkliches, vvll-
träftiges und gesundes dichterisches Talent ist denn auch in der "Zentrale
des modernen deutschen Lebens" noch nicht hervorgetreten. Das Gute soll
gewiß genommen werden, woher und von wem es auch komme. Daß wir
aber much das Schlechte nehmen sollten, weil es aus der Reichshauptstadt
kommt, will uns nicht einleuchten. Im Gegenteil ist es eine ganz besonders
wichtige Aufgabe, die de" übrige" Bildnngsmittelpnnkten im Reiche zufällt,
diesem Einflüsse mit allen Kräften zu begegnen. Ein wirklich thatkräftiges


Drama mit Publikum

man nur mit Schaudern daran denken kann, daß derartige „Geisteserzeugnisse"
Hunderte von Abenden die Hänser und die Taschen spekulativer Theater¬
direktoren zu füllen imstande sind. Wenn das wirklich gebildete Publikum
den Stamm der Berliner Theaterbesucher ausmachte, könnten derartige Er¬
scheinungen nicht so beherrschend in den Vordergrund treten.

Von diesem Geschmack aber wird das gesamte, zum mindesten das
norddeutsche Theater beeinflußt. Bis in die kleinsten Provinzialstüdte dringen diese
faden und diese pikanten Fabrikate und werden hier von einer Menge, die den
Erfolg anbetet, willkommen geheißen oder doch meist nur mit stummem,
unthätigen Kopfschütteln begrüßt. Die Direktoren aber, namentlich von kleinen
Provinzbühnen, die bei der Betrachtung des geistigen Gesamtlebens, sehr
mit Unrecht, meist anßer Betracht bleiben, werden gezwungen, den Novitäten-
schwindel mitzumachen, wenn sie uicht mit leeren Taschen abziehen wollen.
In kleinen Städten kann man hier öfter eine lehrreiche und anch nicht ganz
trostlose Erfahrung macheu, nämlich die, daß der Novitätenhunger des
Publikums durch die Qualität des Gebotenen unbefriedigt bleibt, daß sich z. B.
die Theaterfreunde eines kleinen Städtchens X trotz einer verhältnismäßig
guten Aufführung staunend fragen, wie solch ein Stück in der Reichshaupt-
stadt mehr als fünfzig mal vor vollen Häusern in Szene gehen kann. Leider
sind das aber, wie gesagt, seltene Erscheinungen, in deu meisten Fällen wird
das, was mit Berliner Stempel als erfolgreich eingeht, gläubig hingenommen,
wenigstens muß man es gesehen haben. Denn auch in kleinen Städten
gehört es zur Bildung, über das „Zweite Gesicht" und die „Sonue" sprechen
zu können.

Ist es nun keine Frage, daß der Geschmack des modernen Publikums
bei der Unruhe, die unser Leben kennzeichnet, dem ruhigen Gedeihen einer
Kunst wenig entgegenkommt, so wird man um allerwenigsten die Bevölkerung einer
angehenden Weltstadt, die die Fehler des Modernen natürlich in schärferer
Ausprägung zeigen muß, zum ausschlaggebenden Element in Kunstsachen
macheu wollen. Die Redensart, daß der Dichter der Neuzeit die schaffende
Hand am Puls des öffentlichen Lebens haben müsse, ist in dieser Allgemein¬
heit meist ebenso eine bloße Redensart, wie bei der gegenwärtigen Gestaltung
unsrer Verhältnisse die andre, daß dieser Puls nur in der Reichshauptstadt
deutlich fühlbar sei. Glücklicherweise ist dem nicht so. Ein wirkliches, vvll-
träftiges und gesundes dichterisches Talent ist denn auch in der „Zentrale
des modernen deutschen Lebens" noch nicht hervorgetreten. Das Gute soll
gewiß genommen werden, woher und von wem es auch komme. Daß wir
aber much das Schlechte nehmen sollten, weil es aus der Reichshauptstadt
kommt, will uns nicht einleuchten. Im Gegenteil ist es eine ganz besonders
wichtige Aufgabe, die de» übrige» Bildnngsmittelpnnkten im Reiche zufällt,
diesem Einflüsse mit allen Kräften zu begegnen. Ein wirklich thatkräftiges


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[0438] Drama mit Publikum man nur mit Schaudern daran denken kann, daß derartige „Geisteserzeugnisse" Hunderte von Abenden die Hänser und die Taschen spekulativer Theater¬ direktoren zu füllen imstande sind. Wenn das wirklich gebildete Publikum den Stamm der Berliner Theaterbesucher ausmachte, könnten derartige Er¬ scheinungen nicht so beherrschend in den Vordergrund treten. Von diesem Geschmack aber wird das gesamte, zum mindesten das norddeutsche Theater beeinflußt. Bis in die kleinsten Provinzialstüdte dringen diese faden und diese pikanten Fabrikate und werden hier von einer Menge, die den Erfolg anbetet, willkommen geheißen oder doch meist nur mit stummem, unthätigen Kopfschütteln begrüßt. Die Direktoren aber, namentlich von kleinen Provinzbühnen, die bei der Betrachtung des geistigen Gesamtlebens, sehr mit Unrecht, meist anßer Betracht bleiben, werden gezwungen, den Novitäten- schwindel mitzumachen, wenn sie uicht mit leeren Taschen abziehen wollen. In kleinen Städten kann man hier öfter eine lehrreiche und anch nicht ganz trostlose Erfahrung macheu, nämlich die, daß der Novitätenhunger des Publikums durch die Qualität des Gebotenen unbefriedigt bleibt, daß sich z. B. die Theaterfreunde eines kleinen Städtchens X trotz einer verhältnismäßig guten Aufführung staunend fragen, wie solch ein Stück in der Reichshaupt- stadt mehr als fünfzig mal vor vollen Häusern in Szene gehen kann. Leider sind das aber, wie gesagt, seltene Erscheinungen, in deu meisten Fällen wird das, was mit Berliner Stempel als erfolgreich eingeht, gläubig hingenommen, wenigstens muß man es gesehen haben. Denn auch in kleinen Städten gehört es zur Bildung, über das „Zweite Gesicht" und die „Sonue" sprechen zu können. Ist es nun keine Frage, daß der Geschmack des modernen Publikums bei der Unruhe, die unser Leben kennzeichnet, dem ruhigen Gedeihen einer Kunst wenig entgegenkommt, so wird man um allerwenigsten die Bevölkerung einer angehenden Weltstadt, die die Fehler des Modernen natürlich in schärferer Ausprägung zeigen muß, zum ausschlaggebenden Element in Kunstsachen macheu wollen. Die Redensart, daß der Dichter der Neuzeit die schaffende Hand am Puls des öffentlichen Lebens haben müsse, ist in dieser Allgemein¬ heit meist ebenso eine bloße Redensart, wie bei der gegenwärtigen Gestaltung unsrer Verhältnisse die andre, daß dieser Puls nur in der Reichshauptstadt deutlich fühlbar sei. Glücklicherweise ist dem nicht so. Ein wirkliches, vvll- träftiges und gesundes dichterisches Talent ist denn auch in der „Zentrale des modernen deutschen Lebens" noch nicht hervorgetreten. Das Gute soll gewiß genommen werden, woher und von wem es auch komme. Daß wir aber much das Schlechte nehmen sollten, weil es aus der Reichshauptstadt kommt, will uns nicht einleuchten. Im Gegenteil ist es eine ganz besonders wichtige Aufgabe, die de» übrige» Bildnngsmittelpnnkten im Reiche zufällt, diesem Einflüsse mit allen Kräften zu begegnen. Ein wirklich thatkräftiges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/438>, abgerufen am 24.07.2024.