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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Litteratur

sein, die an irgend eine Beziehung glauben zwischen dem allgemeinen Stinnnrecht
und dem Sinn eines Volkes. In der traurigen Lage, sich stellen zu müssen, als
glaubte er an eine solche Beziehung, ist allerdings Herr de Cassagnac. Seine
Politik ist ja gebaut ans das widersinnigste der Dogmen, ans das Dogma der
untrüglichen Weisheit und Macht des allgemeinen Stimmrechts. Unbefangene
Köpfe, die nicht in der Lage sind, mit dem allgemeinen Stimmrecht ein trügerisches
Manöver vornehmen zu wollen, von dem sie die Erreichung ihres Zieles erwarten,
wissen, daß das allgemeine Stimmrecht, zumal wenn es sich unter der Decke des
Geheimnisses abspielen darf, der Freibodeu aller kleinen und albernen Leidenschaften
ist. Der Geist eines Volkes ist allem in seinen erleuchtete" Köpfen, von deuen
eine elektrische, allerdings, je weiter sie sich von ihrem Herde entfernt, desto
schwächer wirkende Kette bis zu den fernsten Enden ausgeht. Das allgemeine
geheime Stimmrecht ist nichts als die Absperrung dieses Stromes von der Masse
des Volkes, ist nichts als die Befreiung aller kurzsichtigen Instinkte, aller niedrigen
Begierden. Nur in den seltensten Fällen kann es vorkommen, daß eine edle
Leidenschaft sogar den Damm hinwegreißt, den das Geheimnis vor das niedrige
Getiimmel des allgemeinen Stimmrechts zieht. Ein Staatsmann, dessen gewaltige
Hand ganz neue Zustände schafft, hat alle Anhänger des Alten zu Feinden. In
Deutschland hat jedermann gewußt, daß der Eigennutz, der sich früher innerhalb
der Karikatur des Privatstaateutums gütlich that, den Zertrümmerer dieser Mi߬
wirtschaft haßt, ebenso wie ihn der Radikalismus haßt, für den Herr de Cassagnac
das prächtig Wort Radieaille erfunden hat. Wer aber will diese Elemente vom
allgemeinen Stinnnrecht ausschließen? Ein solches Rezept hat nicht einmal Herr
de Cassagnac erfunden, und da wundert er sich, daß auf dem Voden des geheimen
allgemeinen Wahlrechts mindestens ebenso viel Ungeziefer herumkrabbelt, als sich
gesunde Wesen da bewegen können!




Litteratur

Gedichte von Paul Kunad. Dresden und Leipzig, E. Piersvns Verlag.

Aus der Flut immer neuer lyrischer Sammlungen, die in den seltensten Fällen
auch nur ein schönes, warmempsuudenes und eigentümliches Gedicht enthalten, taucht
dies schlichte Heftchen bemerkenswert hervor. Die Gedichte von Paul Knnad sind
Zeugnisse eiues echten lyrischen Talents, das sich freilich des modischen Pessimismus
nicht völlig zu erwehren vermocht hat, aber seine trübe Grundempfinduug wenigstens
in wohltönenden und nicht schrillen Lauten ausspricht. Gedichte wie "Mondnacht,"
"Mitlagsstimmnug," das Ritornell "Bräutlicher Schleier," "In der Haide," "Das
Volkslied," "Irrtum" und ewige andre sind nicht bloß formell vortrefflich, sondern
bergen innere Musik. Wir wünschen dem Dichter gedeihliche Entwicklung und
Überwindung jedes unechten Pathos.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
Litteratur

sein, die an irgend eine Beziehung glauben zwischen dem allgemeinen Stinnnrecht
und dem Sinn eines Volkes. In der traurigen Lage, sich stellen zu müssen, als
glaubte er an eine solche Beziehung, ist allerdings Herr de Cassagnac. Seine
Politik ist ja gebaut ans das widersinnigste der Dogmen, ans das Dogma der
untrüglichen Weisheit und Macht des allgemeinen Stimmrechts. Unbefangene
Köpfe, die nicht in der Lage sind, mit dem allgemeinen Stimmrecht ein trügerisches
Manöver vornehmen zu wollen, von dem sie die Erreichung ihres Zieles erwarten,
wissen, daß das allgemeine Stimmrecht, zumal wenn es sich unter der Decke des
Geheimnisses abspielen darf, der Freibodeu aller kleinen und albernen Leidenschaften
ist. Der Geist eines Volkes ist allem in seinen erleuchtete» Köpfen, von deuen
eine elektrische, allerdings, je weiter sie sich von ihrem Herde entfernt, desto
schwächer wirkende Kette bis zu den fernsten Enden ausgeht. Das allgemeine
geheime Stimmrecht ist nichts als die Absperrung dieses Stromes von der Masse
des Volkes, ist nichts als die Befreiung aller kurzsichtigen Instinkte, aller niedrigen
Begierden. Nur in den seltensten Fällen kann es vorkommen, daß eine edle
Leidenschaft sogar den Damm hinwegreißt, den das Geheimnis vor das niedrige
Getiimmel des allgemeinen Stimmrechts zieht. Ein Staatsmann, dessen gewaltige
Hand ganz neue Zustände schafft, hat alle Anhänger des Alten zu Feinden. In
Deutschland hat jedermann gewußt, daß der Eigennutz, der sich früher innerhalb
der Karikatur des Privatstaateutums gütlich that, den Zertrümmerer dieser Mi߬
wirtschaft haßt, ebenso wie ihn der Radikalismus haßt, für den Herr de Cassagnac
das prächtig Wort Radieaille erfunden hat. Wer aber will diese Elemente vom
allgemeinen Stinnnrecht ausschließen? Ein solches Rezept hat nicht einmal Herr
de Cassagnac erfunden, und da wundert er sich, daß auf dem Voden des geheimen
allgemeinen Wahlrechts mindestens ebenso viel Ungeziefer herumkrabbelt, als sich
gesunde Wesen da bewegen können!




Litteratur

Gedichte von Paul Kunad. Dresden und Leipzig, E. Piersvns Verlag.

Aus der Flut immer neuer lyrischer Sammlungen, die in den seltensten Fällen
auch nur ein schönes, warmempsuudenes und eigentümliches Gedicht enthalten, taucht
dies schlichte Heftchen bemerkenswert hervor. Die Gedichte von Paul Knnad sind
Zeugnisse eiues echten lyrischen Talents, das sich freilich des modischen Pessimismus
nicht völlig zu erwehren vermocht hat, aber seine trübe Grundempfinduug wenigstens
in wohltönenden und nicht schrillen Lauten ausspricht. Gedichte wie „Mondnacht,"
„Mitlagsstimmnug," das Ritornell „Bräutlicher Schleier," „In der Haide," „Das
Volkslied," „Irrtum" und ewige andre sind nicht bloß formell vortrefflich, sondern
bergen innere Musik. Wir wünschen dem Dichter gedeihliche Entwicklung und
Überwindung jedes unechten Pathos.




Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0260] Litteratur sein, die an irgend eine Beziehung glauben zwischen dem allgemeinen Stinnnrecht und dem Sinn eines Volkes. In der traurigen Lage, sich stellen zu müssen, als glaubte er an eine solche Beziehung, ist allerdings Herr de Cassagnac. Seine Politik ist ja gebaut ans das widersinnigste der Dogmen, ans das Dogma der untrüglichen Weisheit und Macht des allgemeinen Stimmrechts. Unbefangene Köpfe, die nicht in der Lage sind, mit dem allgemeinen Stimmrecht ein trügerisches Manöver vornehmen zu wollen, von dem sie die Erreichung ihres Zieles erwarten, wissen, daß das allgemeine Stimmrecht, zumal wenn es sich unter der Decke des Geheimnisses abspielen darf, der Freibodeu aller kleinen und albernen Leidenschaften ist. Der Geist eines Volkes ist allem in seinen erleuchtete» Köpfen, von deuen eine elektrische, allerdings, je weiter sie sich von ihrem Herde entfernt, desto schwächer wirkende Kette bis zu den fernsten Enden ausgeht. Das allgemeine geheime Stimmrecht ist nichts als die Absperrung dieses Stromes von der Masse des Volkes, ist nichts als die Befreiung aller kurzsichtigen Instinkte, aller niedrigen Begierden. Nur in den seltensten Fällen kann es vorkommen, daß eine edle Leidenschaft sogar den Damm hinwegreißt, den das Geheimnis vor das niedrige Getiimmel des allgemeinen Stimmrechts zieht. Ein Staatsmann, dessen gewaltige Hand ganz neue Zustände schafft, hat alle Anhänger des Alten zu Feinden. In Deutschland hat jedermann gewußt, daß der Eigennutz, der sich früher innerhalb der Karikatur des Privatstaateutums gütlich that, den Zertrümmerer dieser Mi߬ wirtschaft haßt, ebenso wie ihn der Radikalismus haßt, für den Herr de Cassagnac das prächtig Wort Radieaille erfunden hat. Wer aber will diese Elemente vom allgemeinen Stinnnrecht ausschließen? Ein solches Rezept hat nicht einmal Herr de Cassagnac erfunden, und da wundert er sich, daß auf dem Voden des geheimen allgemeinen Wahlrechts mindestens ebenso viel Ungeziefer herumkrabbelt, als sich gesunde Wesen da bewegen können! Litteratur Gedichte von Paul Kunad. Dresden und Leipzig, E. Piersvns Verlag. Aus der Flut immer neuer lyrischer Sammlungen, die in den seltensten Fällen auch nur ein schönes, warmempsuudenes und eigentümliches Gedicht enthalten, taucht dies schlichte Heftchen bemerkenswert hervor. Die Gedichte von Paul Knnad sind Zeugnisse eiues echten lyrischen Talents, das sich freilich des modischen Pessimismus nicht völlig zu erwehren vermocht hat, aber seine trübe Grundempfinduug wenigstens in wohltönenden und nicht schrillen Lauten ausspricht. Gedichte wie „Mondnacht," „Mitlagsstimmnug," das Ritornell „Bräutlicher Schleier," „In der Haide," „Das Volkslied," „Irrtum" und ewige andre sind nicht bloß formell vortrefflich, sondern bergen innere Musik. Wir wünschen dem Dichter gedeihliche Entwicklung und Überwindung jedes unechten Pathos. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunvw in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/260>, abgerufen am 04.07.2024.