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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das gleiche Mahlrecht

fürwvrten, auch wenn darauf zu rechnen wäre, daß eine ans allgemeinen
Wahlen hervorgegangene Versammlung dazu ihre Zustimmung geben würde.
Und doch muß man sich sagen, daß, wenn wir auf dem bisherigen Wege
bleiben, ein Reichstag mit sozialdemvkratischer oder wenigstens revolutionärer
Mehrheit nicht zu den Unmöglichkeiten gehört.

Die Sozialdemokraten selbst zeigen uns die Richtung, in der eine Reform
durchführbar wäre, die keinen jetzt stimmberechtigten seines Rechtes berauben
würde. Sie treten durchweg als Vertreter der Besitzlosen, also einer bestimmten
Klasse der Bevölkerung auf und behandeln ebenso alle nicht zu ihrer Partei
zählenden Abgeordneten als Klassenvertreter. Sie haben also, was anzuerkennen
ist, mit der Fiktion des Liberalismus gebrochen, die jeden Abgeordneten als
Mandatar des ganzen Volkes angesehen wissen will. Das ist el" entschiedner
Fortschritt, wenn wir die logische Folgerung ziehen, nämlich überhaupt das
Vorurteil überwinden, daß ein Abgeordneter nicht das Organ einer Bevölkernngs-
klaffe sein dürfe. Diese Frage ist vor einem Jahrzehnt wiederholt in den
Grenzboten berührt worden, z. V. 1881 III, S. 433 ff.: "Glossen eines
Deutschen im Auslande" und 1882 I, S. 57 ff.: "Allgemeine Wahlen." In
dem letzter" Aufsatze wurde dem sogenannten Listenskrntininm der Vorzug ge¬
geben, das aber n"r den Minderheiten el"e" gewisse" Schutz gewährt. Der
Erfolg dieses Systems ist oder soll sei", daß, wenn in einem Wahlbezirke die
Mehrheit der Wähler zu der einen, aber eine starke Minderheit zu einer andern
politischen oder nationalen Partei hält, diese Minderheit nicht unvertreten
bleibt, sondern beide Parteien annähernd im Verhältnisse zu ihrer Stärke Ab¬
geordnete entsenden können. Es setzt also immer die allgemeine Sonderung
nach politischen Programmen, die strenge Parteiorganisation voraus mit all
ihren Mängeln der Bevormundung durch Wnhlkomitees. es überhebt uus nicht
des Übelstandes, daß der Kandidat nicht nach seinen Kenntnissen auf gewissen
Gebieten, uicht uach seinem Verständnis für die wirklichen Bedürfnisse des
Lebens in Staat, Bezirk, Gemeinde, Berufsgruppe gefragt wird, sondern allein
nach den von der Partei ausgegebenen Losungsworten, und daß in der Regel
der den Sieg davonträgt, der die Schlagworte mit größerer Gewandtheit,
Schlagfertigkeit und womöglich mit Witz vorzubringen versteht. Es schützt
aber keineswegs gegen das Übergewicht der Vernfsparlamentarier, der Minister-
landidaten und Schönredner, der Leute, die verpflichtet siud, alles zu verstehen,
und auch alles zu verstehen meinen, weil sie sich mit vielerlei Dingen theo¬
retisch beschäftigt haben.

Die meisten parlamentarischen Versammlungen haben dafür gesorgt, daß
der Überdruß an der Herrschaft der Doktrinäre immer weitere Wählerkreise
ergreift, aber in dem Bestreben, sie abzuschütteln, kommen sie leider oft mir
dazu, Doktrinären andrer Schattirung in die Hände zu fallen, die mit gleicher
Hartnäckigkeit die alten Lehrmeinungen von dem Volk an sich, dem Wühler


Das gleiche Mahlrecht

fürwvrten, auch wenn darauf zu rechnen wäre, daß eine ans allgemeinen
Wahlen hervorgegangene Versammlung dazu ihre Zustimmung geben würde.
Und doch muß man sich sagen, daß, wenn wir auf dem bisherigen Wege
bleiben, ein Reichstag mit sozialdemvkratischer oder wenigstens revolutionärer
Mehrheit nicht zu den Unmöglichkeiten gehört.

Die Sozialdemokraten selbst zeigen uns die Richtung, in der eine Reform
durchführbar wäre, die keinen jetzt stimmberechtigten seines Rechtes berauben
würde. Sie treten durchweg als Vertreter der Besitzlosen, also einer bestimmten
Klasse der Bevölkerung auf und behandeln ebenso alle nicht zu ihrer Partei
zählenden Abgeordneten als Klassenvertreter. Sie haben also, was anzuerkennen
ist, mit der Fiktion des Liberalismus gebrochen, die jeden Abgeordneten als
Mandatar des ganzen Volkes angesehen wissen will. Das ist el» entschiedner
Fortschritt, wenn wir die logische Folgerung ziehen, nämlich überhaupt das
Vorurteil überwinden, daß ein Abgeordneter nicht das Organ einer Bevölkernngs-
klaffe sein dürfe. Diese Frage ist vor einem Jahrzehnt wiederholt in den
Grenzboten berührt worden, z. V. 1881 III, S. 433 ff.: „Glossen eines
Deutschen im Auslande" und 1882 I, S. 57 ff.: „Allgemeine Wahlen." In
dem letzter» Aufsatze wurde dem sogenannten Listenskrntininm der Vorzug ge¬
geben, das aber n»r den Minderheiten el»e» gewisse» Schutz gewährt. Der
Erfolg dieses Systems ist oder soll sei», daß, wenn in einem Wahlbezirke die
Mehrheit der Wähler zu der einen, aber eine starke Minderheit zu einer andern
politischen oder nationalen Partei hält, diese Minderheit nicht unvertreten
bleibt, sondern beide Parteien annähernd im Verhältnisse zu ihrer Stärke Ab¬
geordnete entsenden können. Es setzt also immer die allgemeine Sonderung
nach politischen Programmen, die strenge Parteiorganisation voraus mit all
ihren Mängeln der Bevormundung durch Wnhlkomitees. es überhebt uus nicht
des Übelstandes, daß der Kandidat nicht nach seinen Kenntnissen auf gewissen
Gebieten, uicht uach seinem Verständnis für die wirklichen Bedürfnisse des
Lebens in Staat, Bezirk, Gemeinde, Berufsgruppe gefragt wird, sondern allein
nach den von der Partei ausgegebenen Losungsworten, und daß in der Regel
der den Sieg davonträgt, der die Schlagworte mit größerer Gewandtheit,
Schlagfertigkeit und womöglich mit Witz vorzubringen versteht. Es schützt
aber keineswegs gegen das Übergewicht der Vernfsparlamentarier, der Minister-
landidaten und Schönredner, der Leute, die verpflichtet siud, alles zu verstehen,
und auch alles zu verstehen meinen, weil sie sich mit vielerlei Dingen theo¬
retisch beschäftigt haben.

Die meisten parlamentarischen Versammlungen haben dafür gesorgt, daß
der Überdruß an der Herrschaft der Doktrinäre immer weitere Wählerkreise
ergreift, aber in dem Bestreben, sie abzuschütteln, kommen sie leider oft mir
dazu, Doktrinären andrer Schattirung in die Hände zu fallen, die mit gleicher
Hartnäckigkeit die alten Lehrmeinungen von dem Volk an sich, dem Wühler


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[0361] Das gleiche Mahlrecht fürwvrten, auch wenn darauf zu rechnen wäre, daß eine ans allgemeinen Wahlen hervorgegangene Versammlung dazu ihre Zustimmung geben würde. Und doch muß man sich sagen, daß, wenn wir auf dem bisherigen Wege bleiben, ein Reichstag mit sozialdemvkratischer oder wenigstens revolutionärer Mehrheit nicht zu den Unmöglichkeiten gehört. Die Sozialdemokraten selbst zeigen uns die Richtung, in der eine Reform durchführbar wäre, die keinen jetzt stimmberechtigten seines Rechtes berauben würde. Sie treten durchweg als Vertreter der Besitzlosen, also einer bestimmten Klasse der Bevölkerung auf und behandeln ebenso alle nicht zu ihrer Partei zählenden Abgeordneten als Klassenvertreter. Sie haben also, was anzuerkennen ist, mit der Fiktion des Liberalismus gebrochen, die jeden Abgeordneten als Mandatar des ganzen Volkes angesehen wissen will. Das ist el» entschiedner Fortschritt, wenn wir die logische Folgerung ziehen, nämlich überhaupt das Vorurteil überwinden, daß ein Abgeordneter nicht das Organ einer Bevölkernngs- klaffe sein dürfe. Diese Frage ist vor einem Jahrzehnt wiederholt in den Grenzboten berührt worden, z. V. 1881 III, S. 433 ff.: „Glossen eines Deutschen im Auslande" und 1882 I, S. 57 ff.: „Allgemeine Wahlen." In dem letzter» Aufsatze wurde dem sogenannten Listenskrntininm der Vorzug ge¬ geben, das aber n»r den Minderheiten el»e» gewisse» Schutz gewährt. Der Erfolg dieses Systems ist oder soll sei», daß, wenn in einem Wahlbezirke die Mehrheit der Wähler zu der einen, aber eine starke Minderheit zu einer andern politischen oder nationalen Partei hält, diese Minderheit nicht unvertreten bleibt, sondern beide Parteien annähernd im Verhältnisse zu ihrer Stärke Ab¬ geordnete entsenden können. Es setzt also immer die allgemeine Sonderung nach politischen Programmen, die strenge Parteiorganisation voraus mit all ihren Mängeln der Bevormundung durch Wnhlkomitees. es überhebt uus nicht des Übelstandes, daß der Kandidat nicht nach seinen Kenntnissen auf gewissen Gebieten, uicht uach seinem Verständnis für die wirklichen Bedürfnisse des Lebens in Staat, Bezirk, Gemeinde, Berufsgruppe gefragt wird, sondern allein nach den von der Partei ausgegebenen Losungsworten, und daß in der Regel der den Sieg davonträgt, der die Schlagworte mit größerer Gewandtheit, Schlagfertigkeit und womöglich mit Witz vorzubringen versteht. Es schützt aber keineswegs gegen das Übergewicht der Vernfsparlamentarier, der Minister- landidaten und Schönredner, der Leute, die verpflichtet siud, alles zu verstehen, und auch alles zu verstehen meinen, weil sie sich mit vielerlei Dingen theo¬ retisch beschäftigt haben. Die meisten parlamentarischen Versammlungen haben dafür gesorgt, daß der Überdruß an der Herrschaft der Doktrinäre immer weitere Wählerkreise ergreift, aber in dem Bestreben, sie abzuschütteln, kommen sie leider oft mir dazu, Doktrinären andrer Schattirung in die Hände zu fallen, die mit gleicher Hartnäckigkeit die alten Lehrmeinungen von dem Volk an sich, dem Wühler

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/361>, abgerufen am 24.07.2024.