Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die neu gefundene Schrift des Aristoteles

loge" und Historiker noch genug beschäftigen, und es wird geraume Zeit
dauern, bis die reiche Ernte, die der Altertumswissenschaft hier neu zuwächst,
völlig geschnitten und in die Scheuern eingebracht ist; aber der zuerst beim
Werke war, hat bereits tüchtig vorgearbeitet.

Die Aristotelische Schrift zerfällt in zwei Abteilungen; in der erstell, histo¬
rischen, erzählt der Verfasser chronologisch die Entwicklung des athenischen
Staatswesens von den frühesten Zeiten bis zur Wiederherstellung der Demokratie
nach der Vertreibung der dreißig Tyrannen v. Chr. Die zweite Ab¬
teilung enthält in systematischer Anordnung die Darstellung der athenischen
Verfassung aus der Zeit des Aristoteles.

Der erste Teil ist es vorzüglich, dem wir neue Thatsachen entnehmen.
Aber bei aller Überraschung über das viele Neue, das er enthält, gewinnen
wir aus ihm doch das beruhigende Gefühl: die Quellen zweiten und dritten
Ranges, aus denen wir bisher unser Wissen von diesen Dingen schöpften, sind
zwar im ganzen lückenhaft und in Einzeldingen ungenau, haben uns aber in
Hauptsachen nicht irregeführt und uns dem Entwicklungsgange der Verfassung
richtig folgen gelehrt. Es ist wichtig gegenüber der oft übertriebenen Zweifel¬
sucht, die verhältnismäßig große Zuverlässigkeit unsrer Tradition wieder einmal
erprobt zu sehen. Plutarch vor allein wird künftig mit mehr Respekt behandelt
werden müssen. So bleiben die Konturen des Bildes dieser Zeit dieselben,
aber es wird durch neue Einzelzüge durchweg klarer und bestimmter und ge¬
winnt an manchen Stellen neuen Ausdruck. Von diesem Stellen einige Beispiele.

Der Übergang vom patriarchalischen Königtum zur Regierung der zehn
jährlich wechselnden verantwortlichen Archonten geschah nach der gewöhnlichen
Tradition auf folgende Weise. Kodros, dem letzten König Athens, folgten
lebenslänglich regierende Archonten aus dem alten königlichen Hause; darauf
wurde die Amtszeit des Archonten auf zehn Jahre beschränkt, und schließlich
aus den Eupatriden ein Kollegium von neun Archonten für jedes Jahr ge¬
wählt, von denen der erste Archon eponymvs, der zweite Basileus, der dritte
Polemarchos, die übrigen sechs Thesmvthetai hießen. Die überlieferte Be¬
gründung, daß man deshalb aufgehört habe Könige aus dem Kodridenhanse
zu wählen, weil die Sprößlinge dieses Hauses unkriegerisch geworden seien,
wies man kurzweg von der Hand. Den unvermittelter Übergang von dem
einen auf zehn Jahre gewählten Archonten zu den nenn jährlich wechselnden
nahm man hin, ohne ihn verständlich machen zu können. Aristoteles macht
ihn verständlich. In der ans die Königsherrschaft folgenden Verfassung, mit
der er seine Schilderung beginnt, befindet sich ein Regierungskollegium an der
Spitze des Staates, das aus dem Könige, dem Polemarchen und dem Archonten
besteht. Alle drei sind "Beamte" und werden mit Rücksicht auf Geschlecht
und Reichtum gewählt, in älterer Zeit zu lebenslänglicher, in späterer zu
zehnjähriger Amtsführung. Der Polemarch war dem .Könige, der nach wie


Die neu gefundene Schrift des Aristoteles

loge» und Historiker noch genug beschäftigen, und es wird geraume Zeit
dauern, bis die reiche Ernte, die der Altertumswissenschaft hier neu zuwächst,
völlig geschnitten und in die Scheuern eingebracht ist; aber der zuerst beim
Werke war, hat bereits tüchtig vorgearbeitet.

Die Aristotelische Schrift zerfällt in zwei Abteilungen; in der erstell, histo¬
rischen, erzählt der Verfasser chronologisch die Entwicklung des athenischen
Staatswesens von den frühesten Zeiten bis zur Wiederherstellung der Demokratie
nach der Vertreibung der dreißig Tyrannen v. Chr. Die zweite Ab¬
teilung enthält in systematischer Anordnung die Darstellung der athenischen
Verfassung aus der Zeit des Aristoteles.

Der erste Teil ist es vorzüglich, dem wir neue Thatsachen entnehmen.
Aber bei aller Überraschung über das viele Neue, das er enthält, gewinnen
wir aus ihm doch das beruhigende Gefühl: die Quellen zweiten und dritten
Ranges, aus denen wir bisher unser Wissen von diesen Dingen schöpften, sind
zwar im ganzen lückenhaft und in Einzeldingen ungenau, haben uns aber in
Hauptsachen nicht irregeführt und uns dem Entwicklungsgange der Verfassung
richtig folgen gelehrt. Es ist wichtig gegenüber der oft übertriebenen Zweifel¬
sucht, die verhältnismäßig große Zuverlässigkeit unsrer Tradition wieder einmal
erprobt zu sehen. Plutarch vor allein wird künftig mit mehr Respekt behandelt
werden müssen. So bleiben die Konturen des Bildes dieser Zeit dieselben,
aber es wird durch neue Einzelzüge durchweg klarer und bestimmter und ge¬
winnt an manchen Stellen neuen Ausdruck. Von diesem Stellen einige Beispiele.

Der Übergang vom patriarchalischen Königtum zur Regierung der zehn
jährlich wechselnden verantwortlichen Archonten geschah nach der gewöhnlichen
Tradition auf folgende Weise. Kodros, dem letzten König Athens, folgten
lebenslänglich regierende Archonten aus dem alten königlichen Hause; darauf
wurde die Amtszeit des Archonten auf zehn Jahre beschränkt, und schließlich
aus den Eupatriden ein Kollegium von neun Archonten für jedes Jahr ge¬
wählt, von denen der erste Archon eponymvs, der zweite Basileus, der dritte
Polemarchos, die übrigen sechs Thesmvthetai hießen. Die überlieferte Be¬
gründung, daß man deshalb aufgehört habe Könige aus dem Kodridenhanse
zu wählen, weil die Sprößlinge dieses Hauses unkriegerisch geworden seien,
wies man kurzweg von der Hand. Den unvermittelter Übergang von dem
einen auf zehn Jahre gewählten Archonten zu den nenn jährlich wechselnden
nahm man hin, ohne ihn verständlich machen zu können. Aristoteles macht
ihn verständlich. In der ans die Königsherrschaft folgenden Verfassung, mit
der er seine Schilderung beginnt, befindet sich ein Regierungskollegium an der
Spitze des Staates, das aus dem Könige, dem Polemarchen und dem Archonten
besteht. Alle drei sind „Beamte" und werden mit Rücksicht auf Geschlecht
und Reichtum gewählt, in älterer Zeit zu lebenslänglicher, in späterer zu
zehnjähriger Amtsführung. Der Polemarch war dem .Könige, der nach wie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/209891"/>
          <fw type="header" place="top"> Die neu gefundene Schrift des Aristoteles</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_56" prev="#ID_55"> loge» und Historiker noch genug beschäftigen, und es wird geraume Zeit<lb/>
dauern, bis die reiche Ernte, die der Altertumswissenschaft hier neu zuwächst,<lb/>
völlig geschnitten und in die Scheuern eingebracht ist; aber der zuerst beim<lb/>
Werke war, hat bereits tüchtig vorgearbeitet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_57"> Die Aristotelische Schrift zerfällt in zwei Abteilungen; in der erstell, histo¬<lb/>
rischen, erzählt der Verfasser chronologisch die Entwicklung des athenischen<lb/>
Staatswesens von den frühesten Zeiten bis zur Wiederherstellung der Demokratie<lb/>
nach der Vertreibung der dreißig Tyrannen v. Chr. Die zweite Ab¬<lb/>
teilung enthält in systematischer Anordnung die Darstellung der athenischen<lb/>
Verfassung aus der Zeit des Aristoteles.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_58"> Der erste Teil ist es vorzüglich, dem wir neue Thatsachen entnehmen.<lb/>
Aber bei aller Überraschung über das viele Neue, das er enthält, gewinnen<lb/>
wir aus ihm doch das beruhigende Gefühl: die Quellen zweiten und dritten<lb/>
Ranges, aus denen wir bisher unser Wissen von diesen Dingen schöpften, sind<lb/>
zwar im ganzen lückenhaft und in Einzeldingen ungenau, haben uns aber in<lb/>
Hauptsachen nicht irregeführt und uns dem Entwicklungsgange der Verfassung<lb/>
richtig folgen gelehrt. Es ist wichtig gegenüber der oft übertriebenen Zweifel¬<lb/>
sucht, die verhältnismäßig große Zuverlässigkeit unsrer Tradition wieder einmal<lb/>
erprobt zu sehen. Plutarch vor allein wird künftig mit mehr Respekt behandelt<lb/>
werden müssen. So bleiben die Konturen des Bildes dieser Zeit dieselben,<lb/>
aber es wird durch neue Einzelzüge durchweg klarer und bestimmter und ge¬<lb/>
winnt an manchen Stellen neuen Ausdruck. Von diesem Stellen einige Beispiele.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_59" next="#ID_60"> Der Übergang vom patriarchalischen Königtum zur Regierung der zehn<lb/>
jährlich wechselnden verantwortlichen Archonten geschah nach der gewöhnlichen<lb/>
Tradition auf folgende Weise. Kodros, dem letzten König Athens, folgten<lb/>
lebenslänglich regierende Archonten aus dem alten königlichen Hause; darauf<lb/>
wurde die Amtszeit des Archonten auf zehn Jahre beschränkt, und schließlich<lb/>
aus den Eupatriden ein Kollegium von neun Archonten für jedes Jahr ge¬<lb/>
wählt, von denen der erste Archon eponymvs, der zweite Basileus, der dritte<lb/>
Polemarchos, die übrigen sechs Thesmvthetai hießen. Die überlieferte Be¬<lb/>
gründung, daß man deshalb aufgehört habe Könige aus dem Kodridenhanse<lb/>
zu wählen, weil die Sprößlinge dieses Hauses unkriegerisch geworden seien,<lb/>
wies man kurzweg von der Hand. Den unvermittelter Übergang von dem<lb/>
einen auf zehn Jahre gewählten Archonten zu den nenn jährlich wechselnden<lb/>
nahm man hin, ohne ihn verständlich machen zu können. Aristoteles macht<lb/>
ihn verständlich. In der ans die Königsherrschaft folgenden Verfassung, mit<lb/>
der er seine Schilderung beginnt, befindet sich ein Regierungskollegium an der<lb/>
Spitze des Staates, das aus dem Könige, dem Polemarchen und dem Archonten<lb/>
besteht. Alle drei sind &#x201E;Beamte" und werden mit Rücksicht auf Geschlecht<lb/>
und Reichtum gewählt, in älterer Zeit zu lebenslänglicher, in späterer zu<lb/>
zehnjähriger Amtsführung.  Der Polemarch war dem .Könige, der nach wie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0024] Die neu gefundene Schrift des Aristoteles loge» und Historiker noch genug beschäftigen, und es wird geraume Zeit dauern, bis die reiche Ernte, die der Altertumswissenschaft hier neu zuwächst, völlig geschnitten und in die Scheuern eingebracht ist; aber der zuerst beim Werke war, hat bereits tüchtig vorgearbeitet. Die Aristotelische Schrift zerfällt in zwei Abteilungen; in der erstell, histo¬ rischen, erzählt der Verfasser chronologisch die Entwicklung des athenischen Staatswesens von den frühesten Zeiten bis zur Wiederherstellung der Demokratie nach der Vertreibung der dreißig Tyrannen v. Chr. Die zweite Ab¬ teilung enthält in systematischer Anordnung die Darstellung der athenischen Verfassung aus der Zeit des Aristoteles. Der erste Teil ist es vorzüglich, dem wir neue Thatsachen entnehmen. Aber bei aller Überraschung über das viele Neue, das er enthält, gewinnen wir aus ihm doch das beruhigende Gefühl: die Quellen zweiten und dritten Ranges, aus denen wir bisher unser Wissen von diesen Dingen schöpften, sind zwar im ganzen lückenhaft und in Einzeldingen ungenau, haben uns aber in Hauptsachen nicht irregeführt und uns dem Entwicklungsgange der Verfassung richtig folgen gelehrt. Es ist wichtig gegenüber der oft übertriebenen Zweifel¬ sucht, die verhältnismäßig große Zuverlässigkeit unsrer Tradition wieder einmal erprobt zu sehen. Plutarch vor allein wird künftig mit mehr Respekt behandelt werden müssen. So bleiben die Konturen des Bildes dieser Zeit dieselben, aber es wird durch neue Einzelzüge durchweg klarer und bestimmter und ge¬ winnt an manchen Stellen neuen Ausdruck. Von diesem Stellen einige Beispiele. Der Übergang vom patriarchalischen Königtum zur Regierung der zehn jährlich wechselnden verantwortlichen Archonten geschah nach der gewöhnlichen Tradition auf folgende Weise. Kodros, dem letzten König Athens, folgten lebenslänglich regierende Archonten aus dem alten königlichen Hause; darauf wurde die Amtszeit des Archonten auf zehn Jahre beschränkt, und schließlich aus den Eupatriden ein Kollegium von neun Archonten für jedes Jahr ge¬ wählt, von denen der erste Archon eponymvs, der zweite Basileus, der dritte Polemarchos, die übrigen sechs Thesmvthetai hießen. Die überlieferte Be¬ gründung, daß man deshalb aufgehört habe Könige aus dem Kodridenhanse zu wählen, weil die Sprößlinge dieses Hauses unkriegerisch geworden seien, wies man kurzweg von der Hand. Den unvermittelter Übergang von dem einen auf zehn Jahre gewählten Archonten zu den nenn jährlich wechselnden nahm man hin, ohne ihn verständlich machen zu können. Aristoteles macht ihn verständlich. In der ans die Königsherrschaft folgenden Verfassung, mit der er seine Schilderung beginnt, befindet sich ein Regierungskollegium an der Spitze des Staates, das aus dem Könige, dem Polemarchen und dem Archonten besteht. Alle drei sind „Beamte" und werden mit Rücksicht auf Geschlecht und Reichtum gewählt, in älterer Zeit zu lebenslänglicher, in späterer zu zehnjähriger Amtsführung. Der Polemarch war dem .Könige, der nach wie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/24
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/24>, abgerufen am 04.07.2024.