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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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außen. Befreiung, Einigung aller Slawen, Kampf gegen Polen, gegen Deutsche,
gegen alles Fremde -- das sollte die Kulturarbeit im Innern ersetzen, das
sollte den Glauben des Russen an sich und seine Zukunft schaffen. Edlere
Naturen unter jenen Slawenschwärmern glaubten wohl ehrlich an das reine
nationale Gold, das von den fremden Schlacken gesäubert werden müsse; die
andern, die meisten, mochten in diesem Kampf nach außen ein vorteilhaftes
Geschäft erblicken, gerade wie es früher von russischen Zaren und besonders
Zarinnen betrieben worden ist. Einem Katkow mag es halb Politik halb
Geschäft gewesen sein: er wurde groß und reich in dem Kampfe gegen Polen und
Deutsche, und er meinte wohl auch, daß ein solcher Kampf nützlich sei, um den
russischen Geist zu beleben.

Erreicht wurde damit ein Anwachsen des nationalen Selbstgefühls. Aber
da dieses dem kritisch scharfen Geiste des Russen gegenüber, der das alte Elend
vor sich sah, nicht leicht standhalten konnte, so wurde und wird dieses Selbst¬
gefühl bis heute immer wieder angestachelt durch immer neu aufgestöberte
Kampfplätze, neu entdeckte Feinde und neue Schlachten, nach einer bereits
schablonenhaft gewordenen Art von Strategie. Das geißelt Slonimsli scharf.
Und er hat ein umso besseres Recht dazu, als dieses Abwälzen der Schuld
a" allen innern Schäden Rußlands ans die Fremden im Lande oder die
Fremden draußen, die europäischen Nachbarn, nicht bloß zu einer krankhaften
Neigung pvlltisireuder Gruppen der Gesellschaft geworden ist, sondern als ein
festes System der Staatsregierung seit lange erscheint. Diese duldet es nicht,
daß die Aufmerksamkeit auf die innern Zustände gelenkt werde, und fördert die
Hebe gegen fremde Nationen und Staaten als Ableukungs- und Beruhigungs¬
mittel. Und man kann ihr in gewissem Sinne nicht die Berechtigung zu solchem
Verfahren absprechen: will sie sich erhalten, das jetzige russische Reich erhalten,
will sie die alte Lügeurolle eines modernen Kultnrstaates ohne ausreichende
moderne Kultur fortspielen, so muß sie gewaltsam die alte Erstarrung des
Volkes festhalten. Wollte die russische Regierung jene Lüge fortschaffen, an
der das Reich krankt, so müßte sie ihre Stellung in Europa aufgeben, dem
Einfluß der Fremden und der fremden Kultur den weitesten Raum geben, die
wirtschaftlichen und die politischen Kräfte in den Provinzen, in den ver¬
schiedenen Volksstämmen entfesseln auf Kosten der Zentralgewalt, kurz, sie müßte
sich und die Einheit des Reiches aufs Spiel setzen, d. h. ungefähr das thun,
was die heutigen Nihilisten thun wollen. Es läßt sich erklären, daß sie das
nicht will, sondern vorzieht, nach außen den Schein einer geordneten und ge¬
sicherten Kultnrmacht zu wahren, im Innern den Drang uach Kulturent-
wicklung, Freiheit der Kräfte niederzuhalten dnrch die Verherrlichung des
nationalen Popanz. Freilich: das Volk schreit nach dein Brot eines bessern
Daseins, und man giebt ihm dafür den Stein eines toten Nationalismus.
Aber das Dasein des Reiches wird damit noch weiter gefristet.


außen. Befreiung, Einigung aller Slawen, Kampf gegen Polen, gegen Deutsche,
gegen alles Fremde — das sollte die Kulturarbeit im Innern ersetzen, das
sollte den Glauben des Russen an sich und seine Zukunft schaffen. Edlere
Naturen unter jenen Slawenschwärmern glaubten wohl ehrlich an das reine
nationale Gold, das von den fremden Schlacken gesäubert werden müsse; die
andern, die meisten, mochten in diesem Kampf nach außen ein vorteilhaftes
Geschäft erblicken, gerade wie es früher von russischen Zaren und besonders
Zarinnen betrieben worden ist. Einem Katkow mag es halb Politik halb
Geschäft gewesen sein: er wurde groß und reich in dem Kampfe gegen Polen und
Deutsche, und er meinte wohl auch, daß ein solcher Kampf nützlich sei, um den
russischen Geist zu beleben.

Erreicht wurde damit ein Anwachsen des nationalen Selbstgefühls. Aber
da dieses dem kritisch scharfen Geiste des Russen gegenüber, der das alte Elend
vor sich sah, nicht leicht standhalten konnte, so wurde und wird dieses Selbst¬
gefühl bis heute immer wieder angestachelt durch immer neu aufgestöberte
Kampfplätze, neu entdeckte Feinde und neue Schlachten, nach einer bereits
schablonenhaft gewordenen Art von Strategie. Das geißelt Slonimsli scharf.
Und er hat ein umso besseres Recht dazu, als dieses Abwälzen der Schuld
a» allen innern Schäden Rußlands ans die Fremden im Lande oder die
Fremden draußen, die europäischen Nachbarn, nicht bloß zu einer krankhaften
Neigung pvlltisireuder Gruppen der Gesellschaft geworden ist, sondern als ein
festes System der Staatsregierung seit lange erscheint. Diese duldet es nicht,
daß die Aufmerksamkeit auf die innern Zustände gelenkt werde, und fördert die
Hebe gegen fremde Nationen und Staaten als Ableukungs- und Beruhigungs¬
mittel. Und man kann ihr in gewissem Sinne nicht die Berechtigung zu solchem
Verfahren absprechen: will sie sich erhalten, das jetzige russische Reich erhalten,
will sie die alte Lügeurolle eines modernen Kultnrstaates ohne ausreichende
moderne Kultur fortspielen, so muß sie gewaltsam die alte Erstarrung des
Volkes festhalten. Wollte die russische Regierung jene Lüge fortschaffen, an
der das Reich krankt, so müßte sie ihre Stellung in Europa aufgeben, dem
Einfluß der Fremden und der fremden Kultur den weitesten Raum geben, die
wirtschaftlichen und die politischen Kräfte in den Provinzen, in den ver¬
schiedenen Volksstämmen entfesseln auf Kosten der Zentralgewalt, kurz, sie müßte
sich und die Einheit des Reiches aufs Spiel setzen, d. h. ungefähr das thun,
was die heutigen Nihilisten thun wollen. Es läßt sich erklären, daß sie das
nicht will, sondern vorzieht, nach außen den Schein einer geordneten und ge¬
sicherten Kultnrmacht zu wahren, im Innern den Drang uach Kulturent-
wicklung, Freiheit der Kräfte niederzuhalten dnrch die Verherrlichung des
nationalen Popanz. Freilich: das Volk schreit nach dein Brot eines bessern
Daseins, und man giebt ihm dafür den Stein eines toten Nationalismus.
Aber das Dasein des Reiches wird damit noch weiter gefristet.


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[0177] außen. Befreiung, Einigung aller Slawen, Kampf gegen Polen, gegen Deutsche, gegen alles Fremde — das sollte die Kulturarbeit im Innern ersetzen, das sollte den Glauben des Russen an sich und seine Zukunft schaffen. Edlere Naturen unter jenen Slawenschwärmern glaubten wohl ehrlich an das reine nationale Gold, das von den fremden Schlacken gesäubert werden müsse; die andern, die meisten, mochten in diesem Kampf nach außen ein vorteilhaftes Geschäft erblicken, gerade wie es früher von russischen Zaren und besonders Zarinnen betrieben worden ist. Einem Katkow mag es halb Politik halb Geschäft gewesen sein: er wurde groß und reich in dem Kampfe gegen Polen und Deutsche, und er meinte wohl auch, daß ein solcher Kampf nützlich sei, um den russischen Geist zu beleben. Erreicht wurde damit ein Anwachsen des nationalen Selbstgefühls. Aber da dieses dem kritisch scharfen Geiste des Russen gegenüber, der das alte Elend vor sich sah, nicht leicht standhalten konnte, so wurde und wird dieses Selbst¬ gefühl bis heute immer wieder angestachelt durch immer neu aufgestöberte Kampfplätze, neu entdeckte Feinde und neue Schlachten, nach einer bereits schablonenhaft gewordenen Art von Strategie. Das geißelt Slonimsli scharf. Und er hat ein umso besseres Recht dazu, als dieses Abwälzen der Schuld a» allen innern Schäden Rußlands ans die Fremden im Lande oder die Fremden draußen, die europäischen Nachbarn, nicht bloß zu einer krankhaften Neigung pvlltisireuder Gruppen der Gesellschaft geworden ist, sondern als ein festes System der Staatsregierung seit lange erscheint. Diese duldet es nicht, daß die Aufmerksamkeit auf die innern Zustände gelenkt werde, und fördert die Hebe gegen fremde Nationen und Staaten als Ableukungs- und Beruhigungs¬ mittel. Und man kann ihr in gewissem Sinne nicht die Berechtigung zu solchem Verfahren absprechen: will sie sich erhalten, das jetzige russische Reich erhalten, will sie die alte Lügeurolle eines modernen Kultnrstaates ohne ausreichende moderne Kultur fortspielen, so muß sie gewaltsam die alte Erstarrung des Volkes festhalten. Wollte die russische Regierung jene Lüge fortschaffen, an der das Reich krankt, so müßte sie ihre Stellung in Europa aufgeben, dem Einfluß der Fremden und der fremden Kultur den weitesten Raum geben, die wirtschaftlichen und die politischen Kräfte in den Provinzen, in den ver¬ schiedenen Volksstämmen entfesseln auf Kosten der Zentralgewalt, kurz, sie müßte sich und die Einheit des Reiches aufs Spiel setzen, d. h. ungefähr das thun, was die heutigen Nihilisten thun wollen. Es läßt sich erklären, daß sie das nicht will, sondern vorzieht, nach außen den Schein einer geordneten und ge¬ sicherten Kultnrmacht zu wahren, im Innern den Drang uach Kulturent- wicklung, Freiheit der Kräfte niederzuhalten dnrch die Verherrlichung des nationalen Popanz. Freilich: das Volk schreit nach dein Brot eines bessern Daseins, und man giebt ihm dafür den Stein eines toten Nationalismus. Aber das Dasein des Reiches wird damit noch weiter gefristet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/177>, abgerufen am 24.07.2024.