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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Zur Aussprache des Altgrichischen

auf einander ausgeübt haben, und in welchem Verhältnis das Neugriechische
zu beiden steht.

Mit diesem Rüstzeug muß die Frage nach der Aussprache des Alt¬
griechischen gelöst werden. Da zeigt sich aber sogleich, daß die Frage, so all¬
gemein gestellt, überhaupt nicht zu beantworten ist. Das Altgriechische zerfiel
in Dialekte: den äolischen, den dorischen, den ionischen, den attischen. Jeder
Dialekt hatte seine grammatischen und lautlicher Eigentümlichkeiten, die sich
in der Schrift teils widerspiegeln, teils aber auch uicht widerspiegeln. Bei
der hervorragenden Stellung Athens in der Blütezeit Griechenlands und bei
dem immer wachsenden Übergewicht, das sich die Sprache Athens in der
Litteratur über die andern soweit errang, daß sie auch von den Angehörigen
der sonstigen Mundarten zu litterarischen Hervorbringungen wenigstens in der
Prosa benutzt wurde, kann für unsre Schulen nur die Aussprache des attischen
Dialektes maßgebend sein, und natürlich nur so, wie sie bei den Gebildeten
in Athen gebräuchlich war.

Aber auch diese Einschränkung genügt noch nicht zur Beantwortung
unsrer Frage. Der attische Dialekt wie das Griechische überhaupt bildet keine
Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß lebende Sprachen niemals still
stehen, sondern in unausgesetzter Bewegung nach immer vollkommneren und den
jedesmaligen Bedürfnissen angemessensten Ausdrucke des Gedankens ringen.
Daraus entspringen allmählich Veränderungen sowohl im Wert wie in der
Form der Worte. Der einzelne Mensch wird selten etwas davon gewahr,
denn die Wandlung geht so langsam und unmerklich vor sich, daß meist
erst nach Jahrzehnten ganz kleine Abstände vorhanden sind, die auch dann nur
bei scharfer Beobachtung und Vergleichung mit dem Frühern zum Bewußtsein
kommen. Hinsichtlich des Wertes der Ausdrücke wird die Wandlung im ge¬
wöhnlichen Leben überhaupt nicht empfunden, weil keinem Ausdruck einzusehen
ist, daß er früher einmal andre Geltung besessen hat. Wohl aber macht sich
die Veränderung in der Form allmählich im Laute bemerkbar, da sich das sicht¬
bare Zeichen, die Schrift planmäßig nur mit einer einzigen Form, einem
einzigen Laute deckt und bei deren Wandel entweder auch geändert werden
oder die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verlieren muß. Gewöhnlich
läßt ein Volk die Widersprüche zwischen Schrift und Sprache so lange an¬
wachsen, bis der Übelstand so schwer empfunden wird, daß eine Wandlung
der Schrift nicht mehr umgangen werden kann. So ist auch die Aussprache
des Attischen uicht immer dieselbe gewesen, wir müssen einen bestimmten Zeit-
Punkt festsetzen, wenn es gilt, die Aussprache zu erforschen. Ohne weiteres
ergiebt sich hier als Musterzeit die Blütezeit Athens, das perikleische Zeit¬
alter. In genauer Fassung ist also zu fragen: "Wie wurde das attische
Griechisch von den gebildeten Athenern im perikleischen Zeitalter ausge¬
sprochen?"


Grenzl'oder II 1891 4(i
Zur Aussprache des Altgrichischen

auf einander ausgeübt haben, und in welchem Verhältnis das Neugriechische
zu beiden steht.

Mit diesem Rüstzeug muß die Frage nach der Aussprache des Alt¬
griechischen gelöst werden. Da zeigt sich aber sogleich, daß die Frage, so all¬
gemein gestellt, überhaupt nicht zu beantworten ist. Das Altgriechische zerfiel
in Dialekte: den äolischen, den dorischen, den ionischen, den attischen. Jeder
Dialekt hatte seine grammatischen und lautlicher Eigentümlichkeiten, die sich
in der Schrift teils widerspiegeln, teils aber auch uicht widerspiegeln. Bei
der hervorragenden Stellung Athens in der Blütezeit Griechenlands und bei
dem immer wachsenden Übergewicht, das sich die Sprache Athens in der
Litteratur über die andern soweit errang, daß sie auch von den Angehörigen
der sonstigen Mundarten zu litterarischen Hervorbringungen wenigstens in der
Prosa benutzt wurde, kann für unsre Schulen nur die Aussprache des attischen
Dialektes maßgebend sein, und natürlich nur so, wie sie bei den Gebildeten
in Athen gebräuchlich war.

Aber auch diese Einschränkung genügt noch nicht zur Beantwortung
unsrer Frage. Der attische Dialekt wie das Griechische überhaupt bildet keine
Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß lebende Sprachen niemals still
stehen, sondern in unausgesetzter Bewegung nach immer vollkommneren und den
jedesmaligen Bedürfnissen angemessensten Ausdrucke des Gedankens ringen.
Daraus entspringen allmählich Veränderungen sowohl im Wert wie in der
Form der Worte. Der einzelne Mensch wird selten etwas davon gewahr,
denn die Wandlung geht so langsam und unmerklich vor sich, daß meist
erst nach Jahrzehnten ganz kleine Abstände vorhanden sind, die auch dann nur
bei scharfer Beobachtung und Vergleichung mit dem Frühern zum Bewußtsein
kommen. Hinsichtlich des Wertes der Ausdrücke wird die Wandlung im ge¬
wöhnlichen Leben überhaupt nicht empfunden, weil keinem Ausdruck einzusehen
ist, daß er früher einmal andre Geltung besessen hat. Wohl aber macht sich
die Veränderung in der Form allmählich im Laute bemerkbar, da sich das sicht¬
bare Zeichen, die Schrift planmäßig nur mit einer einzigen Form, einem
einzigen Laute deckt und bei deren Wandel entweder auch geändert werden
oder die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verlieren muß. Gewöhnlich
läßt ein Volk die Widersprüche zwischen Schrift und Sprache so lange an¬
wachsen, bis der Übelstand so schwer empfunden wird, daß eine Wandlung
der Schrift nicht mehr umgangen werden kann. So ist auch die Aussprache
des Attischen uicht immer dieselbe gewesen, wir müssen einen bestimmten Zeit-
Punkt festsetzen, wenn es gilt, die Aussprache zu erforschen. Ohne weiteres
ergiebt sich hier als Musterzeit die Blütezeit Athens, das perikleische Zeit¬
alter. In genauer Fassung ist also zu fragen: „Wie wurde das attische
Griechisch von den gebildeten Athenern im perikleischen Zeitalter ausge¬
sprochen?"


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[0365] Zur Aussprache des Altgrichischen auf einander ausgeübt haben, und in welchem Verhältnis das Neugriechische zu beiden steht. Mit diesem Rüstzeug muß die Frage nach der Aussprache des Alt¬ griechischen gelöst werden. Da zeigt sich aber sogleich, daß die Frage, so all¬ gemein gestellt, überhaupt nicht zu beantworten ist. Das Altgriechische zerfiel in Dialekte: den äolischen, den dorischen, den ionischen, den attischen. Jeder Dialekt hatte seine grammatischen und lautlicher Eigentümlichkeiten, die sich in der Schrift teils widerspiegeln, teils aber auch uicht widerspiegeln. Bei der hervorragenden Stellung Athens in der Blütezeit Griechenlands und bei dem immer wachsenden Übergewicht, das sich die Sprache Athens in der Litteratur über die andern soweit errang, daß sie auch von den Angehörigen der sonstigen Mundarten zu litterarischen Hervorbringungen wenigstens in der Prosa benutzt wurde, kann für unsre Schulen nur die Aussprache des attischen Dialektes maßgebend sein, und natürlich nur so, wie sie bei den Gebildeten in Athen gebräuchlich war. Aber auch diese Einschränkung genügt noch nicht zur Beantwortung unsrer Frage. Der attische Dialekt wie das Griechische überhaupt bildet keine Ausnahme von der allgemeinen Regel, daß lebende Sprachen niemals still stehen, sondern in unausgesetzter Bewegung nach immer vollkommneren und den jedesmaligen Bedürfnissen angemessensten Ausdrucke des Gedankens ringen. Daraus entspringen allmählich Veränderungen sowohl im Wert wie in der Form der Worte. Der einzelne Mensch wird selten etwas davon gewahr, denn die Wandlung geht so langsam und unmerklich vor sich, daß meist erst nach Jahrzehnten ganz kleine Abstände vorhanden sind, die auch dann nur bei scharfer Beobachtung und Vergleichung mit dem Frühern zum Bewußtsein kommen. Hinsichtlich des Wertes der Ausdrücke wird die Wandlung im ge¬ wöhnlichen Leben überhaupt nicht empfunden, weil keinem Ausdruck einzusehen ist, daß er früher einmal andre Geltung besessen hat. Wohl aber macht sich die Veränderung in der Form allmählich im Laute bemerkbar, da sich das sicht¬ bare Zeichen, die Schrift planmäßig nur mit einer einzigen Form, einem einzigen Laute deckt und bei deren Wandel entweder auch geändert werden oder die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verlieren muß. Gewöhnlich läßt ein Volk die Widersprüche zwischen Schrift und Sprache so lange an¬ wachsen, bis der Übelstand so schwer empfunden wird, daß eine Wandlung der Schrift nicht mehr umgangen werden kann. So ist auch die Aussprache des Attischen uicht immer dieselbe gewesen, wir müssen einen bestimmten Zeit- Punkt festsetzen, wenn es gilt, die Aussprache zu erforschen. Ohne weiteres ergiebt sich hier als Musterzeit die Blütezeit Athens, das perikleische Zeit¬ alter. In genauer Fassung ist also zu fragen: „Wie wurde das attische Griechisch von den gebildeten Athenern im perikleischen Zeitalter ausge¬ sprochen?" Grenzl'oder II 1891 4(i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/365>, abgerufen am 24.07.2024.