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Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr.

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Ättokar Lorenz

Zerstörung alter Überlieferungen des Volksbewußtseins oder der älteren Ge¬
schichtschreiber setzen, ohne sich zu einer aufbauenden Darstellung der Geschichte
zu erheben, so ist das der Untergang und kein Fortschritt in der Wissenschaft.

Nun kehren wir zu der Skizzirnng der Aufgaben der Geschichte zurück,
wie sie Lorenz aufstellt. Sie ist also wesentlich eine Darstellung der poli¬
tischen Handlungen und ihrer Trüger, der einzelnen Menschen. Sie wird, um den
Zusammenhang im Gange der Dinge festhalten und veranschaulichen zu können,
den Zusammenhang der einzelnen Personen, die Herkunft von Vater und Sohn,
die Familienbeziehungen und aller ihrer Folgen als die Grundlage ihrer
Forschung und Darstellung annehmen müssen. Denn von diesen Beziehungen
hängen ja so viele Eigentümlichkeiten der Einzelnen ab; man erinnere sich doch
uur an Goethes Ausspruch: ,,Von Vater hab ich die Statur, des Lebens
ernstes Führen, von, Mütterchen die Frvhnatnr und Lust zu fabnliren." Daß
die Abstammung und Familienbeziehung maßgebend für das ganze äußere nud
innere Leben ist, sür Beruf, öffentliche und soziale Stellung, Gesinnung,
Neigung, Partei, Wohlstand u. s. w., wird jeder Mensch aus seiner eignen
Lebensgeschichte bestätigen. Darauf begründet nun Lorenz seine Forderung,
daß alle Geschichtschreibung sich auf Genealogie, auf Kenntnis der Abstammung
und Beziehung der wichtigen Familien jedes Landes ausbauen müsse. Das
natürliche Erdreich der Wissenschaft liegt in der Kenntnis der Genealogie, die
bisher nicht so geschätzt wurde, als es die Sache fordert, obgleich die ältesten
und naivsten Geschichtschreiber ihre Erzählungen immer genealogisch eingeleitet
haben. Nun aber entsteht eine neue Schwierigkeit: wie will man denn diese
Millionen von Familiengeschichten in dein Ablauf der Jahrhunderte überblicken?
wie will man denn von diesen Molekularkräften des geschichtlichen Lebens zu
einer Übersicht des Ganzen, zu einer Anschauung des Charakteristischen und
Maßgebenden im Leben der Völker gelangen? Darauf heißt die Antwort:
Es ist schon dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
So viel weiß man schon jetzt, daß nicht alle Menschen gleichwertig sind, nicht
alle Familien gleichmächtig, nicht alle Politiker und Machthaber gleich original.
Man hat seit alten Zeiten die Aufmerksamkeit immer auf einzelne Persönlich¬
keiten gesammelt, die führend waren, man weiß, daß ganze Geschlechter von
denselben Anschauungen, Gefühlen, Wünschen, Leidenschaften erfüllt zu sein
Pflegen, die sie in politische Wirklichkeit umzusetzen streben, und bei dieser Er¬
kenntnis ordnet sich das verwirrende Bild der millionenfach durcheinander ver¬
schlungenen Geschlechter der Geschichte. So eröffnet sich sür die Geschicht¬
schreibung die Möglichkeit, einheitliche Gruppen in der Mannichfaltigkeit der
Geschlechter zu bilden, die Zeiten in Abschnitte, Perioden zu teilen und für
jede Zeit charakteristische Vertreter zu finden. Drei Geschlechter schließen sich
zu einer Einheit zusammen, während dieser Zeit, die mit dem Zeitraum eines
Jahrhunderts durchschnittlich zusanuneufüllt, erleben gewisse Ideen ihre Blüte,


Ättokar Lorenz

Zerstörung alter Überlieferungen des Volksbewußtseins oder der älteren Ge¬
schichtschreiber setzen, ohne sich zu einer aufbauenden Darstellung der Geschichte
zu erheben, so ist das der Untergang und kein Fortschritt in der Wissenschaft.

Nun kehren wir zu der Skizzirnng der Aufgaben der Geschichte zurück,
wie sie Lorenz aufstellt. Sie ist also wesentlich eine Darstellung der poli¬
tischen Handlungen und ihrer Trüger, der einzelnen Menschen. Sie wird, um den
Zusammenhang im Gange der Dinge festhalten und veranschaulichen zu können,
den Zusammenhang der einzelnen Personen, die Herkunft von Vater und Sohn,
die Familienbeziehungen und aller ihrer Folgen als die Grundlage ihrer
Forschung und Darstellung annehmen müssen. Denn von diesen Beziehungen
hängen ja so viele Eigentümlichkeiten der Einzelnen ab; man erinnere sich doch
uur an Goethes Ausspruch: ,,Von Vater hab ich die Statur, des Lebens
ernstes Führen, von, Mütterchen die Frvhnatnr und Lust zu fabnliren." Daß
die Abstammung und Familienbeziehung maßgebend für das ganze äußere nud
innere Leben ist, sür Beruf, öffentliche und soziale Stellung, Gesinnung,
Neigung, Partei, Wohlstand u. s. w., wird jeder Mensch aus seiner eignen
Lebensgeschichte bestätigen. Darauf begründet nun Lorenz seine Forderung,
daß alle Geschichtschreibung sich auf Genealogie, auf Kenntnis der Abstammung
und Beziehung der wichtigen Familien jedes Landes ausbauen müsse. Das
natürliche Erdreich der Wissenschaft liegt in der Kenntnis der Genealogie, die
bisher nicht so geschätzt wurde, als es die Sache fordert, obgleich die ältesten
und naivsten Geschichtschreiber ihre Erzählungen immer genealogisch eingeleitet
haben. Nun aber entsteht eine neue Schwierigkeit: wie will man denn diese
Millionen von Familiengeschichten in dein Ablauf der Jahrhunderte überblicken?
wie will man denn von diesen Molekularkräften des geschichtlichen Lebens zu
einer Übersicht des Ganzen, zu einer Anschauung des Charakteristischen und
Maßgebenden im Leben der Völker gelangen? Darauf heißt die Antwort:
Es ist schon dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.
So viel weiß man schon jetzt, daß nicht alle Menschen gleichwertig sind, nicht
alle Familien gleichmächtig, nicht alle Politiker und Machthaber gleich original.
Man hat seit alten Zeiten die Aufmerksamkeit immer auf einzelne Persönlich¬
keiten gesammelt, die führend waren, man weiß, daß ganze Geschlechter von
denselben Anschauungen, Gefühlen, Wünschen, Leidenschaften erfüllt zu sein
Pflegen, die sie in politische Wirklichkeit umzusetzen streben, und bei dieser Er¬
kenntnis ordnet sich das verwirrende Bild der millionenfach durcheinander ver¬
schlungenen Geschlechter der Geschichte. So eröffnet sich sür die Geschicht¬
schreibung die Möglichkeit, einheitliche Gruppen in der Mannichfaltigkeit der
Geschlechter zu bilden, die Zeiten in Abschnitte, Perioden zu teilen und für
jede Zeit charakteristische Vertreter zu finden. Drei Geschlechter schließen sich
zu einer Einheit zusammen, während dieser Zeit, die mit dem Zeitraum eines
Jahrhunderts durchschnittlich zusanuneufüllt, erleben gewisse Ideen ihre Blüte,


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[0145] Ättokar Lorenz Zerstörung alter Überlieferungen des Volksbewußtseins oder der älteren Ge¬ schichtschreiber setzen, ohne sich zu einer aufbauenden Darstellung der Geschichte zu erheben, so ist das der Untergang und kein Fortschritt in der Wissenschaft. Nun kehren wir zu der Skizzirnng der Aufgaben der Geschichte zurück, wie sie Lorenz aufstellt. Sie ist also wesentlich eine Darstellung der poli¬ tischen Handlungen und ihrer Trüger, der einzelnen Menschen. Sie wird, um den Zusammenhang im Gange der Dinge festhalten und veranschaulichen zu können, den Zusammenhang der einzelnen Personen, die Herkunft von Vater und Sohn, die Familienbeziehungen und aller ihrer Folgen als die Grundlage ihrer Forschung und Darstellung annehmen müssen. Denn von diesen Beziehungen hängen ja so viele Eigentümlichkeiten der Einzelnen ab; man erinnere sich doch uur an Goethes Ausspruch: ,,Von Vater hab ich die Statur, des Lebens ernstes Führen, von, Mütterchen die Frvhnatnr und Lust zu fabnliren." Daß die Abstammung und Familienbeziehung maßgebend für das ganze äußere nud innere Leben ist, sür Beruf, öffentliche und soziale Stellung, Gesinnung, Neigung, Partei, Wohlstand u. s. w., wird jeder Mensch aus seiner eignen Lebensgeschichte bestätigen. Darauf begründet nun Lorenz seine Forderung, daß alle Geschichtschreibung sich auf Genealogie, auf Kenntnis der Abstammung und Beziehung der wichtigen Familien jedes Landes ausbauen müsse. Das natürliche Erdreich der Wissenschaft liegt in der Kenntnis der Genealogie, die bisher nicht so geschätzt wurde, als es die Sache fordert, obgleich die ältesten und naivsten Geschichtschreiber ihre Erzählungen immer genealogisch eingeleitet haben. Nun aber entsteht eine neue Schwierigkeit: wie will man denn diese Millionen von Familiengeschichten in dein Ablauf der Jahrhunderte überblicken? wie will man denn von diesen Molekularkräften des geschichtlichen Lebens zu einer Übersicht des Ganzen, zu einer Anschauung des Charakteristischen und Maßgebenden im Leben der Völker gelangen? Darauf heißt die Antwort: Es ist schon dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. So viel weiß man schon jetzt, daß nicht alle Menschen gleichwertig sind, nicht alle Familien gleichmächtig, nicht alle Politiker und Machthaber gleich original. Man hat seit alten Zeiten die Aufmerksamkeit immer auf einzelne Persönlich¬ keiten gesammelt, die führend waren, man weiß, daß ganze Geschlechter von denselben Anschauungen, Gefühlen, Wünschen, Leidenschaften erfüllt zu sein Pflegen, die sie in politische Wirklichkeit umzusetzen streben, und bei dieser Er¬ kenntnis ordnet sich das verwirrende Bild der millionenfach durcheinander ver¬ schlungenen Geschlechter der Geschichte. So eröffnet sich sür die Geschicht¬ schreibung die Möglichkeit, einheitliche Gruppen in der Mannichfaltigkeit der Geschlechter zu bilden, die Zeiten in Abschnitte, Perioden zu teilen und für jede Zeit charakteristische Vertreter zu finden. Drei Geschlechter schließen sich zu einer Einheit zusammen, während dieser Zeit, die mit dem Zeitraum eines Jahrhunderts durchschnittlich zusanuneufüllt, erleben gewisse Ideen ihre Blüte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 50, 1891, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341853_209866/145>, abgerufen am 24.07.2024.