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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Die sieben Schulfragen des Kaisers

Lehrer zugleich Erzieher sind, wird es ihnen nicht schwer fallen, die Lust an
körperlicher Bewegung zu wecken und rege zu halten; wo die Gymnasien nicht
zu Schulkasernen ausgeartet sind und die großen Städte nicht unüberwindlich
scheinende Hindernisse in den Weg legen, wird auch die Gelegenheit leicht zu
schaffen sein. Möchten nur alle Beteiligten die Mahnung des Kaisers gerne
hören und beherzigen, dann wird es bald besser stehen.

Die schulhygienischen Vorschriften aber erstrecken sich teils auf die Zeit,
die die Schule für Unterricht und Hausarbeit in Anspruch nimmt, teils auf
die äußern und innern Bedingungen, unter denen diese Arbeit geleistet werden
muß. Nach dieser Richtung hin sollte in erster Linie die Forderung durch¬
geführt werden, daß man die wissenschaftlichen Unterrichtsstunden beschränke
und durchaus auf den Vormittag verlege. Wenn zwischen die Unterrichts¬
stunden die nötigen Pausen eingefügt werden und ein richtiger Wechsel in der
Beschäftigung der Schüler durch einen guten Stundenplan eintritt, so können
am Vormittag sehr wohl fünf Stunden angesetzt werden ohne jegliche Schädi¬
gung der Gesundheit. Die Freiheit der Nachmittage aber darf selbstverständlich
nicht wieder mit häuslichen Aufgaben aufgehoben werden. Diese Gefahr rückt
umso mehr in die Ferne, je mehr das Lernen wesentlich in die Unterrichts-
thütigkeit selbst verlegt, die häusliche Arbeit nur als Ergänzung und Befesti¬
gung des Gelernten angesehen wird.

Unter allen Umständen muß die Erziehung des Schülers zur Selbst¬
thätigkeit als das Höchste betrachtet werden, was der Unterricht erzielen kann.
In der frei gewühlten Beschäftigung bethätigt sich die geistige Kraft des
Schülers am besten, da mit ihr gewisse Lustgefühle verbunden sind, wie sie
auch der Gelehrte bei dem Fortschreiten seiner Arbeit kostet. Wo aber die
Hausarbeit infolge ungeeigneten Schulunterrichts als eine Last empfunden
wird, da wird man vergeblich eine Stärkung und Weckung der Geistes¬
kräfte erwarten, vielmehr eine Abstumpfung bei allem Wissenszuwachs.
Also vor allem: viel Bewegung im Freien und viel freie Bewegung im
Innern! So lange freilich die Strafarbeiten blühen, d. h. doch wohl, fo
lange die Arbeit zur Strafe geworden ist, dn sind die Gymnasien weit da¬
von entfernt, Erziehungsschnlen zu sein, die sie doch im höchsten Sinne sein
sollten; sie sind dann in Wahrheit Strafanstalten. Als solche zeigen sie sich
auch da, wo die sogenannte" Nachhilfestunden zur Regel werden. Strafarbeiten
und Nachhilfestunden geben gute Gradmesser für den Stand der Schule ab.
Die Herren Schnlrüte sollten hierauf einmal ihr freundliches Augenmerk richten!
Diese Übelstände sollen gar nicht selten vorkommen, ebenso wie sich auch das
wöchentliche oder gar tägliche und stündliche Certiren noch vorfindet. Was
hilft es aber, wenn die schulhygienische Vorschrift, daß jedem Schüler der
angemessene Sitz zu teil werde, anerkannt wird und die Schüler nach dem
Ausfall der Antworte,? oder der berüchtigten Extemporalien fortwährend in


Die sieben Schulfragen des Kaisers

Lehrer zugleich Erzieher sind, wird es ihnen nicht schwer fallen, die Lust an
körperlicher Bewegung zu wecken und rege zu halten; wo die Gymnasien nicht
zu Schulkasernen ausgeartet sind und die großen Städte nicht unüberwindlich
scheinende Hindernisse in den Weg legen, wird auch die Gelegenheit leicht zu
schaffen sein. Möchten nur alle Beteiligten die Mahnung des Kaisers gerne
hören und beherzigen, dann wird es bald besser stehen.

Die schulhygienischen Vorschriften aber erstrecken sich teils auf die Zeit,
die die Schule für Unterricht und Hausarbeit in Anspruch nimmt, teils auf
die äußern und innern Bedingungen, unter denen diese Arbeit geleistet werden
muß. Nach dieser Richtung hin sollte in erster Linie die Forderung durch¬
geführt werden, daß man die wissenschaftlichen Unterrichtsstunden beschränke
und durchaus auf den Vormittag verlege. Wenn zwischen die Unterrichts¬
stunden die nötigen Pausen eingefügt werden und ein richtiger Wechsel in der
Beschäftigung der Schüler durch einen guten Stundenplan eintritt, so können
am Vormittag sehr wohl fünf Stunden angesetzt werden ohne jegliche Schädi¬
gung der Gesundheit. Die Freiheit der Nachmittage aber darf selbstverständlich
nicht wieder mit häuslichen Aufgaben aufgehoben werden. Diese Gefahr rückt
umso mehr in die Ferne, je mehr das Lernen wesentlich in die Unterrichts-
thütigkeit selbst verlegt, die häusliche Arbeit nur als Ergänzung und Befesti¬
gung des Gelernten angesehen wird.

Unter allen Umständen muß die Erziehung des Schülers zur Selbst¬
thätigkeit als das Höchste betrachtet werden, was der Unterricht erzielen kann.
In der frei gewühlten Beschäftigung bethätigt sich die geistige Kraft des
Schülers am besten, da mit ihr gewisse Lustgefühle verbunden sind, wie sie
auch der Gelehrte bei dem Fortschreiten seiner Arbeit kostet. Wo aber die
Hausarbeit infolge ungeeigneten Schulunterrichts als eine Last empfunden
wird, da wird man vergeblich eine Stärkung und Weckung der Geistes¬
kräfte erwarten, vielmehr eine Abstumpfung bei allem Wissenszuwachs.
Also vor allem: viel Bewegung im Freien und viel freie Bewegung im
Innern! So lange freilich die Strafarbeiten blühen, d. h. doch wohl, fo
lange die Arbeit zur Strafe geworden ist, dn sind die Gymnasien weit da¬
von entfernt, Erziehungsschnlen zu sein, die sie doch im höchsten Sinne sein
sollten; sie sind dann in Wahrheit Strafanstalten. Als solche zeigen sie sich
auch da, wo die sogenannte» Nachhilfestunden zur Regel werden. Strafarbeiten
und Nachhilfestunden geben gute Gradmesser für den Stand der Schule ab.
Die Herren Schnlrüte sollten hierauf einmal ihr freundliches Augenmerk richten!
Diese Übelstände sollen gar nicht selten vorkommen, ebenso wie sich auch das
wöchentliche oder gar tägliche und stündliche Certiren noch vorfindet. Was
hilft es aber, wenn die schulhygienische Vorschrift, daß jedem Schüler der
angemessene Sitz zu teil werde, anerkannt wird und die Schüler nach dem
Ausfall der Antworte,? oder der berüchtigten Extemporalien fortwährend in


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[0224] Die sieben Schulfragen des Kaisers Lehrer zugleich Erzieher sind, wird es ihnen nicht schwer fallen, die Lust an körperlicher Bewegung zu wecken und rege zu halten; wo die Gymnasien nicht zu Schulkasernen ausgeartet sind und die großen Städte nicht unüberwindlich scheinende Hindernisse in den Weg legen, wird auch die Gelegenheit leicht zu schaffen sein. Möchten nur alle Beteiligten die Mahnung des Kaisers gerne hören und beherzigen, dann wird es bald besser stehen. Die schulhygienischen Vorschriften aber erstrecken sich teils auf die Zeit, die die Schule für Unterricht und Hausarbeit in Anspruch nimmt, teils auf die äußern und innern Bedingungen, unter denen diese Arbeit geleistet werden muß. Nach dieser Richtung hin sollte in erster Linie die Forderung durch¬ geführt werden, daß man die wissenschaftlichen Unterrichtsstunden beschränke und durchaus auf den Vormittag verlege. Wenn zwischen die Unterrichts¬ stunden die nötigen Pausen eingefügt werden und ein richtiger Wechsel in der Beschäftigung der Schüler durch einen guten Stundenplan eintritt, so können am Vormittag sehr wohl fünf Stunden angesetzt werden ohne jegliche Schädi¬ gung der Gesundheit. Die Freiheit der Nachmittage aber darf selbstverständlich nicht wieder mit häuslichen Aufgaben aufgehoben werden. Diese Gefahr rückt umso mehr in die Ferne, je mehr das Lernen wesentlich in die Unterrichts- thütigkeit selbst verlegt, die häusliche Arbeit nur als Ergänzung und Befesti¬ gung des Gelernten angesehen wird. Unter allen Umständen muß die Erziehung des Schülers zur Selbst¬ thätigkeit als das Höchste betrachtet werden, was der Unterricht erzielen kann. In der frei gewühlten Beschäftigung bethätigt sich die geistige Kraft des Schülers am besten, da mit ihr gewisse Lustgefühle verbunden sind, wie sie auch der Gelehrte bei dem Fortschreiten seiner Arbeit kostet. Wo aber die Hausarbeit infolge ungeeigneten Schulunterrichts als eine Last empfunden wird, da wird man vergeblich eine Stärkung und Weckung der Geistes¬ kräfte erwarten, vielmehr eine Abstumpfung bei allem Wissenszuwachs. Also vor allem: viel Bewegung im Freien und viel freie Bewegung im Innern! So lange freilich die Strafarbeiten blühen, d. h. doch wohl, fo lange die Arbeit zur Strafe geworden ist, dn sind die Gymnasien weit da¬ von entfernt, Erziehungsschnlen zu sein, die sie doch im höchsten Sinne sein sollten; sie sind dann in Wahrheit Strafanstalten. Als solche zeigen sie sich auch da, wo die sogenannte» Nachhilfestunden zur Regel werden. Strafarbeiten und Nachhilfestunden geben gute Gradmesser für den Stand der Schule ab. Die Herren Schnlrüte sollten hierauf einmal ihr freundliches Augenmerk richten! Diese Übelstände sollen gar nicht selten vorkommen, ebenso wie sich auch das wöchentliche oder gar tägliche und stündliche Certiren noch vorfindet. Was hilft es aber, wenn die schulhygienische Vorschrift, daß jedem Schüler der angemessene Sitz zu teil werde, anerkannt wird und die Schüler nach dem Ausfall der Antworte,? oder der berüchtigten Extemporalien fortwährend in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/224>, abgerufen am 24.07.2024.