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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Rudolf Hildebrands Aufsätze und vortrage

des gesamten Geisteslebens eines Volkes, in ihr muß sich das Gemeinsame
im Empfinden, Denken und Wollen einer Zeit abspiegeln.

Dieser Satz erscheint uns hente so selbstverständlich, aber uicht jeder
macht sich die weitgehenden Folgerungen klar, die sich daraus für die Bedeutung
der Sprachforschung innerhalb unsrer geschichtlichen Wissenschaft ziehen lassen.
Mit Recht suchen wir den umfassendsten Ausdruck des geistigen Lebens einer
Zeit in ihren litterarischen Erzeugnissen, aber das so gewonnene Bild bedarf
vielfach der Ergänzung. Nicht alles, was uns zum Verstäuduis einer Zeit
dienen könnte, wird von ihren Schriftstellern ausdrücklicher Erwähnung gewürdigt,
und so bieten uus die eigentlichen Schriftwerke oft nur Abzüge von dem gemein¬
samen Leben im großen, bei denen zwar die Hauptpunkte und -Linien erkennbar
hervortreten, zahlreiche Einzelheiten aber unklar und verschwommen bleiben.
Hier tritt die Erforschung der Sprache als solcher vielfach ergänzend ein.
"Eine der reichsten Quellen (für die Sittengeschichte) ist die Sprache selbst, in
der das innere und änßere Leben der Zeit sich gleichsam abgedrückt hat wie
in einem photographischen Bilde. Jedes wichtigere Wort trägt gleichsam in
sich einen Teil ans dem Gesamtbilde des alten Lebens, und da die einfachsten
Wörter zugleich die am häufigsten gebrauchten sind, so erweisen sich als die
inhaltreichsten für jenen Zweck gerade die gewöhnlichsten, d. h. die, die mau
beim Lesen am leichtesten unbeachtet dnrch die Finger laufen läßt." Doch
man muß diese altüberlieferten Einzelbilder in ihrem Zusammenhange mit Zeit
und Volk zu erkennen und zu deuten missen, und dazu reicht die umfassendste
Gelehrsamkeit, das reichste Einzelwissen allein nicht aus. Wer diese Zeugen
der Vergangenheit aufhorchen und verstehen will, der muß sich -- wenn das
Bild erlaubt ist -- in ihren Dunstkreis hineinleben, und in diesen führt nur
die Gabe der Anempfindung. In wie hohem Grade diese Gabe Hildebrand
eigen ist, weiß jeder, der von ihm hat lernen dürfen. Aber auch hier ist
-- er betont dies selbst wiederholt -- das lebendige Verständnis der unmittel¬
baren Gegenwart, die stete Fühlung mit dem frischen Leben des Tages die
unerläßliche Vorbedingung für die Erkenntnis der Vergangenheit.

Die einzelnen Aufsätze verteilen sich nach ihrer Entstehungszeit auf einen
Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Der älteste -- ans der Vorrede zum
zweiten Hundert von Svltans Historischen Volksliedern -- fällt in das Jahr 1856,
die meisten andern beträchtlich später, und fast alle, die nicht den letzten
Jahren angehören, verdanken ihren Ursprung bestimmten äußern Anlässen.
Sie bezeichnen solche Ruhepunkte in der stillen, emsigen Gelehrtenarbeit, wo
von einem erhöhten Standpunkt ans Umschau gehalten wird. Manchmal
bildet auch hier eine Einzelfrage, wohl auch ein kleines Erlebnis aus der all¬
täglichen Umgebung den Anlaß zu eiuer ergebnisreicher Wanderung durch die
Gefilde deutschen Sprach- und .Kulturlebens, und nie erscheint dem willigen
Begleiter der Weg steinig und dornig oder gar öde und ermüdend, weiß ihm


Gu'iizbole" II, 1891 1v
Rudolf Hildebrands Aufsätze und vortrage

des gesamten Geisteslebens eines Volkes, in ihr muß sich das Gemeinsame
im Empfinden, Denken und Wollen einer Zeit abspiegeln.

Dieser Satz erscheint uns hente so selbstverständlich, aber uicht jeder
macht sich die weitgehenden Folgerungen klar, die sich daraus für die Bedeutung
der Sprachforschung innerhalb unsrer geschichtlichen Wissenschaft ziehen lassen.
Mit Recht suchen wir den umfassendsten Ausdruck des geistigen Lebens einer
Zeit in ihren litterarischen Erzeugnissen, aber das so gewonnene Bild bedarf
vielfach der Ergänzung. Nicht alles, was uns zum Verstäuduis einer Zeit
dienen könnte, wird von ihren Schriftstellern ausdrücklicher Erwähnung gewürdigt,
und so bieten uus die eigentlichen Schriftwerke oft nur Abzüge von dem gemein¬
samen Leben im großen, bei denen zwar die Hauptpunkte und -Linien erkennbar
hervortreten, zahlreiche Einzelheiten aber unklar und verschwommen bleiben.
Hier tritt die Erforschung der Sprache als solcher vielfach ergänzend ein.
„Eine der reichsten Quellen (für die Sittengeschichte) ist die Sprache selbst, in
der das innere und änßere Leben der Zeit sich gleichsam abgedrückt hat wie
in einem photographischen Bilde. Jedes wichtigere Wort trägt gleichsam in
sich einen Teil ans dem Gesamtbilde des alten Lebens, und da die einfachsten
Wörter zugleich die am häufigsten gebrauchten sind, so erweisen sich als die
inhaltreichsten für jenen Zweck gerade die gewöhnlichsten, d. h. die, die mau
beim Lesen am leichtesten unbeachtet dnrch die Finger laufen läßt." Doch
man muß diese altüberlieferten Einzelbilder in ihrem Zusammenhange mit Zeit
und Volk zu erkennen und zu deuten missen, und dazu reicht die umfassendste
Gelehrsamkeit, das reichste Einzelwissen allein nicht aus. Wer diese Zeugen
der Vergangenheit aufhorchen und verstehen will, der muß sich — wenn das
Bild erlaubt ist — in ihren Dunstkreis hineinleben, und in diesen führt nur
die Gabe der Anempfindung. In wie hohem Grade diese Gabe Hildebrand
eigen ist, weiß jeder, der von ihm hat lernen dürfen. Aber auch hier ist
— er betont dies selbst wiederholt — das lebendige Verständnis der unmittel¬
baren Gegenwart, die stete Fühlung mit dem frischen Leben des Tages die
unerläßliche Vorbedingung für die Erkenntnis der Vergangenheit.

Die einzelnen Aufsätze verteilen sich nach ihrer Entstehungszeit auf einen
Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Der älteste — ans der Vorrede zum
zweiten Hundert von Svltans Historischen Volksliedern — fällt in das Jahr 1856,
die meisten andern beträchtlich später, und fast alle, die nicht den letzten
Jahren angehören, verdanken ihren Ursprung bestimmten äußern Anlässen.
Sie bezeichnen solche Ruhepunkte in der stillen, emsigen Gelehrtenarbeit, wo
von einem erhöhten Standpunkt ans Umschau gehalten wird. Manchmal
bildet auch hier eine Einzelfrage, wohl auch ein kleines Erlebnis aus der all¬
täglichen Umgebung den Anlaß zu eiuer ergebnisreicher Wanderung durch die
Gefilde deutschen Sprach- und .Kulturlebens, und nie erscheint dem willigen
Begleiter der Weg steinig und dornig oder gar öde und ermüdend, weiß ihm


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[0149] Rudolf Hildebrands Aufsätze und vortrage des gesamten Geisteslebens eines Volkes, in ihr muß sich das Gemeinsame im Empfinden, Denken und Wollen einer Zeit abspiegeln. Dieser Satz erscheint uns hente so selbstverständlich, aber uicht jeder macht sich die weitgehenden Folgerungen klar, die sich daraus für die Bedeutung der Sprachforschung innerhalb unsrer geschichtlichen Wissenschaft ziehen lassen. Mit Recht suchen wir den umfassendsten Ausdruck des geistigen Lebens einer Zeit in ihren litterarischen Erzeugnissen, aber das so gewonnene Bild bedarf vielfach der Ergänzung. Nicht alles, was uns zum Verstäuduis einer Zeit dienen könnte, wird von ihren Schriftstellern ausdrücklicher Erwähnung gewürdigt, und so bieten uus die eigentlichen Schriftwerke oft nur Abzüge von dem gemein¬ samen Leben im großen, bei denen zwar die Hauptpunkte und -Linien erkennbar hervortreten, zahlreiche Einzelheiten aber unklar und verschwommen bleiben. Hier tritt die Erforschung der Sprache als solcher vielfach ergänzend ein. „Eine der reichsten Quellen (für die Sittengeschichte) ist die Sprache selbst, in der das innere und änßere Leben der Zeit sich gleichsam abgedrückt hat wie in einem photographischen Bilde. Jedes wichtigere Wort trägt gleichsam in sich einen Teil ans dem Gesamtbilde des alten Lebens, und da die einfachsten Wörter zugleich die am häufigsten gebrauchten sind, so erweisen sich als die inhaltreichsten für jenen Zweck gerade die gewöhnlichsten, d. h. die, die mau beim Lesen am leichtesten unbeachtet dnrch die Finger laufen läßt." Doch man muß diese altüberlieferten Einzelbilder in ihrem Zusammenhange mit Zeit und Volk zu erkennen und zu deuten missen, und dazu reicht die umfassendste Gelehrsamkeit, das reichste Einzelwissen allein nicht aus. Wer diese Zeugen der Vergangenheit aufhorchen und verstehen will, der muß sich — wenn das Bild erlaubt ist — in ihren Dunstkreis hineinleben, und in diesen führt nur die Gabe der Anempfindung. In wie hohem Grade diese Gabe Hildebrand eigen ist, weiß jeder, der von ihm hat lernen dürfen. Aber auch hier ist — er betont dies selbst wiederholt — das lebendige Verständnis der unmittel¬ baren Gegenwart, die stete Fühlung mit dem frischen Leben des Tages die unerläßliche Vorbedingung für die Erkenntnis der Vergangenheit. Die einzelnen Aufsätze verteilen sich nach ihrer Entstehungszeit auf einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren. Der älteste — ans der Vorrede zum zweiten Hundert von Svltans Historischen Volksliedern — fällt in das Jahr 1856, die meisten andern beträchtlich später, und fast alle, die nicht den letzten Jahren angehören, verdanken ihren Ursprung bestimmten äußern Anlässen. Sie bezeichnen solche Ruhepunkte in der stillen, emsigen Gelehrtenarbeit, wo von einem erhöhten Standpunkt ans Umschau gehalten wird. Manchmal bildet auch hier eine Einzelfrage, wohl auch ein kleines Erlebnis aus der all¬ täglichen Umgebung den Anlaß zu eiuer ergebnisreicher Wanderung durch die Gefilde deutschen Sprach- und .Kulturlebens, und nie erscheint dem willigen Begleiter der Weg steinig und dornig oder gar öde und ermüdend, weiß ihm Gu'iizbole» II, 1891 1v

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/149>, abgerufen am 04.07.2024.