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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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etwas erleichterter Form. Die Begründung ist aber keineswegs überzeugend. Was
man für die Abgangsprüfnng vorgebracht hat, bezieht sich gar nicht auf die
Prüfung an sich, sondern auf den Abschluß der Schularbeit, ans dieses gewiß
hochwichtige Ereignis im Leben des jungen Mannes. Dieser Schnitt wird
nicht durch die Prüfung, sondern durch das Reifezeugnis markirt. Dieses
kann sehr wohl ausgestellt werden vom Lehrerkollegium ohne schulrätliche Be-
vormundung und ohne Prüfungsformen. Letztere haben gewöhnlich nur den
Erfolg, den unangenehmen Erinnerungen an die Schule noch eine weitere
hinzuzufügen.

Uns aber drüugt sich bei dem Gedanken an das Prüfungselend die Frage auf:
Wie siud wir nur in dieses Chinesentum hineingekommen? So lange wir die
Zöpfe außen trugen, glaubten wir uns gebunden, jetzt, wo wir sie innen haben,
sind wir es. Eine glückliche Zeit, wo man mir nichts dir nichts den Zopf
abschneiden konnte! Jetzt versucht man es zuweilen, aber die Schere ver¬
sagt, der Schnitt gelingt nicht, man wird den Zopf nicht los. Wäre es
denn aber wirklich gut, den Examenzopf zu beseitigen, nachdem sich eine
so erlauchte Versammlung bestimmt gefühlt hat, ihn zu behalten? Warum
uicht? Man würde aufatmen wie von einem Druck und würde sich freuen,
eines unnötigen Aufwandes an Kraft und Zeit überhoben zu sein. Deal
was der Schüler an Kenntnissen besitzt, darüber dürfte sich das Lehrer¬
kollegium im Laufe der Zeit gewöhnlich klar geworden sein. Auch wohl über
die sittliche Verfassung des Zöglings, vorausgesetzt, daß die Schulkasernen ver¬
schwinden. Wer aber glaubt, durch eine Prüfung den sittlichen Standpunkt
des Schülers kennen zu lernen, befindet sich in einem verhängnisvollen Irr¬
tum. Über Kenntnisse kann man exanuniren, über Gesinnungen nicht. Des¬
halb ist es auch so verkehrt, ein Religionsexamen anstellen zu wollen, wenn
man nicht etwa die Hauptsache beiseite lassen und sich nur den gegenwärtigen
Vorrat an dogmatischen und kirchengeschichtlichen Kenntnissen vorführen lassen will.

Es ist eben gar nicht einzusehen, warum man dem Lehrerkollegium nicht das
Recht zusprechen sollte, das Neisezeugnis nach Beendigung des Kursus ohne
die Form der Prüfung festzustellen, es sei denn, daß man als Aufgabe
der Schule hinstellt, unter staatlicher Aufsicht gewonnene Zeugnisse zu pro-
duziren und nicht frische, leistungsfähige Jünglinge, die sich mit Feuereifer in
die Berufsstudien werfen. Wenn es wahr ist, daß eine gesunde Entwicklung
unsers Gymnasialwesens nur zu hoffen ist unter Vermeidung alles Schablonen¬
haften, alles Bureaukratischeu, wenn vor allem eine freiere Beweglichkeit er¬
strebt werden muß, denn lasse man die unnötige, lästige Abiturientenprüfung
fallen, eine Errungenschaft neuerer Zeit, an der man unbegreiflicherweise so
starr festhält.

Erinnere man sich doch, daß es eine Zeit gab, die nichts von Abiturienten-
prüfnng wußte, und in der doch ans den Schulen die größten Männer der


etwas erleichterter Form. Die Begründung ist aber keineswegs überzeugend. Was
man für die Abgangsprüfnng vorgebracht hat, bezieht sich gar nicht auf die
Prüfung an sich, sondern auf den Abschluß der Schularbeit, ans dieses gewiß
hochwichtige Ereignis im Leben des jungen Mannes. Dieser Schnitt wird
nicht durch die Prüfung, sondern durch das Reifezeugnis markirt. Dieses
kann sehr wohl ausgestellt werden vom Lehrerkollegium ohne schulrätliche Be-
vormundung und ohne Prüfungsformen. Letztere haben gewöhnlich nur den
Erfolg, den unangenehmen Erinnerungen an die Schule noch eine weitere
hinzuzufügen.

Uns aber drüugt sich bei dem Gedanken an das Prüfungselend die Frage auf:
Wie siud wir nur in dieses Chinesentum hineingekommen? So lange wir die
Zöpfe außen trugen, glaubten wir uns gebunden, jetzt, wo wir sie innen haben,
sind wir es. Eine glückliche Zeit, wo man mir nichts dir nichts den Zopf
abschneiden konnte! Jetzt versucht man es zuweilen, aber die Schere ver¬
sagt, der Schnitt gelingt nicht, man wird den Zopf nicht los. Wäre es
denn aber wirklich gut, den Examenzopf zu beseitigen, nachdem sich eine
so erlauchte Versammlung bestimmt gefühlt hat, ihn zu behalten? Warum
uicht? Man würde aufatmen wie von einem Druck und würde sich freuen,
eines unnötigen Aufwandes an Kraft und Zeit überhoben zu sein. Deal
was der Schüler an Kenntnissen besitzt, darüber dürfte sich das Lehrer¬
kollegium im Laufe der Zeit gewöhnlich klar geworden sein. Auch wohl über
die sittliche Verfassung des Zöglings, vorausgesetzt, daß die Schulkasernen ver¬
schwinden. Wer aber glaubt, durch eine Prüfung den sittlichen Standpunkt
des Schülers kennen zu lernen, befindet sich in einem verhängnisvollen Irr¬
tum. Über Kenntnisse kann man exanuniren, über Gesinnungen nicht. Des¬
halb ist es auch so verkehrt, ein Religionsexamen anstellen zu wollen, wenn
man nicht etwa die Hauptsache beiseite lassen und sich nur den gegenwärtigen
Vorrat an dogmatischen und kirchengeschichtlichen Kenntnissen vorführen lassen will.

Es ist eben gar nicht einzusehen, warum man dem Lehrerkollegium nicht das
Recht zusprechen sollte, das Neisezeugnis nach Beendigung des Kursus ohne
die Form der Prüfung festzustellen, es sei denn, daß man als Aufgabe
der Schule hinstellt, unter staatlicher Aufsicht gewonnene Zeugnisse zu pro-
duziren und nicht frische, leistungsfähige Jünglinge, die sich mit Feuereifer in
die Berufsstudien werfen. Wenn es wahr ist, daß eine gesunde Entwicklung
unsers Gymnasialwesens nur zu hoffen ist unter Vermeidung alles Schablonen¬
haften, alles Bureaukratischeu, wenn vor allem eine freiere Beweglichkeit er¬
strebt werden muß, denn lasse man die unnötige, lästige Abiturientenprüfung
fallen, eine Errungenschaft neuerer Zeit, an der man unbegreiflicherweise so
starr festhält.

Erinnere man sich doch, daß es eine Zeit gab, die nichts von Abiturienten-
prüfnng wußte, und in der doch ans den Schulen die größten Männer der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/228>, abgerufen am 24.07.2024.