Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Periode der Pubertät und später noch einmal bei den ersten herben Enttäusch¬
ungen; Unglück und Armut aber vermögen jedermann trübselig zu stimmen.
In solcher Stimmung werden pessimistische Lehren mit Begier aufgefangen, als
Rechtfertigung der keimenden Verzweiflung, und sie Pflegen dann nicht zur
Abkehr oder zur Beschaulichkeit zu führen, sondern sie treiben die energischen
Naturen zu Selbstmord und Verbrechen, während sie die schlaffen in einen
Zustand mutloser Betänbung versetzen, in dem der Unglückliche die Hände in
den Schoß legt und widerstandslos die Wellen über sich gehen läßt. Wo
die Beschaulichkeit erstrebt wird, da geschieht es gewöhnlich nicht durch Ab-
ziehnng der Gedanken von der Außenwelt und religiöse Vertiefung in die eigne
Seele, sondern durch Opium, Haschisch, Wein, Vier, Grog oder Schnaps. Nur
sehr edle und zarte Seelen können selbst durch dieses Gift noch veredelt werden,
indem sie, um das Weltelend nicht zu vermehren, sich noch gewissenhafter als
früher vor Unrecht hüten, zugleich aber auch, aus Angst vor möglichen schlimmen
Folgen, kaum noch etwas Gutes zu thun wagen.

Sich auf das Christentum zu berufen, dazu verleihen den Pessimisten die
Verirrungen des gewöhnlichen Liberalismus ein Scheinrecht. Dieser Liberalismus
bildet sich bekanntlich ein, man brauche nur die Pfaffen abzuschaffen, eine recht
liberale Staatsverfassung zu geben und täglich eine Maschine nebst einem neuen
Heilmittel zu erfinden, so sei der Himmel auf Erden fertig, und wollten sich
die Ungenügsamen außerdem noch einen Himmel nach dein Tode hinzuträumen,
so könne man ihnen diesen unschuldigen Spaß mit der des Liberalen würdigen
Toleranz ja gönnen. Dieser gar zu jugendlichen Lebensauffassung gegenüber
kann sich der Pessimismus allerdings auf das Neue Testament wie auf die
Kirchenlehre und auf alle tiefern Geister unter den Theologen beider Konfes¬
sionen berufen. Das Neue Testament laßt die irdischen Dinge als wertlos
und nichtig erscheinen; das kirchliche Erbsündcndvgma stellt die menschliche Natur
und die menschlichen Verhältnisse als unheilbar verderbt dar, sodaß nur ein
übernatürliches Mittel Hilfe gewähren könne, und die bedeutendsten Geister
beider Konfessionen sind mehr oder weniger Asketen oder wenigstens Mystiker
gewesen. Aber von der buddhistisch-schopenhauerschen Askese und Mystik ist
die neutestamentlich-kirchliche doch grundverschieden. Der christliche Pessimismus
hat den stärksten Optimismus zum Hintergründe, indem er an den Ursprung der
Welt aus dem guten Gott und an die Überwindung aller Übel durch die Er¬
lösung glaubt, und er gestattet die Beschaulichkeit nur als feiertägliche Erholung,
während er für gewöhnlich eine angestrengte Werkeltagsarbeit fordert. In die
äußerste Finsternis soll der faule Knecht geworfen werden, der mit seinem
Talent uicht wuchert; und scheint das Johannesevangelinm zu quictistischer
Weltflucht einzuladen, so klingen dann wieder die Weckrufe des Apostels Paulus
wie die Trompetenstöße eines preußischen Signalbläsers hinein: "Die Stunde
ist da, wo wir vom Schlafe erwachen sollen u. s. w.," und die Kircheuhymnen


Periode der Pubertät und später noch einmal bei den ersten herben Enttäusch¬
ungen; Unglück und Armut aber vermögen jedermann trübselig zu stimmen.
In solcher Stimmung werden pessimistische Lehren mit Begier aufgefangen, als
Rechtfertigung der keimenden Verzweiflung, und sie Pflegen dann nicht zur
Abkehr oder zur Beschaulichkeit zu führen, sondern sie treiben die energischen
Naturen zu Selbstmord und Verbrechen, während sie die schlaffen in einen
Zustand mutloser Betänbung versetzen, in dem der Unglückliche die Hände in
den Schoß legt und widerstandslos die Wellen über sich gehen läßt. Wo
die Beschaulichkeit erstrebt wird, da geschieht es gewöhnlich nicht durch Ab-
ziehnng der Gedanken von der Außenwelt und religiöse Vertiefung in die eigne
Seele, sondern durch Opium, Haschisch, Wein, Vier, Grog oder Schnaps. Nur
sehr edle und zarte Seelen können selbst durch dieses Gift noch veredelt werden,
indem sie, um das Weltelend nicht zu vermehren, sich noch gewissenhafter als
früher vor Unrecht hüten, zugleich aber auch, aus Angst vor möglichen schlimmen
Folgen, kaum noch etwas Gutes zu thun wagen.

Sich auf das Christentum zu berufen, dazu verleihen den Pessimisten die
Verirrungen des gewöhnlichen Liberalismus ein Scheinrecht. Dieser Liberalismus
bildet sich bekanntlich ein, man brauche nur die Pfaffen abzuschaffen, eine recht
liberale Staatsverfassung zu geben und täglich eine Maschine nebst einem neuen
Heilmittel zu erfinden, so sei der Himmel auf Erden fertig, und wollten sich
die Ungenügsamen außerdem noch einen Himmel nach dein Tode hinzuträumen,
so könne man ihnen diesen unschuldigen Spaß mit der des Liberalen würdigen
Toleranz ja gönnen. Dieser gar zu jugendlichen Lebensauffassung gegenüber
kann sich der Pessimismus allerdings auf das Neue Testament wie auf die
Kirchenlehre und auf alle tiefern Geister unter den Theologen beider Konfes¬
sionen berufen. Das Neue Testament laßt die irdischen Dinge als wertlos
und nichtig erscheinen; das kirchliche Erbsündcndvgma stellt die menschliche Natur
und die menschlichen Verhältnisse als unheilbar verderbt dar, sodaß nur ein
übernatürliches Mittel Hilfe gewähren könne, und die bedeutendsten Geister
beider Konfessionen sind mehr oder weniger Asketen oder wenigstens Mystiker
gewesen. Aber von der buddhistisch-schopenhauerschen Askese und Mystik ist
die neutestamentlich-kirchliche doch grundverschieden. Der christliche Pessimismus
hat den stärksten Optimismus zum Hintergründe, indem er an den Ursprung der
Welt aus dem guten Gott und an die Überwindung aller Übel durch die Er¬
lösung glaubt, und er gestattet die Beschaulichkeit nur als feiertägliche Erholung,
während er für gewöhnlich eine angestrengte Werkeltagsarbeit fordert. In die
äußerste Finsternis soll der faule Knecht geworfen werden, der mit seinem
Talent uicht wuchert; und scheint das Johannesevangelinm zu quictistischer
Weltflucht einzuladen, so klingen dann wieder die Weckrufe des Apostels Paulus
wie die Trompetenstöße eines preußischen Signalbläsers hinein: „Die Stunde
ist da, wo wir vom Schlafe erwachen sollen u. s. w.," und die Kircheuhymnen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0038" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209905"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_93" prev="#ID_92"> Periode der Pubertät und später noch einmal bei den ersten herben Enttäusch¬<lb/>
ungen; Unglück und Armut aber vermögen jedermann trübselig zu stimmen.<lb/>
In solcher Stimmung werden pessimistische Lehren mit Begier aufgefangen, als<lb/>
Rechtfertigung der keimenden Verzweiflung, und sie Pflegen dann nicht zur<lb/>
Abkehr oder zur Beschaulichkeit zu führen, sondern sie treiben die energischen<lb/>
Naturen zu Selbstmord und Verbrechen, während sie die schlaffen in einen<lb/>
Zustand mutloser Betänbung versetzen, in dem der Unglückliche die Hände in<lb/>
den Schoß legt und widerstandslos die Wellen über sich gehen läßt. Wo<lb/>
die Beschaulichkeit erstrebt wird, da geschieht es gewöhnlich nicht durch Ab-<lb/>
ziehnng der Gedanken von der Außenwelt und religiöse Vertiefung in die eigne<lb/>
Seele, sondern durch Opium, Haschisch, Wein, Vier, Grog oder Schnaps. Nur<lb/>
sehr edle und zarte Seelen können selbst durch dieses Gift noch veredelt werden,<lb/>
indem sie, um das Weltelend nicht zu vermehren, sich noch gewissenhafter als<lb/>
früher vor Unrecht hüten, zugleich aber auch, aus Angst vor möglichen schlimmen<lb/>
Folgen, kaum noch etwas Gutes zu thun wagen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_94" next="#ID_95"> Sich auf das Christentum zu berufen, dazu verleihen den Pessimisten die<lb/>
Verirrungen des gewöhnlichen Liberalismus ein Scheinrecht. Dieser Liberalismus<lb/>
bildet sich bekanntlich ein, man brauche nur die Pfaffen abzuschaffen, eine recht<lb/>
liberale Staatsverfassung zu geben und täglich eine Maschine nebst einem neuen<lb/>
Heilmittel zu erfinden, so sei der Himmel auf Erden fertig, und wollten sich<lb/>
die Ungenügsamen außerdem noch einen Himmel nach dein Tode hinzuträumen,<lb/>
so könne man ihnen diesen unschuldigen Spaß mit der des Liberalen würdigen<lb/>
Toleranz ja gönnen. Dieser gar zu jugendlichen Lebensauffassung gegenüber<lb/>
kann sich der Pessimismus allerdings auf das Neue Testament wie auf die<lb/>
Kirchenlehre und auf alle tiefern Geister unter den Theologen beider Konfes¬<lb/>
sionen berufen. Das Neue Testament laßt die irdischen Dinge als wertlos<lb/>
und nichtig erscheinen; das kirchliche Erbsündcndvgma stellt die menschliche Natur<lb/>
und die menschlichen Verhältnisse als unheilbar verderbt dar, sodaß nur ein<lb/>
übernatürliches Mittel Hilfe gewähren könne, und die bedeutendsten Geister<lb/>
beider Konfessionen sind mehr oder weniger Asketen oder wenigstens Mystiker<lb/>
gewesen. Aber von der buddhistisch-schopenhauerschen Askese und Mystik ist<lb/>
die neutestamentlich-kirchliche doch grundverschieden. Der christliche Pessimismus<lb/>
hat den stärksten Optimismus zum Hintergründe, indem er an den Ursprung der<lb/>
Welt aus dem guten Gott und an die Überwindung aller Übel durch die Er¬<lb/>
lösung glaubt, und er gestattet die Beschaulichkeit nur als feiertägliche Erholung,<lb/>
während er für gewöhnlich eine angestrengte Werkeltagsarbeit fordert. In die<lb/>
äußerste Finsternis soll der faule Knecht geworfen werden, der mit seinem<lb/>
Talent uicht wuchert; und scheint das Johannesevangelinm zu quictistischer<lb/>
Weltflucht einzuladen, so klingen dann wieder die Weckrufe des Apostels Paulus<lb/>
wie die Trompetenstöße eines preußischen Signalbläsers hinein: &#x201E;Die Stunde<lb/>
ist da, wo wir vom Schlafe erwachen sollen u. s. w.," und die Kircheuhymnen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0038] Periode der Pubertät und später noch einmal bei den ersten herben Enttäusch¬ ungen; Unglück und Armut aber vermögen jedermann trübselig zu stimmen. In solcher Stimmung werden pessimistische Lehren mit Begier aufgefangen, als Rechtfertigung der keimenden Verzweiflung, und sie Pflegen dann nicht zur Abkehr oder zur Beschaulichkeit zu führen, sondern sie treiben die energischen Naturen zu Selbstmord und Verbrechen, während sie die schlaffen in einen Zustand mutloser Betänbung versetzen, in dem der Unglückliche die Hände in den Schoß legt und widerstandslos die Wellen über sich gehen läßt. Wo die Beschaulichkeit erstrebt wird, da geschieht es gewöhnlich nicht durch Ab- ziehnng der Gedanken von der Außenwelt und religiöse Vertiefung in die eigne Seele, sondern durch Opium, Haschisch, Wein, Vier, Grog oder Schnaps. Nur sehr edle und zarte Seelen können selbst durch dieses Gift noch veredelt werden, indem sie, um das Weltelend nicht zu vermehren, sich noch gewissenhafter als früher vor Unrecht hüten, zugleich aber auch, aus Angst vor möglichen schlimmen Folgen, kaum noch etwas Gutes zu thun wagen. Sich auf das Christentum zu berufen, dazu verleihen den Pessimisten die Verirrungen des gewöhnlichen Liberalismus ein Scheinrecht. Dieser Liberalismus bildet sich bekanntlich ein, man brauche nur die Pfaffen abzuschaffen, eine recht liberale Staatsverfassung zu geben und täglich eine Maschine nebst einem neuen Heilmittel zu erfinden, so sei der Himmel auf Erden fertig, und wollten sich die Ungenügsamen außerdem noch einen Himmel nach dein Tode hinzuträumen, so könne man ihnen diesen unschuldigen Spaß mit der des Liberalen würdigen Toleranz ja gönnen. Dieser gar zu jugendlichen Lebensauffassung gegenüber kann sich der Pessimismus allerdings auf das Neue Testament wie auf die Kirchenlehre und auf alle tiefern Geister unter den Theologen beider Konfes¬ sionen berufen. Das Neue Testament laßt die irdischen Dinge als wertlos und nichtig erscheinen; das kirchliche Erbsündcndvgma stellt die menschliche Natur und die menschlichen Verhältnisse als unheilbar verderbt dar, sodaß nur ein übernatürliches Mittel Hilfe gewähren könne, und die bedeutendsten Geister beider Konfessionen sind mehr oder weniger Asketen oder wenigstens Mystiker gewesen. Aber von der buddhistisch-schopenhauerschen Askese und Mystik ist die neutestamentlich-kirchliche doch grundverschieden. Der christliche Pessimismus hat den stärksten Optimismus zum Hintergründe, indem er an den Ursprung der Welt aus dem guten Gott und an die Überwindung aller Übel durch die Er¬ lösung glaubt, und er gestattet die Beschaulichkeit nur als feiertägliche Erholung, während er für gewöhnlich eine angestrengte Werkeltagsarbeit fordert. In die äußerste Finsternis soll der faule Knecht geworfen werden, der mit seinem Talent uicht wuchert; und scheint das Johannesevangelinm zu quictistischer Weltflucht einzuladen, so klingen dann wieder die Weckrufe des Apostels Paulus wie die Trompetenstöße eines preußischen Signalbläsers hinein: „Die Stunde ist da, wo wir vom Schlafe erwachen sollen u. s. w.," und die Kircheuhymnen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/38
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/38>, abgerufen am 24.07.2024.