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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Leben und Sitten im Lande der deutschen Barbaren

Nachdem so Herr von Wyzewa das deutsche Gemüt hinlänglich erklärt
zu haben glaubt, erstreckt er seine Untersuchungen auf ein, wie er selbst gesteht,
unendlich Schwierigeres Gebiet: die Willensthätigkeit der Deutschen. "So viel
steht fest, der Deutsche hat keinen Willen, er hat nur das Bedürfnis, zu ge¬
horchen." "Vor nicht allzulanger Zeit hatte es genügt, daß einige Berliner
Blätter Frankreich kriegerische Absichten unterschoben, um ganz Deutschland in
Haß gegen Frankreich zu entflammen. Sechs Monate laug gab es keinen
Deutschen, der die Franzosen nicht verabscheut hatte, und ein halbes Jahr
später, als bewiesen war, daß Frankreich den Krieg nicht wollte, gab es
keine" Deutschen, der sie nicht wieder achtete." Überall zeigt sich dieselbe
Unterordnung. Die Studenten ans der Universität führen genau dasselbe
gebundene Leben wie die Soldaten in den Kasernen. Alles geschieht auf
Befehl: Biertrinken, Essen, Singen, sogar das, worüber der Student sprechen
darf, ist ihm genau vorgeschrieben. Religion und Politik sind überhaupt von ihren
Gesprächen ausgeschlossen. Auch würden sie darüber wohl gar nicht sprechen
können, da der Deutsche kein persönliches Urteil hat. Jedes Urteil muß viel¬
mehr dem der Allgemeinheit untergeordnet werden. Daher kommt auch die
allgemeine Bewunderung der Franzosen, die wohl schon das Sprichwort "Sich
so wohl befinden wie der liebe Gott in Frankreich" erkennen lassen dürfte.
Aus eben diesem Maugel an persönlichem Urteil läßt sich übrigens auch die
allgemeine Berühmtheit der großen Männer Deutschlands erklären. "Niemand
würde es wagen, das Genie eines Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven an¬
zuzweifeln. Bei solchen berühmten Namen kann die Kritik nur zum Kommentar
werden." Aber ist denn Deutschland nicht das Land der kühnsten Denker?
Mag sein; doch ist alle Anregung erst vom Auslande, vou Frankreich und
England gekommen, und die deutsche Philosophie hat nur das Verdienst,
überlieferte Prinzipien weiter ausgebildet zu haben. So herrschet? z. B. heute
auf allen deutschen Universitäten die Pshchovhysik eines Wundt und die Ent¬
wicklungslehre eines Hückel vor, beides Lehren englischen Ursprungs. Ebenso
kommt auch in Kunst und Litteratur jeder Anstoß von außen, da der Deutsche
niemals aus sich selbst heraus ein Kunstwerk zu schaffen vermag.

In sittlicher Hinsicht ist dieser Mangel an Initiative und der Geist der
Unterwürfigkeit für die Deutschen heilbringend gewesen, denn ihre Moral liegt
in jenem Mangel begründet und ist gewissermaßen eine süße Gewohnheit.
Doch der Augenblick ist nahe, wo die moralische Gesinnung auch in Deutsch¬
land verschwinden wird. "Von Berlin geht die moralische Zersetzung des
deutschen Reiches wie eine Epidemie aus, und über Nacht hat es die Sitten,
die Jahrhunderte nicht ändern konnten, verdorben." Zur Zeit der Madame
de StnÄ konnte es, wie sie selbst erzählt, noch vorkommen, daß man von einem
Apfelbaum in Leipzig keine Früchte studi, nur weil eine Tafel daran den
Diebstahl untersagte. Und wie ergeht es heutzutage diesen: berühmten Baun",


Leben und Sitten im Lande der deutschen Barbaren

Nachdem so Herr von Wyzewa das deutsche Gemüt hinlänglich erklärt
zu haben glaubt, erstreckt er seine Untersuchungen auf ein, wie er selbst gesteht,
unendlich Schwierigeres Gebiet: die Willensthätigkeit der Deutschen. „So viel
steht fest, der Deutsche hat keinen Willen, er hat nur das Bedürfnis, zu ge¬
horchen." „Vor nicht allzulanger Zeit hatte es genügt, daß einige Berliner
Blätter Frankreich kriegerische Absichten unterschoben, um ganz Deutschland in
Haß gegen Frankreich zu entflammen. Sechs Monate laug gab es keinen
Deutschen, der die Franzosen nicht verabscheut hatte, und ein halbes Jahr
später, als bewiesen war, daß Frankreich den Krieg nicht wollte, gab es
keine» Deutschen, der sie nicht wieder achtete." Überall zeigt sich dieselbe
Unterordnung. Die Studenten ans der Universität führen genau dasselbe
gebundene Leben wie die Soldaten in den Kasernen. Alles geschieht auf
Befehl: Biertrinken, Essen, Singen, sogar das, worüber der Student sprechen
darf, ist ihm genau vorgeschrieben. Religion und Politik sind überhaupt von ihren
Gesprächen ausgeschlossen. Auch würden sie darüber wohl gar nicht sprechen
können, da der Deutsche kein persönliches Urteil hat. Jedes Urteil muß viel¬
mehr dem der Allgemeinheit untergeordnet werden. Daher kommt auch die
allgemeine Bewunderung der Franzosen, die wohl schon das Sprichwort „Sich
so wohl befinden wie der liebe Gott in Frankreich" erkennen lassen dürfte.
Aus eben diesem Maugel an persönlichem Urteil läßt sich übrigens auch die
allgemeine Berühmtheit der großen Männer Deutschlands erklären. „Niemand
würde es wagen, das Genie eines Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven an¬
zuzweifeln. Bei solchen berühmten Namen kann die Kritik nur zum Kommentar
werden." Aber ist denn Deutschland nicht das Land der kühnsten Denker?
Mag sein; doch ist alle Anregung erst vom Auslande, vou Frankreich und
England gekommen, und die deutsche Philosophie hat nur das Verdienst,
überlieferte Prinzipien weiter ausgebildet zu haben. So herrschet? z. B. heute
auf allen deutschen Universitäten die Pshchovhysik eines Wundt und die Ent¬
wicklungslehre eines Hückel vor, beides Lehren englischen Ursprungs. Ebenso
kommt auch in Kunst und Litteratur jeder Anstoß von außen, da der Deutsche
niemals aus sich selbst heraus ein Kunstwerk zu schaffen vermag.

In sittlicher Hinsicht ist dieser Mangel an Initiative und der Geist der
Unterwürfigkeit für die Deutschen heilbringend gewesen, denn ihre Moral liegt
in jenem Mangel begründet und ist gewissermaßen eine süße Gewohnheit.
Doch der Augenblick ist nahe, wo die moralische Gesinnung auch in Deutsch¬
land verschwinden wird. „Von Berlin geht die moralische Zersetzung des
deutschen Reiches wie eine Epidemie aus, und über Nacht hat es die Sitten,
die Jahrhunderte nicht ändern konnten, verdorben." Zur Zeit der Madame
de StnÄ konnte es, wie sie selbst erzählt, noch vorkommen, daß man von einem
Apfelbaum in Leipzig keine Früchte studi, nur weil eine Tafel daran den
Diebstahl untersagte. Und wie ergeht es heutzutage diesen: berühmten Baun«,


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[0265] Leben und Sitten im Lande der deutschen Barbaren Nachdem so Herr von Wyzewa das deutsche Gemüt hinlänglich erklärt zu haben glaubt, erstreckt er seine Untersuchungen auf ein, wie er selbst gesteht, unendlich Schwierigeres Gebiet: die Willensthätigkeit der Deutschen. „So viel steht fest, der Deutsche hat keinen Willen, er hat nur das Bedürfnis, zu ge¬ horchen." „Vor nicht allzulanger Zeit hatte es genügt, daß einige Berliner Blätter Frankreich kriegerische Absichten unterschoben, um ganz Deutschland in Haß gegen Frankreich zu entflammen. Sechs Monate laug gab es keinen Deutschen, der die Franzosen nicht verabscheut hatte, und ein halbes Jahr später, als bewiesen war, daß Frankreich den Krieg nicht wollte, gab es keine» Deutschen, der sie nicht wieder achtete." Überall zeigt sich dieselbe Unterordnung. Die Studenten ans der Universität führen genau dasselbe gebundene Leben wie die Soldaten in den Kasernen. Alles geschieht auf Befehl: Biertrinken, Essen, Singen, sogar das, worüber der Student sprechen darf, ist ihm genau vorgeschrieben. Religion und Politik sind überhaupt von ihren Gesprächen ausgeschlossen. Auch würden sie darüber wohl gar nicht sprechen können, da der Deutsche kein persönliches Urteil hat. Jedes Urteil muß viel¬ mehr dem der Allgemeinheit untergeordnet werden. Daher kommt auch die allgemeine Bewunderung der Franzosen, die wohl schon das Sprichwort „Sich so wohl befinden wie der liebe Gott in Frankreich" erkennen lassen dürfte. Aus eben diesem Maugel an persönlichem Urteil läßt sich übrigens auch die allgemeine Berühmtheit der großen Männer Deutschlands erklären. „Niemand würde es wagen, das Genie eines Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven an¬ zuzweifeln. Bei solchen berühmten Namen kann die Kritik nur zum Kommentar werden." Aber ist denn Deutschland nicht das Land der kühnsten Denker? Mag sein; doch ist alle Anregung erst vom Auslande, vou Frankreich und England gekommen, und die deutsche Philosophie hat nur das Verdienst, überlieferte Prinzipien weiter ausgebildet zu haben. So herrschet? z. B. heute auf allen deutschen Universitäten die Pshchovhysik eines Wundt und die Ent¬ wicklungslehre eines Hückel vor, beides Lehren englischen Ursprungs. Ebenso kommt auch in Kunst und Litteratur jeder Anstoß von außen, da der Deutsche niemals aus sich selbst heraus ein Kunstwerk zu schaffen vermag. In sittlicher Hinsicht ist dieser Mangel an Initiative und der Geist der Unterwürfigkeit für die Deutschen heilbringend gewesen, denn ihre Moral liegt in jenem Mangel begründet und ist gewissermaßen eine süße Gewohnheit. Doch der Augenblick ist nahe, wo die moralische Gesinnung auch in Deutsch¬ land verschwinden wird. „Von Berlin geht die moralische Zersetzung des deutschen Reiches wie eine Epidemie aus, und über Nacht hat es die Sitten, die Jahrhunderte nicht ändern konnten, verdorben." Zur Zeit der Madame de StnÄ konnte es, wie sie selbst erzählt, noch vorkommen, daß man von einem Apfelbaum in Leipzig keine Früchte studi, nur weil eine Tafel daran den Diebstahl untersagte. Und wie ergeht es heutzutage diesen: berühmten Baun«,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/265>, abgerufen am 24.07.2024.