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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das mittelalterliche Sektenwesen

den Geistlichen holen zu lassen. Jede Versäumnis des Gottesdienstes wurde
mit Geld gestraft. Ein Kind, das seine Hand gegen Vater und Mutter er¬
hoben hatte, wurde enthauptet. Bei Erwähnung der Hinrichtung Servets
sagt Herzog in der Realencyklopädie für protestantische Theologie: "Calvin
hat das czonipöilo mer^ro > nötige sie, einzutreten j Lukas 14, 23 ganz ebenso
verstanden, wie die französischen Theologen zur Zeit der Aufhebung des
Edikts von Nantes es verstanden. Doch verwendete er sich dafür, daß die
zum Scheiterhaufen verurteilten zuvor erdrosselt wurden."

Wie die kirchliche Praxis selbst überall zur Sektenbildung führt, wo sich
starrsinnige, enthusiastische oder fanatische Köpfe der Folgerichtigkeit befleißigen,
dafür ist oben schon ein Beispiel angeführt worden. Die Pataria zu Mailand,
jenes Lumpengesindel (stolz auf ihre evangelische Armut, nannten sie sich selbst
so), das durch Vertreibung und Mißhandlung der vornehmen üppigen Prälaten
dem Papste Gregor VII. geholfen hatte, den Cölibatszwang durchzuführen,
schlug sehr bald in eine manichäische Sekte tun, die mit den Katharern ver¬
schmolz. Ein noch auffälligeres Beispiel bietet die Geschichte des Franziskaner-
ordeus. Die Söhne des Pater Seraphicus hatten gezeigt, daß man auch
innerhalb der römischen Kirche der apostolischen Armut tren bleiben könne,
und hatten hierdurch in einer Zeit des Massenabfalls das Vertrauen zur
Hierarchie in die Seckel? vieler zurückgeführt. Aber zwischen den Eifrigern
unter ihnen (Spiritualen nannten sie sich), die das nnirdische und ekstatische
Leben des Stifters fortsetzen wollten, und den übrigen, die sich in der Welt
einrichteten und mit den Forderungen der schwachen Menschennatur so annahm
Kompromiß schlössen, herrschte beständiger Streit, und schließlich kam es so
weit, daß ihre Lehren von Johann XXIl., dem freilich als dem Begründer
des päpstlichen Finanzwesens die Forderung der apostolischen Armut höchst
unbequem sein mußte, als häretisch verurteilt wurden. Und so erlebte denn
die Welt das erstaunliche Schauspiel, daß eine Menge Männer bloß darum
lebendig verbrannt wurden, weil sie sich weigerten, Eigentum anzunehmen.
Sie behaupteten nämlich, daß sie nicht nur kein privates, sondern auch uicht
einmal genossenschaftliches Eigentum haben dürften, und daß selbst die ge¬
schenkte Kutte, mit der sie ihre Blöße bedeckten, nicht ihr Eigentum sei. Für
die Verfolgung rächten sie sich dadurch, daß sie jenen Papst und seiue Nach¬
folger für Ketzer erklärten und allen die Seligkeit absprachen, die nicht die
gleiche Meinung von diesen Kirchenhäuptern hegten. Allmählich verschmolzen
sie mit den übrigen Sekten und verlegten sich aufs Prophezeien. In dem
siebenten, dem vollkommenen Zustande der Kirche, so behaupten u. a. einige
ihrer Schwärmer in Übereinstimmung mit andern ältern Sektirern, werde sich
das Menschengeschlecht auf sündlose Weise, d. h. ohne Begattung fortpflanzen.

Auch der dritte Orden des Franziskus von AM, d. h. die Gesellschaft
jeuer Personen beiderlei Geschlechts, die gewisse asketische Verpflichtungen über-


Das mittelalterliche Sektenwesen

den Geistlichen holen zu lassen. Jede Versäumnis des Gottesdienstes wurde
mit Geld gestraft. Ein Kind, das seine Hand gegen Vater und Mutter er¬
hoben hatte, wurde enthauptet. Bei Erwähnung der Hinrichtung Servets
sagt Herzog in der Realencyklopädie für protestantische Theologie: „Calvin
hat das czonipöilo mer^ro > nötige sie, einzutreten j Lukas 14, 23 ganz ebenso
verstanden, wie die französischen Theologen zur Zeit der Aufhebung des
Edikts von Nantes es verstanden. Doch verwendete er sich dafür, daß die
zum Scheiterhaufen verurteilten zuvor erdrosselt wurden."

Wie die kirchliche Praxis selbst überall zur Sektenbildung führt, wo sich
starrsinnige, enthusiastische oder fanatische Köpfe der Folgerichtigkeit befleißigen,
dafür ist oben schon ein Beispiel angeführt worden. Die Pataria zu Mailand,
jenes Lumpengesindel (stolz auf ihre evangelische Armut, nannten sie sich selbst
so), das durch Vertreibung und Mißhandlung der vornehmen üppigen Prälaten
dem Papste Gregor VII. geholfen hatte, den Cölibatszwang durchzuführen,
schlug sehr bald in eine manichäische Sekte tun, die mit den Katharern ver¬
schmolz. Ein noch auffälligeres Beispiel bietet die Geschichte des Franziskaner-
ordeus. Die Söhne des Pater Seraphicus hatten gezeigt, daß man auch
innerhalb der römischen Kirche der apostolischen Armut tren bleiben könne,
und hatten hierdurch in einer Zeit des Massenabfalls das Vertrauen zur
Hierarchie in die Seckel? vieler zurückgeführt. Aber zwischen den Eifrigern
unter ihnen (Spiritualen nannten sie sich), die das nnirdische und ekstatische
Leben des Stifters fortsetzen wollten, und den übrigen, die sich in der Welt
einrichteten und mit den Forderungen der schwachen Menschennatur so annahm
Kompromiß schlössen, herrschte beständiger Streit, und schließlich kam es so
weit, daß ihre Lehren von Johann XXIl., dem freilich als dem Begründer
des päpstlichen Finanzwesens die Forderung der apostolischen Armut höchst
unbequem sein mußte, als häretisch verurteilt wurden. Und so erlebte denn
die Welt das erstaunliche Schauspiel, daß eine Menge Männer bloß darum
lebendig verbrannt wurden, weil sie sich weigerten, Eigentum anzunehmen.
Sie behaupteten nämlich, daß sie nicht nur kein privates, sondern auch uicht
einmal genossenschaftliches Eigentum haben dürften, und daß selbst die ge¬
schenkte Kutte, mit der sie ihre Blöße bedeckten, nicht ihr Eigentum sei. Für
die Verfolgung rächten sie sich dadurch, daß sie jenen Papst und seiue Nach¬
folger für Ketzer erklärten und allen die Seligkeit absprachen, die nicht die
gleiche Meinung von diesen Kirchenhäuptern hegten. Allmählich verschmolzen
sie mit den übrigen Sekten und verlegten sich aufs Prophezeien. In dem
siebenten, dem vollkommenen Zustande der Kirche, so behaupten u. a. einige
ihrer Schwärmer in Übereinstimmung mit andern ältern Sektirern, werde sich
das Menschengeschlecht auf sündlose Weise, d. h. ohne Begattung fortpflanzen.

Auch der dritte Orden des Franziskus von AM, d. h. die Gesellschaft
jeuer Personen beiderlei Geschlechts, die gewisse asketische Verpflichtungen über-


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[0282] Das mittelalterliche Sektenwesen den Geistlichen holen zu lassen. Jede Versäumnis des Gottesdienstes wurde mit Geld gestraft. Ein Kind, das seine Hand gegen Vater und Mutter er¬ hoben hatte, wurde enthauptet. Bei Erwähnung der Hinrichtung Servets sagt Herzog in der Realencyklopädie für protestantische Theologie: „Calvin hat das czonipöilo mer^ro > nötige sie, einzutreten j Lukas 14, 23 ganz ebenso verstanden, wie die französischen Theologen zur Zeit der Aufhebung des Edikts von Nantes es verstanden. Doch verwendete er sich dafür, daß die zum Scheiterhaufen verurteilten zuvor erdrosselt wurden." Wie die kirchliche Praxis selbst überall zur Sektenbildung führt, wo sich starrsinnige, enthusiastische oder fanatische Köpfe der Folgerichtigkeit befleißigen, dafür ist oben schon ein Beispiel angeführt worden. Die Pataria zu Mailand, jenes Lumpengesindel (stolz auf ihre evangelische Armut, nannten sie sich selbst so), das durch Vertreibung und Mißhandlung der vornehmen üppigen Prälaten dem Papste Gregor VII. geholfen hatte, den Cölibatszwang durchzuführen, schlug sehr bald in eine manichäische Sekte tun, die mit den Katharern ver¬ schmolz. Ein noch auffälligeres Beispiel bietet die Geschichte des Franziskaner- ordeus. Die Söhne des Pater Seraphicus hatten gezeigt, daß man auch innerhalb der römischen Kirche der apostolischen Armut tren bleiben könne, und hatten hierdurch in einer Zeit des Massenabfalls das Vertrauen zur Hierarchie in die Seckel? vieler zurückgeführt. Aber zwischen den Eifrigern unter ihnen (Spiritualen nannten sie sich), die das nnirdische und ekstatische Leben des Stifters fortsetzen wollten, und den übrigen, die sich in der Welt einrichteten und mit den Forderungen der schwachen Menschennatur so annahm Kompromiß schlössen, herrschte beständiger Streit, und schließlich kam es so weit, daß ihre Lehren von Johann XXIl., dem freilich als dem Begründer des päpstlichen Finanzwesens die Forderung der apostolischen Armut höchst unbequem sein mußte, als häretisch verurteilt wurden. Und so erlebte denn die Welt das erstaunliche Schauspiel, daß eine Menge Männer bloß darum lebendig verbrannt wurden, weil sie sich weigerten, Eigentum anzunehmen. Sie behaupteten nämlich, daß sie nicht nur kein privates, sondern auch uicht einmal genossenschaftliches Eigentum haben dürften, und daß selbst die ge¬ schenkte Kutte, mit der sie ihre Blöße bedeckten, nicht ihr Eigentum sei. Für die Verfolgung rächten sie sich dadurch, daß sie jenen Papst und seiue Nach¬ folger für Ketzer erklärten und allen die Seligkeit absprachen, die nicht die gleiche Meinung von diesen Kirchenhäuptern hegten. Allmählich verschmolzen sie mit den übrigen Sekten und verlegten sich aufs Prophezeien. In dem siebenten, dem vollkommenen Zustande der Kirche, so behaupten u. a. einige ihrer Schwärmer in Übereinstimmung mit andern ältern Sektirern, werde sich das Menschengeschlecht auf sündlose Weise, d. h. ohne Begattung fortpflanzen. Auch der dritte Orden des Franziskus von AM, d. h. die Gesellschaft jeuer Personen beiderlei Geschlechts, die gewisse asketische Verpflichtungen über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/282>, abgerufen am 24.07.2024.