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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Das mittelalterliche Scklemveseii

Der herrschenden Kirche blieben übrigens die Widersprüche, in die sie sich
verwickelt hatte, keineswegs verborgen. Man sieht das nnter anderm ans
einem Pönitentiale des vierzehnten Jahrhunderts. Darin wird 60 lÜLtrlomdus
0t ot'bviis imckilibus gehandelt. Es gebe, heißt es da, einige Erwerbszweige, die
ohne Sünde schlechterdings nicht ausgeübt werden könnten, wie die der Histrionen,
der öffentlichen Dirnen und der Wucherer. (Die Histrionen teilt der Verfasser
in drei Klassen: erstens solche Leute, die etwa unsern heutigen Schauspielern
und Artisten entsprechen, zweitens wandernde Geschichtenerzähler, mit denen
wohl fahrende Sänger gemeint sind, drittens Musikanten, unter denen jedoch
eine ehrbare Klasse von den übrigen ausgeschieden wird.) Die einem solchen
Erwerb nachgehen, können nur unter der Bedingung losgesprochen werden,
daß sie ihm entsagen. Dann giebt es Leute, die ganz unnütze Dinge treiben,
wie Kränze flechten und Spielwürfel anfertigen. Endlich solche, die nicht zu
entbehren sind, deren Beruf aber kaum ohne Sünde ausgeübt werden kann,
wie die Kaufleute und die Söldner. Der Verfasser wirft nun die Frage auf,
wie es komme, daß die Dirnen nicht, gleich den Wucherern, exkommunizirt,
sondern in der Kirche geduldet würden, da doch Gott im Alten Testament
befohlen habe, derlei Leute aus seinem Volke auszurotten. Die Autwort
lautet, weil die Tugend der Enthaltsamkeit weder durch Lehre noch dnrch
Zwang durchgesetzt werden könne, daher zur Verhütung schlimmerer Dinge
auf die Ausrottung der Vuhleriunen verzichtet werden müsse. Man sieht, die
Hierarchie ist sich dessen wohl bewußt, daß es mir zwei Erwerbsarten giebt,
die dein Christen ziemen, Ackerbau und Handwerk, daß in einer vollkommen
christlichen Gesellschaft keine andern betrieben werden, und lasterhafte Menschen
überhaupt nicht vorkommen würden. Aber vor die Frage gestellt, ob die katho¬
lische Kirche nnter Verzichtleistung auf die strenge Durchführung der christlichen
Grundsätze Volkskirche bleiben oder zur Sekte zusammenschrumpfen solle, hat
sie sich für das erstere entschieden. Und war das zunächst bestimmende dabei
der Selbsterhaltungstrieb, das Hängen an den fetten Pfründen und an der
weltbeherrschenden Stellung, fo hat in ihren edlern Mitgliedern doch gewiß
anch das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Volksscharen mitgewirkt. Ist
doch Luther, der gleich den mittelalterlichen Reformatoren von der Idee einer
bloß innerlich vom heiligen Geiste geleiteten, durch keine Menschensatzungen
äußerlich zusammengehaltenen Gemeinde der Heiligen ausgegangen war, später¬
hin, dnrch die Erfahrung belehrt und durch die unerbittlichen Thatsachen be¬
zwungen, halb gebrochnen Herzens und verbitterten Gemütes denselben Weg
gewandelt. Nur mit den härtesten Mitteln und unter fortwährenden furcht¬
baren Kämpfen mit dem widerstrebenden Teile der Bevölkerung gelang es
Calvin, die christliche Kirchenzucht in seiner Stadt Genf durchzusetzen. Strafen
wurden über die verhängt, die getanzt, die Karten gespielt, die in Calvins
Predigt gelacht hatten, die länger als drei Tage krank zu Bett lagen, ohne


Das mittelalterliche Scklemveseii

Der herrschenden Kirche blieben übrigens die Widersprüche, in die sie sich
verwickelt hatte, keineswegs verborgen. Man sieht das nnter anderm ans
einem Pönitentiale des vierzehnten Jahrhunderts. Darin wird 60 lÜLtrlomdus
0t ot'bviis imckilibus gehandelt. Es gebe, heißt es da, einige Erwerbszweige, die
ohne Sünde schlechterdings nicht ausgeübt werden könnten, wie die der Histrionen,
der öffentlichen Dirnen und der Wucherer. (Die Histrionen teilt der Verfasser
in drei Klassen: erstens solche Leute, die etwa unsern heutigen Schauspielern
und Artisten entsprechen, zweitens wandernde Geschichtenerzähler, mit denen
wohl fahrende Sänger gemeint sind, drittens Musikanten, unter denen jedoch
eine ehrbare Klasse von den übrigen ausgeschieden wird.) Die einem solchen
Erwerb nachgehen, können nur unter der Bedingung losgesprochen werden,
daß sie ihm entsagen. Dann giebt es Leute, die ganz unnütze Dinge treiben,
wie Kränze flechten und Spielwürfel anfertigen. Endlich solche, die nicht zu
entbehren sind, deren Beruf aber kaum ohne Sünde ausgeübt werden kann,
wie die Kaufleute und die Söldner. Der Verfasser wirft nun die Frage auf,
wie es komme, daß die Dirnen nicht, gleich den Wucherern, exkommunizirt,
sondern in der Kirche geduldet würden, da doch Gott im Alten Testament
befohlen habe, derlei Leute aus seinem Volke auszurotten. Die Autwort
lautet, weil die Tugend der Enthaltsamkeit weder durch Lehre noch dnrch
Zwang durchgesetzt werden könne, daher zur Verhütung schlimmerer Dinge
auf die Ausrottung der Vuhleriunen verzichtet werden müsse. Man sieht, die
Hierarchie ist sich dessen wohl bewußt, daß es mir zwei Erwerbsarten giebt,
die dein Christen ziemen, Ackerbau und Handwerk, daß in einer vollkommen
christlichen Gesellschaft keine andern betrieben werden, und lasterhafte Menschen
überhaupt nicht vorkommen würden. Aber vor die Frage gestellt, ob die katho¬
lische Kirche nnter Verzichtleistung auf die strenge Durchführung der christlichen
Grundsätze Volkskirche bleiben oder zur Sekte zusammenschrumpfen solle, hat
sie sich für das erstere entschieden. Und war das zunächst bestimmende dabei
der Selbsterhaltungstrieb, das Hängen an den fetten Pfründen und an der
weltbeherrschenden Stellung, fo hat in ihren edlern Mitgliedern doch gewiß
anch das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Volksscharen mitgewirkt. Ist
doch Luther, der gleich den mittelalterlichen Reformatoren von der Idee einer
bloß innerlich vom heiligen Geiste geleiteten, durch keine Menschensatzungen
äußerlich zusammengehaltenen Gemeinde der Heiligen ausgegangen war, später¬
hin, dnrch die Erfahrung belehrt und durch die unerbittlichen Thatsachen be¬
zwungen, halb gebrochnen Herzens und verbitterten Gemütes denselben Weg
gewandelt. Nur mit den härtesten Mitteln und unter fortwährenden furcht¬
baren Kämpfen mit dem widerstrebenden Teile der Bevölkerung gelang es
Calvin, die christliche Kirchenzucht in seiner Stadt Genf durchzusetzen. Strafen
wurden über die verhängt, die getanzt, die Karten gespielt, die in Calvins
Predigt gelacht hatten, die länger als drei Tage krank zu Bett lagen, ohne


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[0281] Das mittelalterliche Scklemveseii Der herrschenden Kirche blieben übrigens die Widersprüche, in die sie sich verwickelt hatte, keineswegs verborgen. Man sieht das nnter anderm ans einem Pönitentiale des vierzehnten Jahrhunderts. Darin wird 60 lÜLtrlomdus 0t ot'bviis imckilibus gehandelt. Es gebe, heißt es da, einige Erwerbszweige, die ohne Sünde schlechterdings nicht ausgeübt werden könnten, wie die der Histrionen, der öffentlichen Dirnen und der Wucherer. (Die Histrionen teilt der Verfasser in drei Klassen: erstens solche Leute, die etwa unsern heutigen Schauspielern und Artisten entsprechen, zweitens wandernde Geschichtenerzähler, mit denen wohl fahrende Sänger gemeint sind, drittens Musikanten, unter denen jedoch eine ehrbare Klasse von den übrigen ausgeschieden wird.) Die einem solchen Erwerb nachgehen, können nur unter der Bedingung losgesprochen werden, daß sie ihm entsagen. Dann giebt es Leute, die ganz unnütze Dinge treiben, wie Kränze flechten und Spielwürfel anfertigen. Endlich solche, die nicht zu entbehren sind, deren Beruf aber kaum ohne Sünde ausgeübt werden kann, wie die Kaufleute und die Söldner. Der Verfasser wirft nun die Frage auf, wie es komme, daß die Dirnen nicht, gleich den Wucherern, exkommunizirt, sondern in der Kirche geduldet würden, da doch Gott im Alten Testament befohlen habe, derlei Leute aus seinem Volke auszurotten. Die Autwort lautet, weil die Tugend der Enthaltsamkeit weder durch Lehre noch dnrch Zwang durchgesetzt werden könne, daher zur Verhütung schlimmerer Dinge auf die Ausrottung der Vuhleriunen verzichtet werden müsse. Man sieht, die Hierarchie ist sich dessen wohl bewußt, daß es mir zwei Erwerbsarten giebt, die dein Christen ziemen, Ackerbau und Handwerk, daß in einer vollkommen christlichen Gesellschaft keine andern betrieben werden, und lasterhafte Menschen überhaupt nicht vorkommen würden. Aber vor die Frage gestellt, ob die katho¬ lische Kirche nnter Verzichtleistung auf die strenge Durchführung der christlichen Grundsätze Volkskirche bleiben oder zur Sekte zusammenschrumpfen solle, hat sie sich für das erstere entschieden. Und war das zunächst bestimmende dabei der Selbsterhaltungstrieb, das Hängen an den fetten Pfründen und an der weltbeherrschenden Stellung, fo hat in ihren edlern Mitgliedern doch gewiß anch das Gefühl der Verantwortlichkeit für die Volksscharen mitgewirkt. Ist doch Luther, der gleich den mittelalterlichen Reformatoren von der Idee einer bloß innerlich vom heiligen Geiste geleiteten, durch keine Menschensatzungen äußerlich zusammengehaltenen Gemeinde der Heiligen ausgegangen war, später¬ hin, dnrch die Erfahrung belehrt und durch die unerbittlichen Thatsachen be¬ zwungen, halb gebrochnen Herzens und verbitterten Gemütes denselben Weg gewandelt. Nur mit den härtesten Mitteln und unter fortwährenden furcht¬ baren Kämpfen mit dem widerstrebenden Teile der Bevölkerung gelang es Calvin, die christliche Kirchenzucht in seiner Stadt Genf durchzusetzen. Strafen wurden über die verhängt, die getanzt, die Karten gespielt, die in Calvins Predigt gelacht hatten, die länger als drei Tage krank zu Bett lagen, ohne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/281>, abgerufen am 24.07.2024.