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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Die neu gefundene Schrift des Aristoteles

beschlossen, dich festzunehmen, hüte dich!" Darauf geht er in die Versammlung
des Areopags und spricht: "Verschwörer sind am Werke, die Verfassung zu
stürzen; folgt mir, das; ich sie euch zeige!" Er führt die Abgesandten des
Areopags darauf dem Hause des Ephialtes zu, und als er sich mit seine"
Begleitern von dort bemerkt sieht, hüte er die Areopagiteu durch eifriges Ge¬
spräch noch eine Weile fest, während Ephialtes, der sich verloren glaubt, zum
Altar flüchtet als Schutzflehender. Auf die Kunde dieser Vorgänge versammelt
sich der Rat, Ephialtes klagt den Areopag an, wird von Themistokles unter¬
stützt, und das Volk, dem die Sache vorgelegt wird, entkleidet den Areopag
der wichtigsten seiner Befugnisse.

Drakons Gesetzgebung hatte, wie wir jetzt erfahren, auch große politische
Bedeutung. Eine der wichtigsten Reformen auf politischem Gebiete ist die
Zensuseinteilung des athenischen Volkes gewesen, nach der Rechte und Pflichten
der Bürger abgestuft wurde"; diese Einrichtung, durch die mit einem Schlage
das Adelsprivilegium beseitigt und die Gruppirung der Stände und Parteien
umgestaltet wurde, ist nicht dem Solo", sondern dem Drakon zuzuschreiben.
Doch Solons Persönlichkeit verliert darum nichts, sie tritt uns Heller und
klarer entgegen und zeigt neue charakteristische Züge. Schärfer und bestimmter
als früher erkenne" wir jetzt, daß die soziale Reform die Grundlage und das
Hauptwerk der solonischen Thätigkeit gebildet hat. Das Volk war verarmt;
die Vornehmen und Reichen handhabten schonungslos ein hartes Schuldrecht,
pfändeten, Vertrieben vou Haus und Hof, kerkerten ein, ja verkauften in die
Sklaverei den Schuldner, der, weil er nicht bezahlen konnte, dem Gläubiger
mit Leib und Leben verfallen war. Lauter und lauter tönen die Klagen der
Armen, die sich nicht mehr aus ihrer Not emporzuarbeiten vermögen, die
Flüche, die sie gegen ihre Bedrücker schleudern, die Ruhe nach einem Helfer
und Erretter. Solon hatte schon früher die Blicke ans sich gezogen, vor allem
damals, als er, der Dichter, mit der Kraft seines Wortes auf seine Mitbürger
einstürmte und sie mit sich fortriß zur Wiedereroberung des von den Megarern
entrissenen "lieblichen Salamis." Auch jetzt war es sein dichterisches Wort,
das die Entscheidung herbeiführte. Aristoteles sagt: "Als der Bürgerzwist
heftig war, und die Parteien schon lauge Zeit feindlich einander gegenüber¬
standen, da wählten alle in Übereinstinimung zum Friedensstifter und Regenten
den Solon; sie übertrüge" ihm die Ordnung des Staatswesens, als er die
Elegie gedichtet hatte, deren Anfang so lautet:


Trauer erfüllt meinen Sinn, und Schmerz nagt tief mir im Busen,
Blick' ich auf Attika hin, Ioniens ältestes Land."

Einen großen Teil dieser Elegie besitzen wir schon von früher her. Solon
spricht in ihr uicht nur seinen Schmerz aus über die Not seiner Mitbürger
und das Unglück seines Vaterlandes, sondern anch seinen Zorn über die Hab¬
gier und Härte seiner Standesgenossen, der Vornehmen Athens. Ihnen mißt


Die neu gefundene Schrift des Aristoteles

beschlossen, dich festzunehmen, hüte dich!" Darauf geht er in die Versammlung
des Areopags und spricht: „Verschwörer sind am Werke, die Verfassung zu
stürzen; folgt mir, das; ich sie euch zeige!" Er führt die Abgesandten des
Areopags darauf dem Hause des Ephialtes zu, und als er sich mit seine»
Begleitern von dort bemerkt sieht, hüte er die Areopagiteu durch eifriges Ge¬
spräch noch eine Weile fest, während Ephialtes, der sich verloren glaubt, zum
Altar flüchtet als Schutzflehender. Auf die Kunde dieser Vorgänge versammelt
sich der Rat, Ephialtes klagt den Areopag an, wird von Themistokles unter¬
stützt, und das Volk, dem die Sache vorgelegt wird, entkleidet den Areopag
der wichtigsten seiner Befugnisse.

Drakons Gesetzgebung hatte, wie wir jetzt erfahren, auch große politische
Bedeutung. Eine der wichtigsten Reformen auf politischem Gebiete ist die
Zensuseinteilung des athenischen Volkes gewesen, nach der Rechte und Pflichten
der Bürger abgestuft wurde»; diese Einrichtung, durch die mit einem Schlage
das Adelsprivilegium beseitigt und die Gruppirung der Stände und Parteien
umgestaltet wurde, ist nicht dem Solo», sondern dem Drakon zuzuschreiben.
Doch Solons Persönlichkeit verliert darum nichts, sie tritt uns Heller und
klarer entgegen und zeigt neue charakteristische Züge. Schärfer und bestimmter
als früher erkenne» wir jetzt, daß die soziale Reform die Grundlage und das
Hauptwerk der solonischen Thätigkeit gebildet hat. Das Volk war verarmt;
die Vornehmen und Reichen handhabten schonungslos ein hartes Schuldrecht,
pfändeten, Vertrieben vou Haus und Hof, kerkerten ein, ja verkauften in die
Sklaverei den Schuldner, der, weil er nicht bezahlen konnte, dem Gläubiger
mit Leib und Leben verfallen war. Lauter und lauter tönen die Klagen der
Armen, die sich nicht mehr aus ihrer Not emporzuarbeiten vermögen, die
Flüche, die sie gegen ihre Bedrücker schleudern, die Ruhe nach einem Helfer
und Erretter. Solon hatte schon früher die Blicke ans sich gezogen, vor allem
damals, als er, der Dichter, mit der Kraft seines Wortes auf seine Mitbürger
einstürmte und sie mit sich fortriß zur Wiedereroberung des von den Megarern
entrissenen „lieblichen Salamis." Auch jetzt war es sein dichterisches Wort,
das die Entscheidung herbeiführte. Aristoteles sagt: „Als der Bürgerzwist
heftig war, und die Parteien schon lauge Zeit feindlich einander gegenüber¬
standen, da wählten alle in Übereinstinimung zum Friedensstifter und Regenten
den Solon; sie übertrüge» ihm die Ordnung des Staatswesens, als er die
Elegie gedichtet hatte, deren Anfang so lautet:


Trauer erfüllt meinen Sinn, und Schmerz nagt tief mir im Busen,
Blick' ich auf Attika hin, Ioniens ältestes Land."

Einen großen Teil dieser Elegie besitzen wir schon von früher her. Solon
spricht in ihr uicht nur seinen Schmerz aus über die Not seiner Mitbürger
und das Unglück seines Vaterlandes, sondern anch seinen Zorn über die Hab¬
gier und Härte seiner Standesgenossen, der Vornehmen Athens. Ihnen mißt


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[0026] Die neu gefundene Schrift des Aristoteles beschlossen, dich festzunehmen, hüte dich!" Darauf geht er in die Versammlung des Areopags und spricht: „Verschwörer sind am Werke, die Verfassung zu stürzen; folgt mir, das; ich sie euch zeige!" Er führt die Abgesandten des Areopags darauf dem Hause des Ephialtes zu, und als er sich mit seine» Begleitern von dort bemerkt sieht, hüte er die Areopagiteu durch eifriges Ge¬ spräch noch eine Weile fest, während Ephialtes, der sich verloren glaubt, zum Altar flüchtet als Schutzflehender. Auf die Kunde dieser Vorgänge versammelt sich der Rat, Ephialtes klagt den Areopag an, wird von Themistokles unter¬ stützt, und das Volk, dem die Sache vorgelegt wird, entkleidet den Areopag der wichtigsten seiner Befugnisse. Drakons Gesetzgebung hatte, wie wir jetzt erfahren, auch große politische Bedeutung. Eine der wichtigsten Reformen auf politischem Gebiete ist die Zensuseinteilung des athenischen Volkes gewesen, nach der Rechte und Pflichten der Bürger abgestuft wurde»; diese Einrichtung, durch die mit einem Schlage das Adelsprivilegium beseitigt und die Gruppirung der Stände und Parteien umgestaltet wurde, ist nicht dem Solo», sondern dem Drakon zuzuschreiben. Doch Solons Persönlichkeit verliert darum nichts, sie tritt uns Heller und klarer entgegen und zeigt neue charakteristische Züge. Schärfer und bestimmter als früher erkenne» wir jetzt, daß die soziale Reform die Grundlage und das Hauptwerk der solonischen Thätigkeit gebildet hat. Das Volk war verarmt; die Vornehmen und Reichen handhabten schonungslos ein hartes Schuldrecht, pfändeten, Vertrieben vou Haus und Hof, kerkerten ein, ja verkauften in die Sklaverei den Schuldner, der, weil er nicht bezahlen konnte, dem Gläubiger mit Leib und Leben verfallen war. Lauter und lauter tönen die Klagen der Armen, die sich nicht mehr aus ihrer Not emporzuarbeiten vermögen, die Flüche, die sie gegen ihre Bedrücker schleudern, die Ruhe nach einem Helfer und Erretter. Solon hatte schon früher die Blicke ans sich gezogen, vor allem damals, als er, der Dichter, mit der Kraft seines Wortes auf seine Mitbürger einstürmte und sie mit sich fortriß zur Wiedereroberung des von den Megarern entrissenen „lieblichen Salamis." Auch jetzt war es sein dichterisches Wort, das die Entscheidung herbeiführte. Aristoteles sagt: „Als der Bürgerzwist heftig war, und die Parteien schon lauge Zeit feindlich einander gegenüber¬ standen, da wählten alle in Übereinstinimung zum Friedensstifter und Regenten den Solon; sie übertrüge» ihm die Ordnung des Staatswesens, als er die Elegie gedichtet hatte, deren Anfang so lautet: Trauer erfüllt meinen Sinn, und Schmerz nagt tief mir im Busen, Blick' ich auf Attika hin, Ioniens ältestes Land." Einen großen Teil dieser Elegie besitzen wir schon von früher her. Solon spricht in ihr uicht nur seinen Schmerz aus über die Not seiner Mitbürger und das Unglück seines Vaterlandes, sondern anch seinen Zorn über die Hab¬ gier und Härte seiner Standesgenossen, der Vornehmen Athens. Ihnen mißt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/26>, abgerufen am 24.07.2024.